Vor Kurzem ist die neue Ausgabe der Zeitschrift für Politische Theorie erschienen! Das von Grit Straßenberger und Harald Bluhm herausgegebene „Jubiläumsheft zum 50. Todestag von Hannah Arendt: Nietzsche im politischen Denken von Arendt“ versammelt eine ganze Reihe an Beiträgen rund um Arendts Auseinandersetzungen mit Nietzsche: Reinhard Mehring untersucht Arendts Bezüge auf Nietzsche vor dem Hintergrund der Nietzsche-Rezeption von Karl Jaspers, und Marcus Llanque beleuchtet in seinem Artikel Arendts Perspektive auf Nietzsche „mit und gegen Martin Heidegger“. Hans-Peter Müller liest Nietzsches und Arendts Konzepte der Massengesellschaft mit Simmel und Weber. An der Umgangsweise mit dem Traditionsbruch zeigt Jürgen Förster grundlegende Gegensätze im politischen Denken von Arendt und Nietzsche auf, und Matthias Bohlender diskutiert in seinem Beitrag das Verhältnis von Freiheit, Befreiung und Herrschaft bei Nietzsche und Arendt. Dass Judith N. Shklars kritische Auseinandersetzung mit Arendt maßgeblich von ihrem Blick auf Nietzsche geprägt ist, zeigt schließlich Rieke Trimcev in ihrem Beitrag zum Themenschwerpunkt.
Neben diesen Beiträgen zum Schwerpunkt enthält das Heft außerdem noch eine Abhandlung von Lucas von Ramin zum Thema Ostdeutschland und dem Streit um Identitätspolitik sowie ein Interview von Manuel Kautz mit Christina Lafont und Nadia Urbinati über ihre Kritik an lottokratischen Demokratietheorien. Zudem beschäftigt sich Wilfried Heise unter der Rubrik „Wiedergelesen“ mit Helmuth Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“. Das Heft schließt mit einem Nachruf auf Ingeborg Maus von Oliver Eberl.
Dirk Jörkes Aufsatz zu Nietzscheanischen Argumentationsfiguren in der Demokratiekritik Arendts gehört ebenfalls zum aktuellen ZPTh-Themenschwerpunkt. Wir freuen uns, dass wir ihn im Rahmen unserer bewährten Zusammenarbeit mit der ZPTh kostenlos zum Download zur Verfügung stellen können – und dass unser Redaktionsmitglied Tobias Albrecht die ZPTh-Debatte auf dem Theorieblog mit seinem Kommentar eröffnet. Dirk Jörke wird später in Form einer Replik darauf antworten. Los geht’s heute mit dem Kommentar von Tobias Albrecht:
Keine Demokratie- sondern Gesellschaftskritik. Kommentar zu Dirk Jörkes ZPTh-Artikel „Nietzscheanische Argumentationsfiguren in der Demokratiekritik Arendts“
In seinem Beitrag zum aktuellen ZPTh-Schwerpunktheft arbeitet Dirk Jörke einige „Parallelen“ (S. 49) zwischen Nietzsches und Arendts jeweiligen Demokratiekritiken heraus. Obwohl er redlicherweise eingesteht, dass sein Beitrag die Frage, ob Arendts „skeptisch bis ablehnende Haltung […] gegenüber der modernen Massendemokratie“ wirklich „auf einen direkten Einfluss von Nietzsche“ (S. 53, Hervorh. T.A.) zurückgeht, nicht abschließend beantworten könne, gelingt es ihm plausibel zu machen, dass es zwischen den Argumentationsfiguren der beiden einige nicht ganz leicht von der Hand zu weisende Ähnlichkeiten gibt, wodurch Arendt für ihn zu einer – für die moderne Demokratietheorie quasi unbrauchbaren – „aristokratische[n] Melancholikerin“ (S. 58) wird.
Mein Kommentar geht davon aus, dass Jörke zwar vollkommen Recht hat, dass sich viele ‚demokratiekritische‘ Motive Nietzsches auch bei Arendt wiederfinden lassen. Er geht jedoch etwas zu schnell darüber hinweg, dass Arendt diese zumeist aus einer anderen Motivation heraus anführt. Viele der Begriffe, die Nietzsche anbringt, um die Demokratie zu kritisieren, weil er die Massen tatsächlich für unfähig hält, sich selbst zu regieren, verwendet Arendt, um diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren, die eine Beteiligung an ebendieser Selbstregierung für die meisten Menschen verhindern.
