Theresa Gerlachs Kommentar zu meinem Aufsatz „Wirtschaftsdemokratie als Einübungspraxis“ gibt mir die Gelegenheit, einige Argumente zu ergänzen und zu präzisieren. Dabei zeige ich, weshalb nicht nur ein demokratisches Ethos, sondern auch ein Gerechtigkeitsethos eine Einübung in demokratischen Praktiken erfordert – eine durchaus überraschende These, die bei Gerlach zu Recht Rückfragen hervorruft. Zudem mache ich geltend, dass die Grundkonstellation des Marktes, also das Verfolgen eigener Interessen inmitten eines allgemeinen Abhängigkeitszusammenhangs, der Ethosbildung nicht entgegensteht. Im Gegenteil: Genau deshalb ist eine anspruchsvolle Ethosbildung so dringlich.
Übereinstimmungen und Divergenzen
Ich schulde Gerlach großen Dank für ihren Kommentar, denn ich fühle mich in meinen zentralen Argumenten verstanden und in wichtigen Anliegen gesehen, was im wissenschaftlichen Austausch keineswegs selbstverständlich ist. Ihre Überlegungen zeichnen sich durch eine wohlwollende und sorgfältige Lektüre meines Aufsatzes aus, ebenso wie durch klar entwickelte und differenzierte kritische Anmerkungen – eine ausgesprochen erfreuliche Einladung zum Weiterdenken.
In vielen zentralen Punkten scheint Gerlach mir zuzustimmen: Das betrifft die grundlegende Perspektive, dass Bildung nicht auf Familie oder Schule beschränkt bleiben darf, sondern vor allem in der ökonomischen Sphäre ansetzen muss, unter anderem aufgrund ihrer lebenspraktischen Dominanz, ihrer Unausweichlichkeit und der großen Dichte ökonomischer Kooperation. Ebenso teilt sie die Auffassung, dass diese Bildung nicht beliebig bleiben kann, sondern auf die habituelle Formierung moralischer Dispositionen im Sinne eines Ethos demokratischer Gerechtigkeit zielen muss, woraus sich letztlich weitreichende institutionelle Konsequenzen ergeben, die auf eine tiefgreifende Demokratisierung der Wirtschaft hinauslaufen. Bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung beschränke ich mich im Folgenden jedoch auf die Diskussion jener Aspekte, bei denen ein partieller Dissens bestehen könnte.
Gerechtigkeit oder Selbstbestimmung?
Gerlach fragt, ob in normativer Hinsicht die Bildung zur demokratischen Gerechtigkeit, für die ich argumentiere, nicht zu eng gefasst sein könnte. Sie plädiert für ein umfassenderes Verständnis: „Wäre ein Ethos demokratischer Selbstbestimmung daher womöglich ein weitergefasstes Bildungsideal, das die Verwirklichungsbedingung demokratischer Gerechtigkeit miteinschließt?“ An diesem Punkt scheinen Gerlach und ich unterschiedliche Auffassungen darüber zu haben, welcher Begriff der umfassendere ist. Ich verstehe die demokratische Gerechtigkeit als den umfassenderen Begriff im Verhältnis zu dem der Selbstbestimmung. Denn Selbstbestimmung schließt nicht notwendig Gerechtigkeit ein: Die Selbstbestimmung einer tyrannischen Mehrheit, die auf schieren Machterhalt zu eigenen Gunsten aus ist, ist nicht gerecht. Aber ein auch nur halbwegs plausibler Begriff der Gerechtigkeit muss zentral an der Selbstbestimmung ansetzen. Daher halte ich Gerechtigkeit nicht für das engere, sondern das normativ weitergehende Bildungsideal als das der Selbstbestimmung.
