Ernesto Laclau und die Bibliothek des Jorge Luis Borges

Ernesto Laclau ist gestorben. Wie jeder Nachruf ist auch dieser dem unhintergehbaren Dilemma ausgesetzt, sich dem Tod widmen zu müssen, einem Thema, über das es nichts zu sagen gibt, was gesagt werden müsste. Der Tod entzieht sich radikal jeder Erkenntnis und der Fehler jeder Religion ist es seit jeher gewesen, das Wissen an die Stelle des Glaubens zu setzen und sich dadurch selbst verlustig zu gehen. Was den Tod angeht, ist jede_r auf seine_ihre Phantasie verwiesen. Jorge Luis Borges schrieb einmal, er würde sich das Paradies als eine riesige Bibliothek vorstellen, in der man, stetig auf neue Gänge stoßend, ewig lesen und wandeln könnte. Es macht Freude, sich vorzustellen, wie Ernesto Laclau an diesem Ort die Augen aufschlägt und sich einem lächelnden Borges gegenübersieht. Solche Bilder helfen, dem Tod ins Auge zu blicken, dem unseren, dem unserer Lieben und dem Ernesto Laclaus, in dem alle jene anderen Tode ebenso beschlossen liegen wie der seine in unserem liegen wird. (mehr …)

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Ein politischer Wissenschaftler im „Zeitalter der Extreme“. Nachruf auf Reinhard Kühnl (1936-2014)

Reinhard KühnlWenn die Arbeiten von Reinhard Kühnl, der am 10. Februar nach langer schwerer Krankheit verstorben ist, öffentliche Erwähnung fanden, wurde sein Name meist mit einem Zusatz versehen, der heute beinahe anachronistisch klingt. Kühnl war „Faschismusforscher“, ein marxistischer zumal – und darüber hinaus nicht nur im deutschsprachigen Raum über Jahrzehnte hinweg einer der bekanntesten Vertreter seiner Zunft. (mehr …)

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Doing Cultural Studies. Nachruf auf Stuart Hall (1932-2014)

Er galt als einer der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen Großbritanniens und war in Deutschland dennoch nur einem – allerdings nicht unbedeutenden – Teil des Publikums bekannt. Stuart Hall, der am 10. Februar im Alter von 82 Jahren gestorben ist, war gerade im angelsächsischen Raum ein großer Inspirator ganzer Generationen von Kulturwissenschaftlern, für die Culture als Praxis keineswegs die kanonbeflissene Exegese der Klassiker bedeutete, sondern – mit den Worten von Raymond Williams – „a whole way of life“ darstellte. „Culture is ordinary“, diese Losung von Williams, der zusammen mit Richard Hoggart das „Centre for Contemporary Cultural Studies“ (CCCS) an der Birmingham University gründete, war ein Leitmotiv der Cultural Studies. Diese ebenso weitverzweigte wie widersprüchliche Theorierichtung wollte auch die Niederungen der vermeintlichen Trivialkultur ernst nehmen und dabei die „Kunst des Eigensinns“ (Rainer Winter) der Rezipienten betonen. Die Cultural Studies schärften den Blick auch für die kreative und widerspenstige Kraft jugendlicher Subkulturen, während in den Hörsälen mitunter noch über Schundliteratur und Kulturverfall räsoniert wurde. (mehr …)

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Robert Dahl verstorben

Der Politikwissenschaftler Robert A. Dahl ist gestern, am 05.02.2014, im Alter von 98 Jahren verstorben (Meldung der Yale University). Dahl war einer, wenn nicht der einflussreichste Demokratietheoretiker unserer Zeit (hier ein Interview mit ihm). Unter anderem stammen aus seiner Feder die Bücher „Who Governs? Democracy and Power in an American City„, „A Preface to Democratic Theory“  „Polyarchy: Participation and Opposition„, „Democracy and Its Critics“ und „On Democracy„; ebenso viel diskutierte Aufsätze wie „A Democratic Dilemma. System Effectivness versus Cititzen Participation“ oder „Can International Organizations Be Democratic? A Skeptic’s View„. Wohl kaum jemand hat im 20. Jahrhundert so tiefgreifend die Funktionsweise moderner Demokratien erforscht und unser Verständnis für deren Leistungen und Begrenzungen geschärft (nicht zuletzt durch den Begriff der Polyarchie und den vom ihm herausgegebenen und eingeleiteten Sammelband zu Opposition in westlichen Demokratien). Dahl lehrte die längste Zeit an der Yale University, er erhielt zahlreiche Preise und war unter anderem Präsident der American Political Science Association.