Ähnliche Motive…
Jörke arbeitet zunächst vier solcher Motive bei Nietzsche heraus (S. 50-53), von denen er glaubt, dass sie sich auch bei Arendt ausfindig machen lassen: Erstens lehne Nietzsche die Vorstellung sozialer Gleichheit ab und gehe stattdessen von einer „fundamentale[n] Spaltung der Gesellschaft in jene Viele, die für die materielle Reproduktion sorgen, und die Wenigen, die zu höherem bestimmt sind“ (S. 51), aus. Eng damit verbunden, finde sich bei ihm zweitens „eine aristokratisch motivierte Kritik an der Massenkultur“ (S. 52). Drittens sei Nietzsche Kritiker des allgemeinen (Männer)Wahlrechts sowie – viertens – Gegner des Parteiensystems und des Parlamentarismus.
Die Diagnose, dass sich all diese Topoi, wenn auch „moderater“ (S. 49), bei Arendt tatsächlich wiederfinden lassen, scheint mir korrekt. Jörke zeigt das im längeren zweiten Teil seines Textes anhand zahlreicher Textstellen dezidiert auf (vgl. S. 53-58). Er denkt sich die Belege für seine These nicht aus, und ich bin sicher: Würde man sich die Mühe machen, weiter danach zu suchen, würde man auch noch weitere finden. Allerdings unterschlägt Jörkes Parallellesung meinem Dafürhalten nach ein wenig den Umstand, dass diese Motive bei Arendt (zumindest meistens) eine andere theoriestrategische Funktion haben.
So sind die Stellen, die er als Belege dafür anführt, dass Arendt ebenfalls von „einer grundlegenden Spaltung von zwei Klassen von Menschen“ (S. 53) ausgeht – in ihrer Auslegung einer Spaltung „zwischen einer aristokratischen Klasse der politisch Handelnden und den Vielen, die das nicht tun“ (S. 54) –, weder als Plädoyer für die normative Vorzugswürdigkeit einer solchen Gesellschaftsordnung zu verstehen, noch geht Arendt davon aus, dass manche (oder gar die meisten) Menschen tatsächlich grundsätzlich nicht zum politischen Handeln befähigt wären. Vielmehr versucht sie sich hier an einer Kritik derjenigen gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Möglichkeit politischer Beteiligung für breite Teile der Gesellschaft systematisch verhindern. Der zuweilen tatsächlich ziemlich elitistische Tonfall, in dem Arendt ihre Kritik vorträgt, ist zweifellos zu kritisieren. Sich jedoch, wie Jörke, so sehr darauf zu versteifen, läuft Gefahr, diese kritische Schlagrichtung geradezu zu übersehen. Denn das, was er als Ressentiment gegenüber der Unfähigkeit der Menschen zum politischen Handeln deutet, ist eigentlich eine Kritik an denjenigen gesellschaftlichen Strukturen, die genuines politisches Handeln für die meisten Menschen verstellen. Arendts vermeintliche Demokratieskepsis ist also eigentlich eine Gesellschaftskritik.
…andere Funktion
Das lässt sich sehr gut anhand von Arendts Rekurs auf den „Massendiskurs“ zeigen, dem Jörke grundsätzlich zurecht einen snobistischen Impetus vorwirft. Bei Arendt hat die Bezugnahme auf den Begriff der Masse aber keineswegs die „diskriminierende Funktion […] bestimmte Teile der Bevölkerung […] von der politischen und kulturellen Arena auszugrenzen“ (S. 56). Ganz im Gegenteil: Sie ist Teil des Versuches, zu verstehen, wie genau eine ebensolche – bereits vollzogene – Ausgrenzung aus der politischen und kulturellen Arena (Arendt spricht auch von „Atomisierung“) bei Millionen von Menschen zu einem Gefühl der Verlassenheit geführt hat, sodass sie für das ‚Integrationsangebot‘, das totalitäre Bewegungen bieten, ansprechbar geworden sind.