Praktiken der Einübung in ein Gerechtigkeitsethos
Eine ausführlichere Diskussion wird an jenem Punkt erforderlich, an dem Gerlach das Verhältnis zwischen einem Ethos der Gerechtigkeit und den wirtschaftlichen Praktiken problematisiert, die dieses Ethos stützen sollen. Sie hält die Behauptung, dieses Gerechtigkeitsethos müsse durch demokratische Praktiken eingeübt werden, für nicht ganz einleuchtend. Denn eine Einübung in Wirtschaftsdemokratie mag zwar für ein demokratisches Ethos erforderlich sein, so Gerlach zustimmend, aber es scheint so, dass ein Ethos der Gerechtigkeit gerade eine Einübung in andere, spezifisch gerechtigkeitsförderliche Praktiken erfordern könnte. „Wäre ein Gerechtigkeitsethos“, so fragt Gerlach, „dem Prinzip der Affinität zufolge nicht ergänzend – wenn nicht gar in erster Linie – auf gerechtigkeitsaffine Strukturen und Praktiken angewiesen?“
Es ist interessant zu sehen, dass Gerlach damit eine Erweiterung meines Aufsatzes in eine Richtung vorschlägt, wie ich sie in meinem Buch Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus selbst entwickelt habe. In den über 500 Seiten des Buches konnte ich diesen Überlegungen nachgehen, nicht jedoch in den 25 Seiten des Aufsatzes. Gerlach schlägt vor, dass eine Bildung zur Gerechtigkeit, im Unterschied zu einer Bildung zur Demokratie, zuvörderst Maßnahmen gegen ungerechte Arbeitsverhältnisse braucht. Hier stimme ich vollumfänglich zu. In meinem Buch argumentiere ich, dass ein stabiles umfassendes Gerechtigkeitsethos darauf angewiesen ist, dass in den wirtschaftsinternen Praktiken Ungerechtigkeiten so weit wie möglich vermieden werden, und zwar vor allem die Ungerechtigkeit Ausbeutung (Kuch 2023: Kap. 5.2). Denn Gerechtigkeit und Ausbeutung stehen in einem fundamentalen Gegensatz: Gerechtigkeit bedeutet, schwächere Gesellschaftsmitglieder in ihren Ansprüchen, sofern sie legitim sind, zu unterstützen, während Ausbeutung gerade das gezielte Ausnutzen der Schwächen anderer zum eigenen Vorteil meint. Ausbeutung ist daher Gift für das erforderliche Ethos der Gerechtigkeit. Diese These ist nicht trivial, denn es gibt gerechtigkeitstheoretische Argumente, denen zufolge ein Wirtschaftssystem mit Ausbeutung auf der interpersonalen Ebene akzeptabel ist, sofern die Resultate dieses Systems auf der Makro-Ebene wünschenswert sind (Gilabert 2019). Dem steht selbstverständlich das bildungstheoretische Argument entgegen, dass Ausbeutung in den Alltagspraktiken längerfristig zur Korrosion jenes Ethos führt, das für die Stabilität eines wünschenswerten politischen Systems nötig ist.
Ein indirektes Argument für Wirtschaftsdemokratie als Einübungspraxis
In diesem Kontext legt Gerlach darüber hinaus ein weiteres Argument nahe, das ich ebenfalls teile: dass nämlich eine rein negative Vermeidung von Ausbeutung nicht ausreicht, sondern mehr erforderlich ist. Gerlach formuliert es wie folgt: „Soll die Wirtschaft auch ein Trainingslager der Gerechtigkeit (und nicht nur der Demokratie) sein, ließe sich zudem fragen, ob es besonders gerechtigkeitsaffine Wirtschaftsinstitutionen gibt, in denen Gerechtigkeitstugenden wie Solidarität und Fairness geschult würden?“ Genau in diese Richtung zielt auch die Argumentation in Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus. An dieser Stelle konzentriere ich mich aus Platzgründen auf die Fairness, zur Solidarität ließen sich ähnliche Überlegungen anführen.
