theorieblog.de | „Sorgende Städte“ im Kontext der Care-Debatte

3. November 2025, Lebuhn

Unter dem Label „Caring Cities“ oder auch „Sorgende Städte“ haben Städte weltweit – vor allem im spanischsprachigen Raum – angefangen, Pflege- und Sorgetätigkeiten stadtpolitisch zu stärken und ihnen mehr Sichtbarkeit zu verleihen. Städte reagieren damit auf die sogenannte „Krise der Reproduktion“ und die neoliberale Vernachlässigung öffentlicher Infrastrukturen. Im Folgenden möchte ich die „Caring Cities“ in den sozialwissenschaftlichen Debattenkontext um Pflege- und Sorgearbeit bzw. deren Krise einordnen (ausführlich dazu siehe Knierbein et al 2025; siehe auch Isselstein 2024sowie Saltiel und Strüver 2024). Dabei soll es zum einen darum gehen, die Relevanz der Care-Debatte für den städtischen Kontext herauszuarbeiten. Zum anderen soll das Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Care-Begriffen und den damit einhergehenden theoretischen Problemstellungen deutlich werden. Denn während sich der durch Joan Tronto geprägte „weite Care-Begriff“ besonders für die Auseinandersetzung mit Alltagsorten des städtischen Zusammenlebens anbietet, scheint er im Gegensatz zu einem materialistischen Care-Begriff, der auf Arbeit und Reproduktion fokussiert, weniger gut geeignet für das Verständnis spezifisch kapitalistischer Widersprüche.

 

Eine ganz, ganz kurze Geschichte der Care-Debatte

Seit den 1980er Jahren setzen sich vor allem feministische Forschungen in den Sozialwissenschaften mit Fragen von Pflege- und Sorgetätigkeiten und deren gesellschaftspolitischem Kontext auseinander (einen ausgezeichneten Überblick bietet Ostner 2011). Hatten sich viele Studien zunächst für die Mikrobeziehungen in der Sorgearbeit interessiert, hat sich das Feld inzwischen in Richtung der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung entwickelt. Heute wird vor allem danach gefragt, wie Gesellschaften im Dreieck zwischen Staat, Markt und Familie die Pflege- und Reproduktionsarbeit organisieren. Im Mittelpunkt stehen dabei die Erosion des traditionellen male breadwinner und female homemaker-Modells und neoliberale Prozesse von Re-Kommodifizierung und Re-Familiarisierung der Reproduktionsarbeit (für eine konzeptionelle Anbindung an Debatten um Neoliberalisierung und Post-Fordismus siehe etwa Winker 2015). Hinzu kommt die demografische Entwicklung hin zu einer Gesellschaft mit mehr alten und pflegebedürftigen Menschen.

Schon etwas früher, nämlich in den 1970er Jahren, begann die materialistisch-feministische Care-Debatte. Sie entwickelte sich als kritische Auseinandersetzung mit Marx. Der hatte zwar viel über den Wert der Arbeitskraft und ihre Ausbeutung in der Fabrik geschrieben. Aber wenig darüber, wie die Arbeitskraft sich eigentlich reproduziert: nämlich auf Grundlage der unbezahlten und meist weiblichen Reproduktionsarbeit im Privathaushalt. Die materialistische Care-Debatte hat sich inzwischen in eine ganze Reihe von konzeptionellen Zugängen ausdifferenziert: von werttheoretischen über regulationstheoretischen bis hin zu queer-feministischen Theorien (siehe Dück und Hajek 2019). Was sie vereint, ist die systematische Verknüpfung von Kapitalismus und Patriarchat und der grundlegend kapitalismuskritische Rahmen, in dem das Verhältnis zwischen Sorgearbeit und Lohnarbeit diskutiert wird.