Damit hat Jörke zwar Recht, dass es Arendt also um die Frage geht, wie es „Demagogen“ gelungen ist, breite Teile der Bevölkerung zu „verführen“ (S. 56). Aber ihre Antwort auf diese Frage besteht keinesfalls in der Behauptung, die Massen seien eben „dumm und zu einer vernünftigen politischen Urteilsbildung nicht in der Lage“ (S. 56) – das „Hauptmerkmal der Individuen in einer Massengesellschaft ist“, wie es in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft ganz explizit dazu heißt gerade „nicht Brutalität oder Dummheit oder Unbildung“ (S. 682, Hervorh. T.A.). Arendt interessiert sich vielmehr für diejenigen langfristigen gesellschaftlichen Transformationsprozesse, die zu so extremen Formen der „Kontaktlosigkeit und Entwurzelung“ (ebd.) geführt haben, dass daraus ein Gefühl des Überflüssigseins als weitverbreitete „sozialpsychologische Haltung“ entstehen konnte.
Zu diesen strukturellen Faktoren gehören für Arendt hauptsächlich die immense Bevölkerungszunahme seit Beginn der Industrialisierung und eine durch Strukturveränderungen des Kapitalismus erzeugte Massenarbeitslosigkeit sowie weitere – teilweise in Wechselwirkung miteinander stehende – politische und gesellschaftliche Desintegrationsprozesse, die bei den Betroffenen ein Gefühl der „Selbstlosigkeit“, verstanden „als Gefühl, dass es auf einen selbst nicht ankommt“, hervorgerufen und schließlich zu völliger Desinteressiertheit (zunächst an Politik und schließlich sogar dem eigenen Wohlergehen) geführt haben.
Und ja, auch die „Auflösung der Klassengesellschaft“ (S. 55), die Jörke als etwas darstellt, das Arendt bedauert, ist einer der von ihr in diesem Zusammenhang genannten Faktoren. Allerdings nicht, weil Arendt sich melancholisch nach dieser Gesellschaftsformation zurücksehnt, sondern weil ihr in ihrer historischen Analyse eine wichtige Rolle als erklärender Faktor zukommt. Als Indiz dafür, dass sie diese Gesellschaftsformation kaum vorgezogen haben dürfte, könnte schon der Umstand gewertet werden, dass das Problem der zunehmenden Weltlosigkeit und politischen Apathie bereits in der Klassengesellschaft existierte. Wenn wir Arendts Analyse Glauben schenken dürfen, hat die Klassenstruktur diesen Umstand nur noch eine Weile überdecken können, weil sie den Menschen qua ihrer Klassenzugehörigkeit ein Mindestmaß an Strukturen und Zugehörigkeiten geboten und ihnen über das System politischer Repräsentation (von Klasseninteressen) zumindest das Gefühl gegeben hat, an öffentlichen Angelegenheiten beteiligt zu sein. Der Zusammenbruch besagter Klassengesellschaft hat dann eher Öl ins Feuer einer Entwicklung gegossen, die bereits vor ihm begonnen hatte (und sich vermutlich auch ohne ihn fortgesetzt hätte). Dass Arendt schon gar nicht „‚egalitäre Verhältnisse‘” selbst direkt „für die Entstehung der Massengesellschaft verantwortlich macht“ (S. 55, Hervor. T.A.) lässt sich übrigens gut am ‚Gegenbeispiel‘ der USA zeigen, auf das sich auch Jörke bezieht. An einer Stelle in den Elementen, die der von ihm aus dem Aufsatz „Europa und Amerika“ zitierten sehr ähnelt, mahnt Arendt mit Nachdruck an, dass gerade das Beispiel der USA zeige, „dass Uniformierung der Bildung und der Lebensumstände nicht notwendigerweise zu einer Vermassung der Gesellschaft führt“ (S. 681, Hervorh. T.A.).
Was ich hier für Arendts Rede von der Massengesellschaft zumindest andeutungsweise einmal durchexerziert habe, ließe sich auch für ihre Analyse der zeitgenössischen Arbeitsgesellschaft nach 1945 zeigen. Auch hier gilt: Wenn Arendt „mit Blick auf jene Vielen, die in der modernen Gesellschaft für die Reproduktion des Lebens zuständig sind, keine Perspektive auf die Erhebung zum politischen Handeln sieht“ (S. 54), dann nicht, weil sie „den Menschen in der ‚Arbeitsgesellschaft‘, die zum politischen Handeln nötigen Fähigkeiten schlichtweg abspricht“ (ebd.). Es ist vielmehr so, dass sie an einer Kritik der strukturellen – wie Jörke in seinem Abstract in einer verräterischen Formulierung richtigerweise schreibt – „Verunmöglichung politischen Handelns in der ‚Arbeitsgesellschaft‘“ (S. 49, Hervorh. T. A.) interessiert ist. So ist ihre Kritik an einem „vorwiegend dem Konsum gewidmeten Lebensstil“ (S. 57) zumindest nicht ausschließlich „bildungsbürgerlich-aristokratischer Dünkel gegenüber Prozessen kultureller Demokratisierung“ (S. 52) und definitiv kein Vorwurf an den Einzelnen, der vielleicht (wie der Autor dieses Textes) gerne konsumiert. Vielmehr ist es Kritik an einer dem Kapitalismus inhärenten Steigerungslogik, die diesen Lebensstil als den einzig wahren propagiert. Und wenn Arendt bemängelt, das Repräsentativsystem habe sich „in eine Art Oligarchie verwandelt“ (von Jörke zitiert, S. 57) und Kritik an „Reklametechniken“ der Parteien übt, dann richtet sich der Vorwurf auch hier nicht in erster Linie gegen „die Wähler als einem manipulierbaren Haufen“ (S. 57), sondern er ist mindestens auch, wenn nicht vor allem, eine Kritik an der mangelnden Durchlässigkeit und Responsivität politischer Institutionen, die eine aktive politische Teilhabe kaum noch ermöglichen.
Wo Jörke Recht behält oder: Lassen sich gesellschaftliche Verhältnisse verändern?
Jörke führt darüber hinaus noch weitere Belege für Arendts Demokratieskepsis an, auf die ich bisher nicht eingegangen bin. Dazu zählt ihre besondere Wertschätzung der amerikanischen Verfassung, die sie insbesondere für ihre Fähigkeit der „Filterung“ (S. 56) des Volkswillens durch Senat und Obersten Gerichtshof lobt, sowie ihr Vorschlag der Einrichtung eines „Rätesystems“ (S. 54). Auch wenn mir etwas unklar geblieben ist, worin genau Jörkes grundsätzliches demokratietheoretisches Bedenken gegenüber einem System der Checks and Balances besteht, bin ich bereit zuzugestehen, dass diese Vorschläge tatsächlich etwas schief zu Arendts eigener Diagnose stehen. Wenn man mein Interpretationsangebot, dass ihre vermeintliche Demokratieskepsis eigentlich eine Kritik derjenigen gesellschaftlichen Verhältnisse ist, die die Möglichkeit zur (wie auch immer gearteten) ‚echten‘ Demokratie verstellen, für plausibel hält, gilt das sogar in besonderem Maße. Denn statt an den kritisierten gesellschaftlichen Verhältnissen etwas ändern zu wollen, scheint Arendt ihnen mit beiden Vorschlägen lediglich politische Institutionen entgegenstellen zu wollen, um die aus diesen Verhältnissen erwachsenden Pathologien zu kontrollieren.
Dass Arendt diesen maximal ‚zweitbesten‘ Ausweg wählt, ist jedoch kein Zufall, sondern hat vielmehr mit ihrer strikten Trennung zwischen der Sphäre der Gesellschaft und der der Politik zu tun, die Arendt – auch wenn man das in Aachen nicht glauben will – vollkommen ernst meint. Während es der methodische Kniff dieser Trennung ist, der es ihr erlaubt, die scheinbare ‚Naturwüchsigkeit’ des Gesellschaftlichen zu kritisieren, verwehrt sie sich durch die strikte Durchhaltung ebendieser Trennung zugleich die Möglichkeit, an gesellschaftlichen Verhältnissen auf politischem Wege etwas zu ändern.
Und das führt mich abschließend zu einem Punkt, an dem Jörke zuzustimmen ist. Zu Beginn seines Textes definiert er, Sheldon Wolin folgend, Demokratie als „ein Institutionenensemble […], das darauf abzielt, soziale Schwäche in politische Stärke zu transformieren, und zwar mit dem Ziel, die soziale Ungleichheit abzubauen“ (S. 52). Nun könnte man darüber streiten, ob das die einzige oder gar beste Definition von Demokratie ist, die von Hannah Arendt ist es aber definitiv nicht. In diesem Sinne ist sie tatsächlich keine Demokratin. Und das ist tatsächlich ein Problem.
Tobias Albrecht ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Politische Theorie mit dem Schwerpunkt Politik und Religion an der Universität Münster. Er ist seit 2017 Teil der Theorieblog-Redaktion.
insoweit nichts neues:
auch h.a. ist sowenig eine konzept-/theorie-getreue, ‚moderne‘ kerndemokratin wie es auch die quellen ihrer akademik nicht waren/sind und wohl auch ihre correnten rezipient/inn/en kaum als solche gelten dürften. (s.a. jörke u. fichtes geschlossener Handelsstaat).
und so gespannt man sein darf, was j. auf den beitrag antwortet, so gewiss scheint es, dass er aus der umdeutung der melancholischen aristoia/noblesse arendts – die sie mit der gesamten elitären aufklärung von gestern bis heute teilt – über die enttäuschenden „massen“ zu einer kritik an (gesellschaftlichen) verhältnissen, die sich ihrer umgestaltung zum „besten“ (aristos) widersetzen, kaum heraustreten wird, obgleich das nötig wäre:
denn weder können arbeitszeitmodelle u. ä. – auch, aber nicht nur: „kapitalistische“ prägungen, noch produktivitätsfortschritte, noch die verschiedenen modelle von bestenherrschaft/aristokratien etc. oder gar eine generalisierte „wissenschaft(lichkeit)“ von buchstäblich allem u. jedem die ebenso generelle überforderung eines m. o. w. umfassenden (um-) gestaltungsanspruchs auf ein „im besten sinne“ u.ä. hinreichend adressieren.
so fällt auch die exkulpation der massen und h. a.’s durch die falschen verhältnisse, (die ihren zustand eben reproduzieren, sonst wären sie keine „verhältnisse“), letztlich in sich zusammen, denn nirgends in der empirischen geschichte und gegenwart u. auch in keiner plausiblen theorie zeichnet sich ab, dem wunschbild der aufklärung eines souverän über sich und welt/natur herrschaftsfähigen subjektes entsprechen zu können, das die früh-bürger dem ebenso gescheiterten absolutismus präfigurativ entnommen hatten: denn um eine stunde leben so gut wie eben denkbar/wünschbar gestalten zu können, wären selbst dann tausende von stunden der planungen, wägungen und kompromißfindungen nötig, wenn es denn die dazu erforderlichen mittel (von den epistemen bis zu den energien) und die ‚extensionalen‘, also raumzeitlichen voraussetzungen dazu überhaupt je geben könnte.
Hannah Arendt war keine Demokratin, sondern mit Gründen eine Republikanerin. Sie war der Ansicht, dass die Demokratie (hier ist nicht die liberale repräsentative Demokratie gemeint, die sie aber auch nicht schätzte) für sich genommen, die menschliche Pluralität nicht achten und garantieren kann. Es ist kaum zu bestreiten, dass es diese von Jörke zitierten Stellen in ihrem Werk gibt und ich mache mir nicht die Mühe zu überprüfen, ob sie im Kontext eine andere Bedeutung haben. Sicherlich finden sich auch ganz andere Stellen, die keineswegs im Sinne der aristokratischen Massenfeindlichkeit zu deuten sind.
Arendt würde dem Demokratieverständnis Wolins wohl mit einer signifikanten Abwandlung zustimmen: „Demokratie ist ein Institutionenensemble, welches es den Vielen ermöglicht Macht auszuüben und dadurch“ Freiheit zu erleben und somit den Sinn von Politik zu erfahren. „Das Schicksal zu verbessern“ ist schwierig zu beurteilen, vor allem wenn man bedenkt, zu welchem Preis.
Mich würde interessieren, ob es gesellschaftliche Phänomene der Massenbewegungen tatsächlich gibt oder ob sie nur dem Phantasma aristokratischer Intellektueller entspringen. Ist es nicht nachzuvollziehen, dass eine deutsche Jüdin in den 20er und 30er Jahren eine andere Erfahrung mit den „Vielen“, „die ihr Schicksal verbessern wollten“ gemacht hat, als es die schöne Definition von Wolin beschreibt. Die Vielen, die so handeln und reden, als ob sie einer wären, gegen die sich die Stimme des Einzelnen nicht mehr Geltung verschaffen kann. Gibt es das Phänomen des Konformismus, des sozialen Drucks nicht, des gedankenlosen Mitmachens und des sich in der Masse stark fühlens? Ist das alles nur aristokratischer Snobismus und liberale Ideologie? Selbst Nietzsche hat mit dem Ressentimentbegriff einen psychologischen Mechanismus beschrieben, der Gesellschaftsphänomene verstehbar macht, der also nicht nur in aristokratischem Abscheu gründet.
Kurz: ich glaube, man macht es sich zu einfach, wenn man es ausschließlich so deutet und Demokratie als harmlos betrachtet.