Fairness betrifft vor allem die Möglichkeit zur wirtschaftsinternen Ausgestaltung von Unterschieden in den Arbeitseinkommen. Ich argumentiere, dass die Akteure in den wirtschaftlichen Institutionen die verbürgte Möglichkeit haben müssen, die Fairness der Vergütung von unterschiedlichen Tätigkeiten zu thematisieren und mit Gründen zu kritisieren. Das schließt die Möglichkeit mit ein, falls erforderlich unfaire Einkommensverhältnisse zu korrigieren (Kuch 2023: Kap 5.2). Hier stimmen Gerlach und ich also weitgehend überein. Die Pointe meiner Überlegungen besteht jedoch darin, dass diese verbürgte Möglichkeit zur diskursiven Umgestaltung von Fairnessnormen letztlich ihrerseits auf Wirtschaftsdemokratie hinausläuft.
Der Grund hierfür liegt in der konstitutiven Umstrittenheit von Fairnessnormen: Manche werden sich auf die Anstrengung in der eigenen Tätigkeit als Verdienstkriterium berufen, andere auf den Wert ihrer produktiven Beiträge, wieder andere auf den Verzicht auf präferierte Optionen usw. Es gibt keine abgeschlossene Theorie der Fairness, die diese Kriterien in ein eindeutiges Verhältnis bringen könnte. Die Verhältnisbestimmungen müssen die Beteiligten vor Ort selbst leisten, und dies geht nur demokratisch. Zentral ist, dass Fairnessnormen in der Wirtschaft intern verhandelbar, aktualisierbar und umsetzbar gemacht werden, nur so lässt sich auf Seiten der Marktteilnehmer:innen ein Bewusstsein für die Verbindlichkeit von Fairnessnormen wecken und erhalten. In diesem Sinn erfordert also auch die Förderung und der Erhalt eines Gerechtigkeitsethos letztlich doch eine Einübung in wirtschaftsdemokratische Praktiken, auch wenn das Argument hierfür indirekter angelegt ist als im Fall eines demokratischen Ethos.
Interessenverfolgung im allgemeinen Abhängigkeitszusammenhang
Nun gibt es einen zentralen Punkt in Gerlachs Überlegungen, an dem sich ein grundsätzlicherer Dissens entzünden könnte, sofern Gerlach die von ihr dargestellte Position tatsächlich auch teilt, was mir nicht ganz klar ist. Gerlach bezieht sich auf die republikanische Denktradition, die die Wirtschaftssphäre als Arena der Notwendigkeit versteht, eine Sphäre „des Zwangs und der Abhängigkeit“, in der die Subjekte „notwendigerweise ihre privaten Interessen verfolgen“. Als „sozio-moralische Bildungsstätte sei die ökonomische Sphäre daher grundsätzlich ungeeignet“, so gibt Gerlach die republikanische Position wieder. Diese Überlegungen betreffen einen zentralen Punkt, an dem die Traditionslinie von Hegel über Marx bis Honneth dem Republikanismus, wie ihn Gerlach darstellt, fundamental widerspricht.
Wenn Eigeninteresse und äußerliche Notwendigkeit in der von Gerlach beschriebenen Weise gegeneinander stehen, führt das zu inneren Verwerfungen in der Wirtschaft, die letztlich auch die Stabilität der demokratischen Republik untergraben. Dabei hat Gerlach mit ihrer Analyse der Grundkonstellation freien Wirtschaftshandelns in arbeitsteiligen Gesellschaften zunächst durchaus recht: Für die Marktteilnehmer:innen scheint es zunächst, als könnten sie problemlos ihre eigenen Zwecke verfolgen, genau das erlaubt ihnen ja die Institution des Marktes. Zugleich aber zwingt der Markt zur Kooperation: Nur im Rahmen dieses allgemeinen Abhängigkeitszusammenhangs können die Akteure ihre Interessen verfolgen. Doch Eigeninteresse und Allgemeinheit stehen sich hier noch fremd und unversöhnt gegenüber; die weitverzweigte Abhängigkeit erscheint dem bloß eigeninteressierten Subjekt daher als bedrohliche Übermacht – als „eine ungeheure Macht“ (Hegel 1986: § 238Z).