Noch eine weitere Differenzierung in der Debatte ist interessant: In Deutschland sprechen wir, vor allem in linken Zusammenhängen, meist von „Reproduktionsarbeit“. Gemeint ist das Kochen, Putzen, Einkaufen, Auf-Kinder-Aufpassen und Alte-Menschen-Pflegen. In der anglo-amerikanischen Debatte meint der Begriff „Care“ oft „Sorgetätigkeiten“ im weiteren Sinne: das Füreinander-Sorge-Tragen. Das umfasst mehr als nur die bloße Reproduktion und schließt auch „more-than-human-aspects“ ein. So nutzt die kanadische Stadtplanerin Samantha Biglieri diesen Zugang, um die Bedeutung der gebauten Umwelt für demenzkranke Menschen im urbanen Kontext zu theoretisieren, und betont das dynamische Zusammenspiel von Beeinträchtigung, Körperlichkeit und soziokulturellen sowie politischen Barrieren im Alltag. Dieser „weite Care-Begriff“ wurde seit den 1990er Jahren von der US-Amerikanerin Joan Tronto geprägt. Vor allem zielt er auf eine Kritik am neoliberalen Menschenbild des homo oeconomicus, und argumentiert, dass das „Füreinander-Sorge-Tragen“ ein grundlegendes Merkmal des Menschen darstellt.

 

Intersektionale Ungleichheiten

Seit Beginn der Care-Debatte(n) haben sich die gesellschaftlichen Rollenbilder und Geschlechterverhältnisse stark verändert. Dennoch wird Pflege- und Sorgearbeit nach wie vor mehrheitlich von Frauen und migrantisierten Personen erbracht – und zwar sowohl unbezahlt in den Privathaushalten als auch mit Blick auf berufliche Tätigkeiten. In Familien mit kleinen Kindern, in denen beide Elternteile voll erwerbstätig sind, verbringen Frauen in Deutschland im Durchschnitt 55 Prozent ihrer Zeit mit unbezahlter Haushaltsarbeit – bei den Männern sind es nur 34 Prozent (WSI Report Nr. 35, April 2017). In den Pflegeberufen waren 2024 in Deutschland 82 Prozent der Beschäftigten Frauen und nur 18 Prozent Männer (aktuelle Daten bei statista.com). Dabei sind Pflegeberufe in der Regel schlechter bezahlt, psychisch und körperlich belastend, und meist kommen die Care-Bedürfnisse der Care-Arbeiter*innen selbst viel zu kurz. Verbesserungen sind vor allem dort zu verzeichnen, wo Care-Arbeiter*innen gewerkschaftlich gut organisiert sind, wie Maier und Schmidt zeigen (2019). Das lässt sich am Beispiel der Erzieher*innen nachvollziehen: „ErzieherInnen in Kitas wurden tatsächlich lange Zeit relativ schlecht bezahlt, doch – wie einigen anderen Beschäftigtengruppen auch – ist es ihnen in den letzten Jahrzehnten gelungen, über aktive Beteiligung an den Kämpfen um mehr Lohn ihre Bezahlung innerhalb des öffentlichen Dienstes erheblich zu verbessern.“ (ebd. 243) Und: Kinderbetreuung wird in Deutschland mittlerweile nicht mehr nur als „privates Problem“, sondern auch als öffentliche, wenngleich stets prekäre Verantwortung verhandelt.

 

Die Care-Debatte im Stadtkontext

Trotz der Vielfalt der Ansätze, die sich innerhalb der Care-Debatte entwickelt hat, bleibt die räumliche Perspektive auf Pflege- und Sorgetätigkeiten oftmals unterbelichtet. Care wird in den Sozialwissenschaften meist als nationales, regionales bzw. gesamtgesellschaftliches Regime gedacht. Dabei hat Care-Arbeit, wie alle sozialen Praxen, auch eine räumliche Dimension. Care findet in Wohnungen statt, auf Spielplätzen, in Schulen, Kindertagesstätten, in Pflegeheimen, Krankenhäusern, im Garten und auf der Straße, also in Räumen des urbanen Alltags und in Institutionen, Einrichtungen und Infrastrukturen, die in kommunalpolitische Zuständigkeit fallen. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Verknüpfung der Felder „Care und Stadt“ und auch der aktuelle stadtpolitische Ansatz der „Sorgenden Stadt“: Caring Cities wie Barcelona, Madrid, Bogota oder auch das schwedische Umeå machen die lokale Dimension von Sorgearbeit zum kommunalpolitischen Programm. Überblicksartig lassen sich drei große Bereiche unterscheiden, die aus dieser Perspektive relevant sind:

  • Die gebaute Umwelt, also der Zusammenhang zwischen Stadtplanung, Design und Architektur einerseits und der Praxis der Sorgetätigkeiten andererseits.
  • Die öffentliche Daseinsvorsorge, also Aufgaben im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung und der öffentlichen Infrastrukturen, die in den Bereich Care fallen.
  • Solidarische Alltagsbeziehungen, also die Rolle nachbarschaftlicher Beziehungen und Netzwerke, aber auch die Bedeutung feministischer Initiativen und alternativer Haus- und Nachbarschaftsprojekte, die mit neuen Formen der Organisation von Care Arbeit experimentieren.

Die Geschichte ist voller Beispiele dafür, wie vor allem feministische Initiativen lokale Räume umgestaltet haben, um Sorgearbeit anders zu organisieren: gemeinschaftlich, gleichberechtigt, anerkannt. Beispielhaft lässt sich dies an den sogenannten Service- und Kollektivhäusern für berufstätige Frauen und Familien nachvollziehen, in denen Eltern bei der Kinderbetreuung und der Haushaltsführung unterstützt wurden. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde unter anderem in Dänemark und Schweden, in den 1920er Jahren auch in der UdSSR mit solchen Modellen experimentiert (Hayden 2017). Im aktuellen Kontext können zivilgesellschaftliche Initiativen freilich auch in Widersprüche geraten, wenn sie durch übersteigerte Selbstoptimierung und Eigenverantwortung geprägt sind oder als Freiwilligenarbeit den Rückzug der öffentlichen Hand aus der sozialen Verantwortung kompensieren (siehe Gabauer und Lebuhn 2022; van Dyk et al 2021).

Der US-amerikanischen Urbanistin Dolores Hayden kommt der große Verdienst zu, bereits in den 1970er und 1980er Jahren viele historische Beispiele für feministische Stadtplanung und Design aufgearbeitet zu haben (siehe die jüngere Neuausgabe und Kommentierung hier). Unter dem Label „HOMES“ (Homemakers Organisation for a More Egalitarian Society) entwickelte Hayden 1981 sogar ein eigenes Konzept feministischer Stadtplanung, in dem sie viele historische Erfahrungen aufnahm: Sie plädierte dafür, nachbarschaftlich verbundene Haushalte zu kleinen Einheiten zusammenzufassen, und dabei ehemals private Care Tätigkeiten stärker gemeinschaftlich zu organisieren. Das betrifft zum Beispiel Aufgaben wie Kochen, Einkaufen und Kinderbetreuung. Haushaltsnahe Dienstleistungen könnten Hayden zufolge in kleinen Genossenschaften organisiert werden, um die unbezahlte Reproduktionsarbeit zu reduzieren und vor Ort Arbeitsplätze zu schaffen, ohne Care-Arbeit dabei zu kommodifizieren. Soziale und ethnische Segregation würde aufgebrochen und der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung im Haushalt gegengesteuert.

 

„Fürsorgeethik“ versus „Soziale Reproduktion“

Auch wenn die Studien von Hayden bis heute als wegweisend gelten, beziehen sich viele Autor*innen in der internationalen Stadtforschung derzeit stärker auf den weiten Care-Begriff von Tronto (vgl. etwa Gabauer et al 2022). Sie versteht Care als „Species Activity“ und steht damit in der Tradition der Fürsorgeethik. Diese hat sich innerhalb der Moralphilosophie vor allem im angloamerikanischen Raum entwickelt und stellt eine feministische Kritik an der Moderne und der Vorstellung des modernen Subjekts dar. „Anstelle der Auffassung, dass wir als Individuen unabhängig voneinander leben, rational, autonom und selbstverantwortlich handeln, begreift eine fürsorgeethische Perspektive Menschen vielmehr als Beziehungswesen“ (Gabauer 2025). Gerade in der Stadtforschung erlaubt Tronto den Blick auf Alltagsorte und Alltagsbeziehungen des nachbarschaftlichen Miteinander sowie auf Aspekte der gebauten Umwelt und auf „more-than-human-aspects“ (siehe etwa Fitz und Krasny 2019).

