Wer von „demokratischen Institutionen“ spricht, scheint eine contradictio in adiecto zu begehen. Jedenfalls sind Antidemokrat:innen seit Platon dieser Auffassung: Während Institutionen Ordnung schaffen, steht Demokratie für Unordnung. Noch der (früh)moderne Republikanismus teilt diese Sichtweise: Montesquieu, James Madison oder Benjamin Constant warnen in ihren Plädoyers für die Mischverfassung vor der Institutionenfeindlichkeit des demokratischen Moments. Ausgehend von der platonischen Karikatur der Demokratie als Quasi-Anarchie, die permanent Gefahr läuft, sich selbst abzuschaffen, ist die Geschichte der demokratischen Idee auch eine Geschichte ihrer institutionellen Widerspenstigkeit. Während viele aktuelle Demokratietheorien versuchen, diese Spannung aufzulösen, plädiert der Jubilar Claude Lefort, dem dieser Schwerpunkt gewidmet ist, dafür, sie anzuerkennen und produktiv zu wenden. Die Friktion zwischen Demokratie und Institution erscheint in seinen Schriften nicht als Widerspruch oder als zu überwindendes Hindernis, sondern als eine produktive Aporie – eine Aporie, die nicht nur Kennzeichen einer radikaldemokratischen Perspektive ist, sondern, so unsere These, in jeder Theorie demokratischer Institutionen reflektiert werden muss. (mehr …)
Autor: Sergej Seitz
Institutionen des Politischen. Lesenotiz zur Gretchenfrage radikaler Demokratietheorie
Das Problemfeld politischer Institutionen erweist sich zunehmend als Gretchenfrage für Theorien radikaler Demokratie. Im Raum steht der Vorwurf, dass radikale Demokratietheorien einseitig auf die Kontingenz- und Konfliktdimension des Politischen fokussieren und dabei die institutionellen Bedingungen und Ordnungsstrukturen der Politik aus dem Blick verlieren. Die Einsicht in die Grundlosigkeit und Veränderbarkeit sozialer Verhältnisse gehe mit einem Desinteresse, ja mit Geringschätzung für Fragen der Bewertung und Gestaltung demokratischer Institutionen einher.
Diese Bedenken wurden wiederholt sowohl von Kritiker*innen als auch, im Rahmen einer Binnenkritik, von Parteigänger*innen der radikalen Demokratietheorie vorgebracht. Sie stehen etwa im Zentrum der Debatte zwischen Hubertus Buchstein und Oliver Flügel-Martinsen, die hier anlässlich der Veröffentlichung von Flügel-Martinsens Band Radikale Demokratietheorien zur Einführung (2020) angestoßen wurde. Mit ihrer Edition Institutionen des Politischen. Perspektiven der radikalen Demokratietheorie versammeln die Herausgeber Steffen Herrmann und Matthias Flatscher nun vierzehn radikaldemokratische Beiträge zur Institutionenfrage. Insofern der Band die Pluralität radikaler Demokratietheorien abbildet, darf man sich von der Lektüre keine definitiven Antworten erwarten. Er liefert aber viele Denkanstöße und eröffnet mehrere, durchaus konfligierende Pfade, entlang derer radikaldemokratische Ansätze auf Institutionen reflektieren können. (mehr …)
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