theorieblog.de | Politische Theorie dekolonisieren? Eine Lesenotiz zur Junius-Einführung „Dekoloniale Theorien“ von Frederik Schulze und Philipp Wolfesberger

15. Oktober 2025, Verhoeven

Vor kurzem wurde die Junius Einführungsreihe durch einen weiteren Band bereichert: „Dekoloniale Theorien“ von Frederik Schulze und Philipp Wolfesberger. Ist der Begriff der postkolonialen Theorien nun schon seit längerer Zeit Bestandteil der Diskussionen in der politischen Theorie – einschlägige Einführungen wurden bereits 2015 durch María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan oder 2021 durch Ina Kerner vorgelegt –, so geistert der Begriff der Dekolonialität wohl erst seit kurzem umher. Einführungsliteratur war zu dem Thema bisher eher dünn gesät. Ausnahmen bilden dabei der Sammelband Kolonialität der Macht (2013), herausgegeben von Pablo Quintero und Sebastian Garbe sowie die Monografie Dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika (2022) von Jens Kastner. Mit der Einführung bei Junius liegt nun ein handlicher Überblick vor, der Ausgangspunkt für ein erstes Kennenlernen, aber auch für eine tiefergehende Beschäftigung mit dekolonialen Theorien sein kann.

Die Autoren verfolgen dabei das Ziel dekoloniale Perspektiven als Bereicherung in Bezug auf Begrifflichkeiten, Konzepte, Denkweisen und Methoden für die Politische Theorie anzubieten; ohne dass dabei eine Absorption erfolgt, sondern ein kritischer Blick auf die eigene Positionalität und die damit einhergehenden Begrifflichkeiten, wie Politik, Demokratie oder Subjekt, von statten gehen kann (S. 22). Dekoloniale Theorien werden dabei weder als abgeschlossener Kanon noch als homogene Schule begriffen, sondern zeichnen sich gerade durch eine Komplexität und Heterogenität aus (S. 10, 18). Das Buch ist somit als eröffnendes Dialogangebot zu lesen, welches die Grundlagen dekolonialen Denkens nachzeichnet. Es ist in neun Kapitel gegliedert, angefangen bei Grundlagen und Vorläufern, zwei Autor:innenfokussierte Kapitel zu Aníbal Quijano und Enrique DusselI sowie themenspezifische Kapitel zu Wissensregimen, indigenen Epistemologien, dekolonialem Feminismus, Rezeptionen sowie einem Ausblick.

Im Folgenden sollen nun einzelne in der Einführung hervorgebrachte Begrifflichkeiten schlaglichtartig ins Feld geführt werden, um die Bereicherungsperspektive dekolonialer Theorien für die Politische Theorie zu verdeutlichen. Dabei sollte die große Heteregonität des Ansatzes im Hinterkopf behalten werden zu der die Einführung bei Junius einen ersten Einblick sowie eröffnende Orientierung geben kann.

Versuche einer Abgrenzungsbewegung: postkolonial vs. dekolonial

Der Begriff der Dekolonialität wird anfangs in Abgrenzung zum Begriff der Postkolonialität eingeführt, um das Debattenfeld zu eröffnen.

„Dekoloniale Theorien sind aus Lateinamerika stammende soziohistorische Analysen, die seit den späten 1990er Jahren die westliche Moderne und ihre kolonialen Machtasymmetrien kritisieren. Als politische Theorien erklären sie die bestehende globale Ungleichheit mit der Kolonialgeschichte Amerikas. Kolonialität ist die Bezeichnung für ebendiese ungleichen ökonomischen, politischen, kulturellen und epistemologischen Machtverhältnisse, die den europäischen Kolonialismus bis heute überdauert haben. Dazu zählen Rassismus, Eurozentrismus, Universalismus, Kapitalismus und patriarchale Unterdrückung. Dekolonialität bedeutet, solche Machtverhältnisse weltweit zu überwinden, indem ‚andere‘ Formen des Wissens, Wirtschaftens und Zusammenlebens angestrebt werden. Dekoloniale Theorien haben einen normativen Anspruch und operieren in der Nähe emanzipatorischer und transformatischer Praxis.“ (S. 10f.)

