theorieblog.de | Ist Hannah Arendt eine überzeugte Demokratin? Eine Replik auf Tobias Albrecht
29. Oktober 2025, Jörke
Ich danke der Theorieblog-Redaktion für die Auswahl meines Beitrages und ganz besonders Tobias Albrecht für seine anregend-wohlwollende Auseinandersetzung mit meinem kleinen Text über Motive der Demokratiekritik bei Nietzsche und Arendt. Bevor ich mich mit Albrechts klugen Einwänden beschäftige, möchte ich mit einer kurzen Vorbemerkung über die Arendt-Rezeption in Deutschland starten. Sie soll zeigen, dass hierzulande eine „Verklärung und Glorifizierung“ (S. 467) Arendts erfolgt, die den Blick auf ihr tatsächliches politisches Denken immer mehr verstellt.
Arendt ist in der Bundesrepublik beliebt wie keine andere politische Theoretikerin. Und das offensichtlich nicht nur beim Lesepublikum, wovon die Anzahl der Veröffentlichungen über sie und die Auslagen in den Buchhandlungen zeugen, sondern auch bei den Angehörigen der politischen Klasse. Von Winfried Kretschmann, der jüngst ein Buch über die politische Denkerin vorlegte, bis Markus Söder, der eine Büste von Arendt neben Franz-Josef Strauß in der bayerischen Walhalla aufstellen lassen möchte, reicht die Phalanx ihrer Fans. Davon zeugt nicht zuletzt auch Arendts Rolle im deutschen Bundestag: Nach Max Weber, der mit den „harten Brettern“ und dem Konzept der „Verantwortungsethik“ zwei rhetorische Evergreens verfasste, zählt Arendt noch vor Jürgen Habermas und Carl Schmitt zu den am häufigsten im Parlament zitierten politischen Theoretikerinnen. Zu bezweifeln ist indes, dass diejenigen, die Arendt dort so emphatisch erwähnen, auch ihrer Kritik der Parteiendemokratie zustimmen würden; eine Kritik, die sich nicht davor scheut, das Prinzip der allgemeinen Wahlen zu hinterfragen und stattdessen mit dem Rätesystem für eine „im wahrsten Sinne des Wortes ‚aristokratische‘ Staatsform“ (S. 417) zu plädieren.
Der Schwerpunkt der ZPTh hat mir nun die Gelegenheit geboten, diesen demokratiekritischen Motiven in Arendts-Werk, die bei den „Arendt-Verstehern“, um einen Ausdruck aus der von Harald Bluhm und Grit Straßenberger verfassten Einleitung zum Schwerpunkt der ZPTh zu verwenden, zumeist unter den Tisch fallen, nachzugehen. Dabei habe ich auf eine Reihe von Parallelen zwischen Nietzsches Demokratie- und Kulturkritik und demokratiekritischen Formulierungen von Arendt hingewiesen. Und auch wenn viele dieser Formulierungen „zeitgenössischen polemischen Kontexten“ (S. 13) entstammen, so denke ich doch, dass sie insgesamt die demokratiekritische Stoßrichtung von Arendts Werk verdeutlichen.
Tobias Albrecht scheint nun die Existenz demokratiekritischer oder vielleicht auch nur demokratieskeptischer Passagen sowie den „zuweilen ziemlich elitistische(n) Tonfall“ bei Arendt gar nicht in Abrede stellen zu wollen. In vielen Punkten stimmt er meiner Kritik sogar zu: Bei Arendt fänden sich tatsächlich zahlreiche solcher Formulierungen und im Sinne von Sheldon Wolins Demokratieverständnis einer „Stärkung der Schwachen“, dem ich mich anschließe, lasse sich Arendt tatsächlich kaum als Demokratin bezeichnen. Und das ist „tatsächlich ein Problem“, wie Albrecht am Ende resümiert.
Wenn in diesem zentralen Punkt jedoch Einigkeit herrscht, worin besteht dann überhaupt die Differenz zwischen Albrechts und meiner Deutung? Wenn ich recht sehe, liegt der Unterschied vornehmlich in der theoriepolitischen Beurteilung von Arendts „vermeintliche(r) Demokratieskepsis“. Diese sei, entgegen meiner Lesart, als eine Kritik an denjenigen Verhältnissen zu deuten, die die „Möglichkeit politischer Beteiligung für breite Teile der Gesellschaft systematisch verhindern“. Ich stimme Albrecht dahingehend zu, dass Arendt keine Affirmation der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse betreibt. Auch möchte ich zugestehen, dass sich ihre Kritik gleichfalls auf die moderne Klassengesellschaft, insofern diese Arendt zufolge ja bereits von einem Verlust der Öffentlichkeit und einem Vordringen „gesellschaftlicher“ Imperative gekennzeichnet ist, bezieht. Inwieweit Arendt „melancholisch“ auf die Klassengesellschaft zurückblickt, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Wie so oft bei ihr sind die Formulierungen mehrdeutig. Unzweifelhaft behauptet sie jedoch einen starken Zusammenhang von sozialen Hierarchien und „demokratische(n) Freiheiten“ (S. 671): Mit dem Zusammenbruch der Klassengesellschaft könnten die demokratischen Institutionen und Freiheiten „nicht funktionieren“ (ebd.). Soziale Differenzen gelten hier als demokratische Funktionsbedingung.
