Der pandemische Schleier des Nichtwissens – Gerechtigkeitstheoretische Überlegungen aus Sicht der Neuen Phänomenologie

In unserer Debatte um den Begriff der Sorge rückt – nach Beiträgen zu einer Politik der Sorge, zu Sorgeverhältnissen im Sozialstaat sowie zur Sorge um die Seele – heute die Idee der Selbstsorge aus neuphänomenologischer Perspektive in den Blick.

Insbesondere die Anfangszeit der Corona-Pandemie lässt sich mit Hilfe der Neuen Phänomenologie gerechtigkeitstheoretisch fruchtbar aufschlüsseln. Mittels dieser Perspektivierung zeigen sich die Solidaritätsbekundungen mit Supermarktangestellten und Pflegekräften, wie sie im Frühjahr 2020 allenthalben zu beobachten waren, als das Ergebnis eines Realexperimentes im Sinne John Rawls. Denn während die beklagten Verhältnisse bereits lange bekannt waren, legte die mögliche Ansteckung mit SARS-Cov-2 einen pandemischen Schleier des Nichtwissens über die Gesellschaft. Nun konnte sich letztlich niemand mehr sicher sein, ob er oder sie es nicht am Ende selbst sei, der oder die die gesellschaftspolitischen Missstände am eigenen Leib zu spüren bekommt (vgl. hierzu auch Schulz 2020).

Triebkraft dieser gleichsam im Affekt gewonnenen Einsicht war die für „aufgeklärte“ Subjekte unangenehme, ja beinahe beschämende Erkenntnis, dass wir existenziell auf das Versorgtwerden durch andere angewiesen sind. Zwar bestimmt diese Tatsache vom Säuglingsalter durch Phasen der Krankheit und des Alterns unser gesamtes Leben, jedoch neigen wir in westlichen Gesellschaften offenkundig dazu, diesen Aspekt zugunsten individualistischer Autonomieversprechen beiseite zu drängen. Im Angesicht der Pandemie machte sich schließlich jedoch dasjenige breit, was ich im Folgenden als universelle Sorge des Nichtversorgtwerdens bezeichnen möchte. Da diese Sorge eng mit den institutionellen Missständen gesellschaftlicher Eingerichtetheit verbunden war, offenbarte sie ihren gerechtigkeitstheoretisch relevanten Kern. (mehr …)

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