Zeitlich entstehen dekoloniale Theorien somit ein wenig nach postkolonialen Theorien sowie mit einem spezifischen geografischen Fokus auf Lateinamerika, wohingegen eine Vielzahl an postkolonialen Theorien gerade in Bezug auf den britischen Imperialismus entstanden (S. 14). Es ging und geht somit darum die Spezifika kolonialer Entwicklungen im lateinamerikanischen Raum zu beleuchten, wobei postkoloniale Theorien nichtsdestotrotz einen Anstoß gaben, wie die Latin American Subaltern Studies Group zeigt (S. 38ff.); aus deren Mitglieder sich auch teils die Gruppe Modernidad/Colonialidad formierte, die als Versuch einer Institutionalisierung dekolonialer Zugänge zu verstehen ist (S. 85ff.). Diese unterstrich, dass die Kolonialität der Moderne mit der Eroberung Amerikas 1492 begann und nicht erst im 17. Jahrhundert (S. 15). Postkoloniale Theorien fungierten somit auch als Ideengeberinnen. Sie stehen in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zu dekolonialen Theorien, womit sich der Übergang von post- zu dekolonial nicht immer als exakt trennscharf erweist (S. 26) und die Abgrenzungsdebatte zwischen post- und dekolonialen Theorien anhält (S.152ff.). Allerdings wird mit einer dekolonialen Brille der Blick mehr auf eine Überwindungsperspektive und stärkere Abgrenzung von kolonialen Einflüssen verschoben. Postkolonialen Theorien wird demnach eine zu starke Nähe zu westlichen Konzepten und Autor:innen vorgeworfen, beispielsweise zum französischen Poststrukturalismus (Derrida, Foucault u.a.) (S. 15). Mit diesem Instrumentarium erfolgt zwar eine Kritik und Auseinandersetzung mit Kolonialität, aber es wird keine radikalere Überwindung dieser möglich, die durch eine intensivere Beschäftigung mit Wissensregimen jenseits westlichen Denkens eröffnet wird. Hinzu kommt der Vorwurf der Reproduktion von einer Zentrumslogik postkolonialer Theorien, da diese den lateinamerikanischen Raum als Denk- und Theoriereservoir nicht beachten oder gar vorschnell unter den Schirm der postkolonialen Theorien subsumieren (S. 16).

Schließlich weisen die dekolonialen Theorien nicht nur eine Nähe zu postkolonialen Theorien auf, sondern auch zu Settler Colonial Studies oder zum Abolitionismus (S. 158ff.). Die Berührungspunkte und Verzweigungen der dekolonialen Theorien sind somit multipel. Dadurch lassen sie sich ebenfalls ins heterogene Feld der kritischen Theorien mit kleinem k einsortieren, da sie sich als sozialkritische Theorien mit normativem Anspruch verstehen lassen, die starke Verbindungen zu emanzipatorischen und transformativen Praxen haben (S.11).

(Begriffe der) Politik und (des) Politisches dekolonisieren

Aus dekolonialer Perspektive lässt sich ein selbstkritischer Blick auf Bezeichnungspraxen vornehmen und auf die Grenzen westlicher Begriffe aufmerksam machen wie Staat oder Nation (S. 109). Aber auch im Begriff „Lateinamerika“ steckt bereits eine Kolonialität, da er sprachlich Bezug nimmt auf Ursprünge des Spanischen und Portugiesischen im Lateinischen und dabei die Mehrsprachigkeit Lateinamerikas außer Acht lässt. Eine Alternative dazu böte die indigene Selbstbezeichnung der Amerikas „Abya Yala“ (S. 104), die bereits 2021 im Titel eines Sammelbandes zu dekolonialem Feminismus vorkommt. Insofern können uns dekoloniale Theorien einen Spiegel vorhalten in Bezug auf Begrifflichkeiten und Bezeichnungsweisen.