Eine der zentralen Einsichten Hegels besteht darin, dass wir diese geteilte Abhängigkeit als gemeinsamen Wert anerkennen müssen, und zwar bereits in der ökonomischen Sphäre. Wenn die Einzelnen stur ihren eigenen Vorteil verfolgen, während das Allgemeine als fremde, bedrohliche Macht erscheint, hat jeder Marktakteur strukturell den Anreiz, das Allgemeine für eigene Zwecke auszunutzen, um nicht unter die Räder zu geraten – tendenziell rücksichtslos, mit rasch sinkender Bereitschaft zur Rücksichtnahme auf andere. Diese präventive Vorwärtsverteidigung zeigt sich etwa im strategischen Ausnutzen der Schwächen anderer oder im obsessiven Anhäufen von Geld, sofern Geld die allgemeine „gesellschaftliche Macht“ (Marx 1953: 90) repräsentiert; beides verschafft relative Unabhängigkeit inmitten eines übermächtigen Zusammenhangs universeller Abhängigkeit. Solche Haltungen und Strategien sind jedoch nicht nur an sich problematisch und potenziell ungerecht, sie sind auch kaum vereinbar mit jenem Ethos, das die politische Demokratie unterfüttern muss. Es ist nicht plausibel anzunehmen, dass ein normativ anspruchsvolles Ethos republikanischer Demokratie wie auf Knopfdruck aktivierbar ist, wenn Staatsbürger:innen im Alltag darauf trainiert sind, Schwächen rücksichtslos auszunutzen oder stur auf die Vermehrung von Geldmacht zu zielen.
Um diese fundamental instabile Abspaltung des Wirtschaftslebens vom politischen Leben zu überwinden, müssen Menschen bereits im ökonomischen Handeln dazu befähigt werden, mit ihrer geteilten Abhängigkeit umzugehen. Sie brauchen institutionell verbürgte Gelegenheiten, ihre universelle Abhängigkeit nicht bloß als äußeren Zwangszusammenhang zu registrieren, sondern als etwas Wertvolles zu erkennen und anzuerkennen. Ich sehe nicht, wie dies anders gelingen könnte als durch wirtschaftsdemokratische Strukturen und Praktiken. Nur in solchen Foren lässt sich die unvermeidliche Abhängigkeit der Einzelnen voneinander zu einem gemeinsamen Bewusstseinsgegenstand machen, und nur dort können diese Abhängigkeitsverhältnisse auf begründete Weise gestaltet und verändert werden.
Wie zaghaft sind die Transformationsperspektiven?
Damit komme ich zum Ende meiner Replik und schließe mit einer kurzen Verwunderung über Gerlachs Charakterisierung der beiden Varianten von Wirtschaftsdemokratie, die ich unterscheide: Die radikalere Variante zielt auf eine umfassende demokratische Planung der Wirtschaft, sofern der Planungsprozess partizipativ und basisdemokratisch organisiert ist. Die gemäßigtere Variante nennt Gerlach die „zaghaftere“ und „sozialdemokratische“. Diese Einordnung überrascht mich und erscheint mir, gelinde gesagt, irreführend. Denn es geht hier um einen Marktsozialismus, also um ein Wirtschaftssystem, das für sich genommen bereits sehr anspruchsvoll ist, da es kapitalistische Betriebe abschaffen und in kollektives Eigentum überführen will. Schon das reicht weit über das sozialdemokratische Paradigma bloß externer Regulation und nachträglicher Umverteilung hinaus.
Die Pointe meiner Überlegungen ist jedoch, dass selbst diese Transformationsperspektive nicht genügt: Eine Demokratisierung der Wirtschaft muss über die Binnenstruktur der Unternehmen hinausreichen und auch die Wettbewerbsverhältnisse selbst vergesellschaften. Genau darauf zielt mein Verweis auf den „associational socialism“ (Swilling 1992), der die Eigendynamik der Konkurrenz durch eine demokratisierte Landschaft von Verbänden und Vereinigungen gesellschaftlich durchdringen und umgestalten will. