Krisen: Depolitisierung und ihre Anfechtung

Den zweiten Beitrag zum Forum „Krise und Normkontestation“ steuert Christian Kreuder-Sonnen bei.

Akute, existentielle Bedrohungen, die unter Zeitdruck politische Antworten erfordern, lassen wenig Raum für argumentative Auseinandersetzung. Die in solchen Krisen eingesetzten politischen Mittel und Maßnahmen entziehen sich daher zumindest kurzfristig oft tiefgehender Anfechtung (Kontestation). Wie ich in diesem Beitrag argumentiere, stellen Krisen jedoch in mindestens zweierlei Hinsicht auch Treiber von spezifischen Praktiken der Normkontestation dar. Zum einen können notstandspolitische Maßnahmen selbst eine verhaltensbezogene Form der Normkontestation darstellen, indem sie in der Praxis mit gewissen Normen brechen und andere Normen implementieren. Zum anderen führt die diskursive Depolitisierung der akuten Krisensituation – gekoppelt mit weitreichenden krisenpolitischen Maßnahmen – mittelfristig zu einer repolitisierenden Gegenreaktion, bei der Normen und politische Institutionen insgesamt mit besonderer Intensität angefochten werden.

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Kontestation und Krise: Zusammen oder getrennt? Das „Henne-Ei-Problem“

Das ist der erste Beitrag des Forums „Krise und Normkontestation“, das von Nils Stockmann und Johanna Speyer organisiert wurde und in dieser Woche auf dem Theorieblog erscheint.

Den Zusammenhang von Krise und Normkontestation – sowohl auf konzeptueller als auch auf empirischer Ebene – kann man als ein sogenanntes Henne-Ei-Problem bezeichnen. Beide Konzepte haben die Gemeinsamkeit, dass sie mit negativen Konsequenzen assoziiert werden. Sie werden als problematisch, kritisch, bedrohlich eingestuft. Daher scheint es dem ersten Eindruck nach nur folgerichtig, dass aus beiden auch immer negative Konsequenzen folgen. 

Jedoch zeigt die Empirie, dass beide auch positive, stabilisierende Effekte haben können. Daher schlage ich vor, in der Analyse des Verhältnisses von Krise und Kontestation diese produktiven, legitimierenden Effekte mitzudenken. Es lassen sich anhand zweier Beispiele, der Covid-19-Pandemie und der Klimakrise, vier Beobachtungen dazu festhalten, in welchem Zusammenhang Krisen und Normkontestation auftreten: Erstens können Normen in Krisen angefochten werden, um zur Lösung des Krisenproblems beizutragen. Zweitens kann die Krise aber auch als Heuristik, ohne den Auftritt von Kontestation, Normen-stärkend wirken. Drittens kann Kontestation in der Krise einen legitimierenden, stärkenden Effekt auf die Norm haben. Jedoch lässt sich auch beobachten, dass viertens eine Kontestation solcher Normen stattfinden kann, die zur Lösung des Krisenproblems beitragen sollen. Daraus lässt sich ableiten, dass es vermutlich keinen temporal-notwendigen, aber einen kontextuellen Zusammenhang zwischen Normkontestation und Krise gibt. 

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Forum „Krise und Normkontestation“ – Auftaktbeitrag

Die Begriffe „Krise“ und „Kontestation“ haben derzeit Hochkonjunktur in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Doch wie verhalten sie sich zueinander? Geht die Krise der Kontestation von Normen voraus oder umgekehrt? Hilft der eine Begriff, Dynamiken des jeweils anderen auszuleuchten? Oder sprechen Kontestations- und Krisenforscher:innen gar über gleiche Phänomene mit unterschiedlichem konzeptionellen Vokabular? Dieses Forum widmet sich diesen Fragen und den theoretischen Dimensionen des Verhältnisses von Krise und Kontestation.

