Pflicht, Verantwortung, Genuss!? Appell für ein lustvolles Sorgen in der politischen Philosophie

Der zweite Text in Teil 3 unserer Debatte um den Begriff der Sorge behandelt das politische Sorgeverständnis des spanischen Kollektivs Precarias a la deriva und bringt es in Dialog mit der Philosophie von Emmanuel Lévinas.

 

„Wollen wir wirklich die Wirtschaft zerstören, nur um den Planeten zu retten?“ fragte ein Bundestagswahlplakat der Partei Die Partei im September 2021 und zeigt damit auf sarkastische Art, dass es verschiedene Perspektiven darauf geben kann, was einem Sorge bereitet. Die Sorge um den reibungslosen Ablauf der Wirtschaft und die Sorge um eine zukünftige Lebensfähigkeit auf dem Planeten Erde scheinen in Zeiten der Klimakrise nicht unbedingt Hand in Hand zu gehen. Mit dem Spannungsverhältnis von der Sorge um wirtschaftlichen Profit und der Sorge um Mensch und Planet beschäftigte sich das spanische Kollektiv Precarias a la deriva bereits vor einigen Jahren. Die Precarias bezeichnen sich als heterogenen Zusammenschluss von Frauen, die im Zuge des spanischen Generalstreiks 2002 ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten in prekären Sorge-Verhältnissen erforschten. Ihrer Meinung nach ist „die Sorge […] jene durchgehende und unsichtbare Linie, deren Unterbrechung verheerend wäre.“ Das heißt, ohne die vielfach unsichtbar geleisteten und in endloser Abfolge zu wiederholenden Sorgetätigkeiten wie Kinder zeugen und gebären, Lebensmittel anbauen, Mahlzeiten zubereiten, Häuser errichten, Windeln wechseln, Klos putzen, Kranke pflegen und Trauernden zuhören, gibt es kein menschliches Leben. Die Precarias sezieren in ihrem kollektiv verfassten Essay Globalisierte Sorge die leidvollen Verflechtungen von Wirtschaft und sorgenden Tätigkeiten, die in der Spannung zwischen der Profitlogik des Marktes und der Lebenslogik der Sorge zu finden sind. Diese leidvollen Verflechtungen sind für die Precarias beispielsweise ein falsches Verständnis von Liebe in der patriarchalen Form der Kleinfamilie oder die globalen Affekt- und Sorgeketten, bei denen oftmals Frauen* weit entfernt von ihren Liebsten in anderen Regionen der Welt sorgend tätig sind.

Die Precarias sprachen über diese Verflechtungen lange vor dem Frühjahr 2020 oder dem Sommer 2021, in denen der Sorge-Begriff mit Beginn der Covid19-Pandemie sowie den verheerenden Überflutungen auch im scheinbar sicheren Europa eine neue Welle der Aufmerksamkeit und damit der Sichtbarkeit erhielt. Diese Aufmerksamkeit ist entscheidend, denn die bislang meist unsichtbare Linie der Sorge in den Mittelpunkt gesellschaftlichen Handelns zu stellen, ist eine der drängendsten Aufgaben dieser Zeit, wenn nicht weitere Pandemien und die Klimakrise ein gutes Leben auf dem Planeten Erde in absehbarer Zeit verunmöglichen, also die Linie der Sorge unterbrechen sollen. Mit der Frage danach, wie und warum der Erhalt dieser Linie der Sorge als eine lustvolle Praxis begriffen werden kann, beschäftigt sich dieser Beitrag. (mehr …)

Weiterlesen