Wir trauern um diesen Giganten der Politikwissenschaft und werden unter dem Strich in den kommenden Tagen die Nachrufe auf Dahl sammeln und verlinken. (mehr …)

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Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt: Nachruf auf Wilhelm Hennis

Der Kommentar zu unserer heutigen Lage erschien vor fünfzehn Jahren. „Geld oder Währung. Ist der Euro alles?“, hieß ein Zeitungsartikel im Januar 1997. Was die europäische Malaise präzise beschreibt – die Rhetorik der Alternativlosigkeit, die das Politische „unter dem Druck der Termine“ auf das Vollziehen von Sachzwängen reduziere, die Hybris einer modernen Finanzlogik, die bei einer Gemeinschaftswährung von scheinbar „Unwesentlichem“ wie den Eigentümlichkeiten nationaler Volkswirtschaften und „geopolitischer“ Umstände glaubte abstrahieren zu können – gegen all das erhob der Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis am Vorabend der Euro-Einführung vehement Einspruch. (mehr …)

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Eric Hobsbawm (1917-2012)

Eric Hobsbawm, einer der bedeutendsten Historiker des 20. Jahrhunderts, ist heute im Alter von 95 Jahren verstorben.
In Alexandria geboren, in Wien und Berlin aufgewachsen und von dort 1933 nach London emigriert, war Hobsbawm über sieben Jahrzehnte als Historiker der neuesten europäischen Geschichte, mit besonderem Fokus auf Nationalismus und Imperialismus, aktiv und über die Fachgrenzen hinaus enorm einflussreich. Von einer konsequent marxistischen Perspektive ausgehend, wirkte er weit über diese Schule hinaus und leistete nicht zuletzt mit seiner Tetralogie The Age of Revolution, The Age of Capital, The Age of Empire und The Age of Extremes (1962-1994) Grundlegendes für die Geschichts- und Sozialwissenschaften. Für PolitiktheoretikerInnen bleibt nicht allein dieses monumentale Überblickswerk inspirierende Pflichtlektüre, sondern insbesondere der mit Terence Ranger herausgegebene Band The Invention of Tradition (1983), der Grundlegendes zur politischen Gedächtnis- und Geschichtspolitikforschung beitrug. Bis zum Ende seines von wissenschaftlichem und politischem Engagement gleichermaßen erfüllten Lebens strebte Hobsbawm nach der wirksamen Verknüpfung beider Unterfangen, so auch in seiner Aufsatzsammlung How to Change the World aus dem vergangenen Jahr, in der Hobsbawm die Relevanz marxistischer Zugriffe auf die politische Gegenwart von Neuem erwies. The Guardian hat einen würdigen und ausführlichen Nachruf auf Eric Hobsbawm veröffentlicht.

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Die Leerstelle, die bleibt – zum Tod Claude Leforts

Er war einer der praktischen Philosophen, die heute die Landschaft des kritischen politischen Denkens besonders in Frankreich prägen: Claude Lefort. Er starb am 3. Oktober im Alter von 86 Jahren.

Lefort beharrte stets darauf, dass das Politische jenseits des Staates zu denken sei und auf der Unmöglichkeit, die Einsicht in eine konfliktreiche Welt des Sozialen in eine Theorie der einzig richtigen Gesellschaftsordnung zu überführen. Vehement und mit aller rhetorischen Schärfe verteidigte er die Disharmonie im Stimmengewirr der Moderne, überzeugt von der Gefahr des Totalitarismus, die einer mit sich identischen, sich in ein organisches Ganzes auflösenden Gesellschaft verbunden war. So war die Demokratie für Lefort keine Regierungsform zur Erzeugung und Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnung, sondern ein beständiger Ausdruck der lebensweltlichen Heterogenität, die sich keinem Entwurf sozialer Ordnung widerspruchsfrei zu fügen gewillt ist. (mehr …)

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