Die Wichtigkeit der politischen Praxis und des Handelns, verbunden mit Transformation und Emanzipation bleibt in dekolonialen Theorien ebenfalls nicht unbeachtet. So entwirft Enrique Dussel eine „Philosophie der Befreiung“ (S. 57ff.) und zeichnet in seinen 20 Thesen zur Politik ein Spannungsverhältnis zwischen politischer Macht der Gemeinschaft als potentia und der institutionellen Macht potestas (S. 67). In diesem Spannungsverhältnis entwickelt die hyperpotentia ein Transformationspotential, welches durch die vom institutionellen System Ausgeschlossenen potenziert wird (S. 68). Im dekolonialen Sinne wird hier über Emanzipationspotentiale theoretisiert. Damit lässt sich in anderer Art und Weise über Staatlichkeit, aber auch über Institutionalität nachdenken; Konzepte, die zentrale Bestandteile der Politischen Theorie sind.

Die Frage nach der Episteme, verbunden mit einem Nachdenken, wer als wissendes und auch als politisches Subjekt erscheint, kann durch vielfältige indigene Perspektiven ebenfalls aus einem dekolonialen Blickwinkel heraus kritisiert werden; wobei eine Vielfalt von Wissenssystemen und unterschiedlichsten Subjektivierungsweisen entsteht, wie beispielsweise Catherine Walsh zeigt (S. 103ff.). Allerdings weisen die Autoren der Einführung explizit darauf hin, dass dabei keine Essentialisierungen oder Romantisierungen von indigen Vorstellungen vorgenommen werden sollten (S. 95, 103). Dementsprechend sollten diese Perspektiven nicht einfach unkritisch übernommen werden, da nicht alle nicht-westlichen Epistemologien per se gut sind (S. 183).

Koloniale Trennungsarbeiten dekolonisieren

Wie Gundula Ludwig bereits vor einiger Zeit in einem Beitrag herausstellte, besteht westlich-koloniales Denken oft aus einer Trennungsarbeit, die mit einer Binarität und Hierarchisierung einhergeht. So beispielsweise in Bezug auf die Trennung von Mensch und Natur, Wir und Andere oder Frau und Mann. Aus dekolonialer Perspektive geht es nun darum, diese Trennungen zu kritisieren, aufzuweichen und anders zu denken.

So gibt es im indigenen Gesellschaftssystem des Bien Vivir/Vivir Bien, welches im Andenraum zu finden ist, keine klare Trennung zwischen Mensch und Natur (S. 109ff.). Es wird gerade auf die Relation, Verwebung und Bedingtheit von beidem verwiesen, sodass eine Trennung unmöglich ist (S. 112). Im Zentrum steht somit nicht der Mensch, der die Natur beherrscht, sondern dieser ist Teil der Natur und mit der Natur.

Sodann kann in dekolonialer Perspektive darauf hingewiesen werden, dass es keine klare Trennung von indigenen Epistemologien und modernen Projekten geben kann, da diese miteinander verbunden sind (S. 178). Es bestehen Gleichzeitigkeiten sowie Überschneidungen (S. 120). Dies geht ebenfalls gegen Essentialisierungen und Exotisierungen vor, die all zu leicht in einer Trennung von „wir“ zu „anderen“ erfolgen.

Schließlich gilt es aus dekolonialem Denken heraus ebenfalls die vergeschlechtlichte Trennung von Mann und Frau anzufechten. Für Maria Lugones oder auch Rita Segato stellt diese Binarität eine koloniale Konstruktion dar. So spricht Lugones von der „Kolonialität von Geschlecht“ (S. 121) und Segato differenziert zwischen vorkolonialer Gemeinschaftswelt (mundo-aldea) und eurozentrischer Staatenwelt (mundo-estado), wobei letztere durch Binaritäten organisiert ist (S. 128). Dagegen setzt sie ein fluides Geschlechterverständnis, welches sich beständig ändert und in enger Beziehung zur Natur steht (S. 134). Der Fokus von feministischen dekolonialen Theorien liegt damit ebenfalls stärker auf intersektionalen Perspektiven und der Verzahnung von gender, class und race, womit sie auf dekoloniale Autor:innen und Begriffe wie raza von Quijano Bezug nehmen, diese aber dezidiert kritisieren und weiterentwickeln (S.124, 121ff.).