Internationale Organisationen (IOs) und andere politische Institutionen, so scheint es, kommen bei der Suche nach wirksamen Gegenmaßnahmen und Vorsorgestrategien gegen Krisen kaum noch hinterher. Die Wahrnehmung gleichzeitig auftretender Krisen, einer „Polykrise“, hat den globalen Diskurs und das Handeln von IOs paradigmatisch verändert. Gleichzeitig ist die Kontestation von Normen in unterschiedlichen politischen Räumen zu beobachten. Es verwundert daher wenig, dass Krisenforscher:innen und Kontestationsforscher:innen der jeweils andere Begriff nicht unbekannt ist. Wo „Krise“ ist, scheint „Normkontestation“ nicht weit zu sein. Je nach analytischer Blickrichtung entsteht der Eindruck, dass Normkontestation erst in Krisen sicht- und analysierbar wird oder umgekehrt eine Situation nur dann als Krise bezeichnet wird, wenn bestimmte Normen angefochten werden. Darüber hinaus bleibt die analytische Beziehung zwischen beiden Begriffen und den dahinterliegenden konzeptionellen Debatten jedoch oft vage.

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Offene Panels beim DVPW-Kongress (CfP Frist am 31.10.)

Vom 24.-27. September 2024 findet in Göttingen der DVPW-Kongress zum Thema „Politik in der Polykrise“ statt. Am 31.10.2023 läuft die Frist des Call for Papers für die offenen Panel wie auch für geschlossene Panel ab. Wir möchten die Gelegenheit nutzen, darauf hinzuweisen, dass es eine ganze Reihe von offenen Panels gibt, die (auch) im Bereich politische Theorie und Ideengeschichte verortet sind. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit listen wir hier offene Panels auf, die für politische Theoretiker*innen besonders interessant sind. Die Beschreibungen aller Panels finden sich auf der Website der DVPW. (mehr …)

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Kongresssplitter: Über die Situiertheit gesellschaftlicher Krisendiagnosen 

— 3.B Critical feminist perspectives on Diagnoses of Crisis — 

Eine Tagung, die sich dem Thema (Un-)Sicherheit gewidmet hat, bietet reichlich Anknüpfungspunkte für feministische Perspektiven: Welche Sicherheitsbedürfnisse finden Gehör und welche Perspektiven werden ausgeblendet? Wie lassen sich permanente Krisenerfahrungen marginalisierter Gruppen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit (Un-)Sicherheit und Krise berücksichtigen? Das von der Sektion Politik und Geschlecht der DVPW gestaltete Panel “Critical feminist perspectives on Diagnoses of Crisis: Foregrounding Vulnerability and Intersecting Histories of Domination” stellte diese Fragen ins Zentrum und zielte auf die inhaltliche Erweiterung politiktheoretischer Fragestellungen, methodische Offenheit und die Öffnung bestehender Kanons.   (mehr …)

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CfP Tagung “ Microscopic Research on Grand Social Concepts – Crisis, Protest, and Transformation“ (Fulda) – verlängert bis 31.08.

Der Call ist verlängert bis zum 31.08.: Das Promotionskolleg „Human Rights and Social Justice“ der Hochschule Fulda veranstaltet am 23. und 24. November 2023 in Fulda eine internationale Konferenz zum Thema „Microscopic Research on Grand Social Concepts – Crisis, Protest, and Transformation“. Hierfür werden noch Beiträge gesucht. Der ausführliche Call for Papers finden sich hier. Vorschläge im Umfang von max. 300 Wörtern können bis 18. August 2023 an Christina Kurdum (christina.kurdum@sk.hs-fulda.de) gesendet werden.

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Gastvortrag Hedwig Richter: „Krise, welche Krise?“ (Darmstadt)

Am 22. Juni 2023 von 18-20 Uhr hält Hedwig Richter einen Gastvortrag an der TU Darmstadt mit dem Titel „Krise, welche Krise? Risiko und Resilienz in der liberalen Demokratie“, in dem die Frage beantwortet werden soll, ob Krisen womöglich unverzichtbar sind, um Demokratien wach und die Selbstreflexivität lebendig zu halten und der These nachgegangen wird, dass Krisendiskurse das Potential zur self-fulfilling prophecy in sich tragen. Dirk Jörke wird den Vortrag kommentieren. Eine vorherige Anmeldung ist nicht erforderlich. Weitere Informationen hier.

