Wiedergelesen: Mill: Betrachtungen über die Repräsentativregierung

Wiedergelesen-Beitrag zu John Stuart Mill: Betrachtungen über die Repräsentativregierung, Hubertus Buchstein und Sandra Seubert (Hg.), Hannelore Irle-Dietrich (Übers.), Berlin: Suhrkamp, 2013, 336 Seiten.

Wenn in funktional differenzierten, hyperkomplexen Gesellschaften alles immer schneller entschieden werden muss, wenn folglich über das, was entschieden wird, nicht lange öffentlich räsoniert werden kann, hat die repräsentative Demokratie allem Anschein nach ein empirisches Problem. Nicht zuletzt deshalb konnte Carl Schmitt den Parlamentarismus als Idealzustand rationaler öffentlicher Diskussion bereits in den 1920er Jahren genüsslich auf dem Friedhof der Geistesgeschichte begraben. Heutzutage fallen Diagnosen, die sich auf die mangelnde Praktikabilität der Repräsentativregierung beziehen, nicht viel optimistischer aus. Hinzu kommt, dass die repräsentative Demokratie ein ernstes normatives Problem hat, weil ihr ideengeschichtliches Äquivalent, der Liberalismus, aufgrund der Krisenanfälligkeit seines vorgeblichen Zwillingsbruders, des Kapitalismus, als ideologisches Flaggschiff der „vested interests“ desavouiert scheint. Wird der Liberalismus aber zunehmend in der Flügelzange von postmoderner Sozialwissenschaft und neomarxistischer Kritik aufgerieben, stellt sich die Frage nach dem Sinn einer erneuten Lektüre seiner Klassiker. Provokativ gefragt: Darf sich denn allenfalls der nimmermüde Archivar über eine Wiederauflage der Betrachtungen über die Repräsentativregierung (1861) im Berliner Suhrkamp-Verlag freuen? Statt John Stuart Mills (1806-1873) politiktheoretisches Hauptwerk derart unter Wert zu verkaufen, soll es im Folgenden anhand dreier Merkmale mit Aktualitätsbezug analysiert werden. (mehr …)

Weiterlesen

Wiedergelesen: Kant gegen Schmitt: „Über Volkssouveränität“

Wiedergelesen-Beitrag zu Ingeborg Maus: Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin: Suhrkamp 2011. 

Frankfurter Sozialwissenschaft ist ein weites Feld. Auch in „linker“ Auslegung darf sie nicht auf „Frankfurter Schule“ strikt nach Horkheimer oder Adorno verengt werden. Ingeborg Maus promovierte (1971) und habilitierte (1980) sich auch in Frankfurt und lehrte dort als Professorin für Politikwissenschaft bis zu ihrer Emeritierung (2003). Vier größere Publikationen liegen bislang vor. Die Aufsatzsammlung Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus (1986) treibt die Frage nach dem Verhältnis von Bürgerlicher Rechtstheorie und Faschismus (1976) weiter in die kritische Analyse der Rechtstheorie und Verfassungsstruktur der Bundesrepublik voran. Die neuere Sammlung überarbeiteter Aufsätze Über Volkssouveränität (2011) kehrt nun mit den positiven Resultaten der Monographie Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1992) zur frühen Auseinandersetzung mit Carl Schmitt zurück. Ein zentrales Anliegen ist es dabei, die Demokratietheorie der Aufklärung gegen Schmitt und die Folgen zu aktualisieren. (mehr …)

Weiterlesen

Wiedergelesen: Politische Theorie des Besitzindividualismus

Wiedergelesen-Beitrag zu C. B. Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism: Hobbes to Locke, Oxford UP 1962 (dt. v. Arno Wittekind, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973).

 

Dieses Hauptwerk des kanadischen Politologen Macpherson (1911-1987) kann als Idealtyp einer Klassikerrezeption gelten, die ihrerseits den Status des Klassikers erlangte. Das gilt nicht allein für die Leitthese, nach der die Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert eine „politische Theorie des Besitzindividualismus“ hervorgebracht hätten, in der der noch naturrechtlich beeinflusste Anspruch auf Leben schrittweise als individualistisches Eigentumsrecht interpretiert und schließlich auf die Tätigkeit des Arbeitens übertragen werden konnte, sodass im Effekt Arbeitskraft aufgewertet, Privateigentum legalisiert und individuelle Widerstandshandlungen gegen Willkür aller Art legitimiert werden konnten. (mehr …)

Weiterlesen

Komplexität durch Verfahren: Niklas Luhmanns Aktualität in der Finanzkrise

Wiedergelesen-Beitrag zu
Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Neuwied: Luchterhand 1969.

Die Diagnose wechselt beliebig, die Therapie bleibt gleich. Ob Rinderwahn oder Schweinegrippe, Spendenskandal oder Spesenschlammassel, Subprime Mortgage oder Sovereign Debt Crisis – läuft in der Wirtschaft oder Politik etwas gründlich schief, erklingt die immergleiche Remedurrhetorik: „höhere Transparenz“ und „strengere Regulierung“! Und in aller Regel folgt ihr die immergleiche Maßnahme: formellere Verfahren mit zusätzlichen Schikanen. Wäre Niklas Luhmann noch am Leben, das Reaktionsmuster müsste Musik in seinen Ohren sein. Zwar verbände er mit der Maßnahme gerade nicht die Hoffnung auf sachgerechtere Entscheidungen, die ihren heutigen Trompetern die Backen füllt, aber er sähe sie wohl als späte Bestätigung für seine alte Behauptung, es sei die Funktion von Verfahren, Legitimation zu erzeugen. (mehr …)

Weiterlesen

Betreff: Wiedergelesen

Unter dem Titel „Wiedergelesen“ öffnet der theorieblog eine neue Sparte in unserer Debattenrubrik. Denn auch zeitlose Texte sind zeitgebunden. Sie entstehen historisch-konkret, verändern sich entsprechend mit der Zeit und sind interpretationsoffen. Lektüren verändern vielleicht nicht Wortlaute, wohl aber deren Bedeutungen; jede Neulektüre und nicht zuletzt Neuübersetzungen belehren, dass das einst Gelesene und Geschriebene ein eigenes Leben lebt, sich weiterentwickelt, mal verblasst, oft verselbstständigt und gelegentlich ganz vom Original entfernt. (mehr …)

Weiterlesen