Damit steht in dekolonialen Theorien stärker eine Relationalität sowie ein Denken an den Rändern im Vordergrund. Dieses fordert Ansprüche auf Universalität sowie Ausschließungen heraus, die in kolonialer Trennungsarbeit zu finden sind. Westliches Denken wird so zum Teil einer pluriversalen und nicht mehr universalen Welt (S. 93). Entgrenzungen und Ausschlüsse finden sich dabei in Konzepten des „border thinking“ von Mignolo (S. 94), aber auch in Gloria Anzaldúas „Borderlands“ wieder (S. 37).

Dekoloniale Demokratie? Demokratie dekolonisieren

Demokratie wird aus einer dekolonialen Perspektive als Exportgut des Westens verstanden, welches zusammen mit dem Kolonialismus sowie dem Kapitalismus in Lateinamerika etabliert wurde (S. 101). Breny Mendoza spricht deswegen auch von der „Kolonialität der Demokratie“ (S. 99), um das hegemoniale Verständnis der Demokratie des Westens und den Import zu unterstreichen. Dieses westliche Konzept ist dabei nicht nur an eine Nationalstaatlichkeit gebunden, sondern wird als Herrschafts- und Regierungssystem verstanden mit bestimmten Merkmalen wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Wahlen. Durch das hegemoniale Verständnis geraten allerdings andere Formen über die Demokratie nachzudenken aus dem Blick, wie beispielsweise Ina Kerner dies bereits in Bezug auf die Haudenosaunee verdeutlicht hat (S. 99).

So kann auch die communalidad, die im Süden Mexikos zu finden ist, westliche Demokratievorstellungen herausfordern. Diese stellt eine Ordnung jenseits staatlicher Logiken dar, die sich durch eine eigene Administration sowie regelmäßigen Versammlungen auszeichnet und insbesondere im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca praktiziert wird. Sie wird als „gelebte Ordnung“ verstanden, die sich durch Reziprozität und gemeinnützige Arbeit (tequio) auszeichnet (S. 117f.). Eigentum ist kollektiv und nicht individuell organisiert (S. 118). Sie eröffnet somit andere Weisen über Beteiligungs- und Eigentumsvorstellungen nachzudenken, die sich jenseits westlicher Demokratie befinden und damit den Begriff der Demokratie verschieben und pluraler machen können.

Fazit

Eine so kurze Einführung bleibt notwendigerweise an der Oberfläche; gerade wenn ein so großes, komplexes und heterogenes Forschungsfeld beschrieben wird. Was bleibt, ist allerdings ein kurzer Einblick, von dem aus weitergearbeitet werden kann.

So schreiben die Autoren am Ende: „Für die Zukunft ist eine Weiterentwicklung der dekolonialen Theorien in Richtung von polyzentrischen, pluriversalen und nicht-essenzialistischen Perspektiven zu erhoffen“ (S. 186). Diese Hoffnung ließe sich wohl ergänzen durch den Zusatz, dass zukünftig ebenfalls die Politische Theorie in einen selbstkritischen Austausch mit diesen Ansätzen tritt; sei es in Hinblick auf beforschte Inhalte, die hier teils angerissen wurden, oder auf Methodiken des Arbeitens. Die nun erschienene Einführung bei Junius kann wohl als ein erster Orientierung gebender Field Guide in diesem noch nicht ganz beackerten Terrain verstanden werden, der neue Perspektiven eröffnet.

 

Ragna Verhoeven ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS) und assoziiertes Mitglied des Graduiertenkollegs „Geschlecht als Erfahrung“ an der Universität Bielefeld sowie am Laboratoire des Théories du Politique in Paris. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Konflikt und Verbindendem in Radikalen Demokratietheorien.


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