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Konferenz: Unhaltbare Zustände – Zweite Marxistische Arbeitswoche (Frankfurt)

Über Pfingsten 1923 fand in Geraberg (Thüringen) die »Marxistische Arbeitswoche« statt – das erste Theorieseminar des zu Beginn desselben Jahres gegründeten Instituts für Sozialforschung. Teilnehmer:innen waren Marxist:innen und Kommunist:innen, die intellektuell an der frühen Ausrichtung des IfS mitwirkten. Anlässlich seines 100-jährigen Bestehens lädt das IfS für Pfingsten 2023 zur Zweiten Marxistischen Arbeitswoche ein. […]

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CfP PROKLA 213: Wieviel 1973 steckt in 2023? 50 Jahre Brüche und Kontinuitäten

Derzeit spitzt sich die multiple Krise im globalen Gefüge zu. Unterschiedliche Entwicklungen verbinden sich zu einer Gemengelage, die den zeitdiagnostischen Eindruck eines kommenden Bruchs verstärkt: der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Verschärfung der Konkurrenz zwischen den USA und China, die Rekordinflation und Diskussionen um eine Phase der Deglobalisierung, Krisenerscheinungen liberaler Demokratien und die Bedeutungszunahme autoritärer Staatlichkeit sowie nicht zuletzt die dramatische Zuspitzung der ökologischen Krise. Die mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems seit 1973 durchgesetzte Ausrichtung der Weltwirtschaft und die damit verbundene geopolitische Ordnung scheinen ins Wanken geraten zu sein. Befinden wir uns heute in einer Phase des Umbruchs, ähnlich wie 1973? Wieviel 1973 steckt in unserer Gegenwart? Was an grundlegenden Veränderungen seit 1973 gilt es zu begreifen, um zukünftige Konflikte bewältigen zu können?

Die Redaktion lädt zur Einsendung von Exposés bis zum 8.5.2023 ein. Der vollständige CfP kann hier eingesehen werden.

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Mehr Fortschrittskritik wagen? Tagungsbericht zur Summer School „Natur und Fortschritt“

Mit dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ setzt die aktuelle Ampelregierung auf einen Begriff, den aktuelle philosophische und soziologische Gegenwartsdiagnosen unter dem Eindruck verschiedener globaler Notstände und der sich zuspitzenden Klimakrise vermehrt infrage stellen. „Vom Ende der Illusionen“ und von Anpassung als Paradigma kommender Gesellschaften wird dann gesprochen, während monatlich neue Filme und Serien zu Apokalypsen oder Post-Apokalypsen erscheinen und auf Instagram Prepping-Produkte wie Notfallbatterien und Wasserreinigungstabletten beworben werden.

Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung, „Natur und Fortschritt“ ins Zentrum einer Summer School zu stellen – gemeinsam ausgerichtet vom Centre Marc Bloch (CMB), dem Frankfurter Institut für Sozialforschung und dem Institut für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main – so zeitgemäß wie herausfordernd. Rund 30 junge Wissenschaftler*innen aus vorwiegend geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen folgten der Einladung, im CMB in Berlin Ende September für vier Tage durch eine kritische Inventur des aktuellen Begriffsbestecks rund um ‚Natur‘ und ‚Fortschritt‘ die vielfältigen und mitunter auch widersprüchlichen Verhältnisse zwischen den Begriffen auszuloten und so die Handlungsfähigkeit von Sozialtheorie zu erproben. Es sollte ein „Überblick über die aktuellen Diskussionen zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften sowie feministischen, ökologischen und antirassistischen Studien zu diesen Themen“ erfolgen, so die Ankündigung des siebenköpfigen Organisationsteams. (mehr …)

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