Das ist ausgesprochen produktiv. Es birgt aber die Gefahr, dass die spezifischen Macht- und Herrschaftsbeziehungen, die in die kapitalistische Reproduktion eingeschrieben sind und gerade in der materialistisch-feministischen Debatte zentral gestellt werden, nicht mehr richtig erfasst werden. Denn auf eine Anbindung an kapitalismuskritische und staatstheoretische Theoriebildung wird in dieser Debatte bislang weitgehend verzichtet (siehe dagegen Höhne und Schuster 2017 für eine enge Orientierung am Arbeits- und Reproduktionsbegriff).

Jüngere Versuche, eine fürsorgeethische Perspektive mit Forschungen zur „gerechten Stadt“ zu verknüpfen (siehe etwa Crisp und Waite 2022), werfen die Frage auf, ob ein solcher Brückenschlag ontologisch überhaupt möglich bzw. sinnvoll ist. Denn während die einen Fürsorge weiterhin mit einer privaten, emotional-konnotierten Mikro-Sphäre assoziieren, die der öffentlich-rationalen Makro-Dimension der Gerechtigkeit gegenübersteht, wollen die anderen die machtvolle Dichotomie von privat–öffentlich und die Reduzierung von Sorge auf das Private gerade überwinden (ausführlich dazu siehe Knierbein et al 2025). Das Unterfangen einer Zusammenführung birgt daher die Gefahr, den Bedeutungsgehalt beider Paradigmen zu entleeren.

 

Fazit

Nachdem die Care-Debatte sich zu einem wichtigen sozialwissenschaftlichen Feld entwickelt hat, wird nun auch verstärkt die Schnittstelle zur Stadtforschung bearbeitet. In der politischen Praxis zeigt sich die Verbindung zwischen Stadt und Care an neuen policy-orientierten Strategien, Pflege- und Sorgetätigkeiten und die dafür relevanten öffentlichen Infrastrukturen unter dem Label „Sorgende Städte“ aufzuwerten und öffentlich sichtbar zu machen. Ob es sich dabei um progressive Bündnisse zwischen Stadtregierungen und feministische Basisinitiativen handelt, die einen grundlegenden Politikwechsel anstreben, oder bloß um die findige Nutzung eines neuen „Labels“, die sich – ähnlich wie beim „Greenwashing“ – vor allem auf Diskurspolitik reduziert, lässt sich nur empirisch und am Einzelfall prüfen.

In der Forschung fällt der Rekurs auf unterschiedliche Care Begriffe auf: In der internationalen Stadtforschungsdebatte scheint sich vor allem der von Tronto geprägte „weite Care Begriff“ zu etablieren. Er unterscheidet sich deutlich von materialistisch-feministischer Theoriebildung, die den Arbeits- und Reproduktionsbegriff zentral stellt. Für die Theoriebildung zeichnet sich damit eine besondere Herausforderung ab. Denn es stellt sich die Frage, ob beide Begriffe für die Stadtforschung zusammengeführt und kritisch genutzt werden können – oder ob sie mit jeweils eigenen Stärken und Schwächen nebeneinander stehen bleiben (sollten).

Nicht zuletzt werden hier die (theoretischen) Weichen gestellt, ob es der Stadtforschung gelingt, für Care relevante Beziehungen, Tätigkeiten und Orte in den Blick zu nehmen, die über Aspekte der klassischen Reproduktionsarbeit hinausgehen, ohne dabei Formen vergeschlechtlicher Ungleichheit und Marginalisierungsprozesse z. B. entlang der Kategorie Migration aus den Augen zu verlieren.

 

Henrik Lebuhn ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der HU Berlin und Mitherausgeber der Buchreihe „Raumproduktionen“ (Westfälisches Dampfboot).


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