Folgt man nun Albrechts Rettungsversuch gegen meine Deutung Arendts als „republikanische Melancholikerin“, so müsste sich bei ihr jedoch auch eine Perspektive finden lassen, die eine Restauration demokratischer Freiheiten auch jenseits der Klassengesellschaft ermöglicht. Eine solche Perspektive kann ich jedoch nicht erkennen. Ursächlich dafür ist vorwiegend „ihre strikte Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen“ (S. 315). Nicht nur bleibt, wie Grit Straßenberger in ihrer sehr lesenswerten Arendt-Biografie noch einmal festgehalten hat, unklar, „was genuin politische im Gegensatz zu ‚bloß‘ sozialen Fragen“ (ebd.) überhaupt sein sollen; mit ihrer Weigerung, die sozialen Fragen politisch zu behandeln, verbaut sich Arendt zugleich jede Perspektive auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Auch Albrecht scheint sich dieser Diagnose am Ende seines Beitrages anzuschließen. Von den ideenpolitischen Problemen, die daraus resultieren, zeugt m.E. nicht zuletzt ihre als gescheitert anzusehende Auseinandersetzung mit Karl Marx, wie sie im sechsten Band der Kritischen Gesamtausgabe dokumentiert ist. Sollte man also nicht zugestehen, dass Arendt nicht wirklich einen Weg der Überwindung der kapitalistischen Massengesellschaft – oder zutreffender, wenn auch nicht im Arendtschen Sinn, Klassengesellschaft – weist? Ich kann eine derartige Perspektive in Arendts Werk jedenfalls nicht erkennen und auch Albrecht bietet auf diese entscheidende Frage keine Antwort. Arendt indessen bleibt sich treu, wenn sie am Ende ihres Revolutionsbuches von einer „im wahrsten Sinne des Wortes ‚aristokratischen‘ Staatsform“ (S. 417, ähnlich auch WiP: 240) träumt, in der eine selbstselektierte Elite die politischen Geschicke bestimmt.
Gegen Ende seines Beitrages fragt Albrecht, worin eigentlich mein „grundsätzliches demokratietheoretisches Bedenken gegenüber einem System der Checks and Balances besteht“. Dazu abschließend noch eine kurze Erläuterung: Eines der Hauptprobleme der Rezeption von Arendt sehe ich in der Vermengung von republikanischen und demokratischen Ordnungsmodellen (zum Unterschied vgl. Krause/Jörke 2023). Das liegt jedoch weniger an Arendt selbst, die zwischen beiden Modellen und den damit verbunden institutionellen Ordnungen ziemlich deutlich trennt (S. 670f.) – an einer Stelle bezeichnet sie die Staatsformen Republik und Demokratie gar als Gegensätze (S. 437) – sondern vielmehr an ihrer gegenwärtigen Rezeption.
Arendt deutet die Amerikanische Revolution als eine republikanische Gründung der Freiheit, (S. 213) und gerade nicht als eine demokratische Errungenschaft. In diesem Sinne ist auch ihr Lob derjenigen Institutionen, die den Mehrheitswillen bändigen sollen, nämlich Senat und Oberster Gerichtshof, zu verstehen. Dabei handelt es sich um republikanische, nicht um demokratische Einrichtungen. Das von ihr angepriesene System der „Checks and Balances“ steht stärker in der alten republikanischen Tradition der Mischverfassung, als dass es sich dabei um eine strikte Form demokratischer Gewaltenteilung, wie das Ideal der Volkssouveränität es erfordert, handelt. So ist denn auch die von Arendt gepriesene US-amerikanische Unionsverfassung von dezidierten Gegnern der Demokratie entworfen worden.
Ingeborg Maus hat darauf hingewiesen, dass die „überwiegende Favorisierung der Montesquieuschen gewaltenverschränkenden Souveränitätsteilung“, wie sie nahezu idealtypisch in der US-amerikanischen Verfassung von 1787 verwirklicht worden ist, und die von Arendt so gelobt wird, die andere Seite der „Zerstörung der Volkssouveränität“(S. 349) darstellt. Diese besteht nun gerade in der Errichtung von immer neuen Hürden zur Verhinderung einer vermeintlichen „Mehrheitstyrannei“, wie sie sich auch heutzutage weiter beobachten lässt (S. 221-237). Arendt schließt sich ganz explizit dem Bestreben der US-amerikanischen Gründungsväter an, den Mehrheitswillen zu filtern, da sie die „Demokratie lediglich für eine Abart des Despotismus“ (S. 337) hielten. Für Arendt gilt ganz in diesem Sinne, dass sich republikanische Freiheiten und eine Demokratie im Sinne der Volkssouveränität ausschließen. Ihre Positionierung ist eindeutig und das sollten wir auch bei aller Faszination zur Kenntnis nehmen.
Dirk Jörke ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Darmstadt.
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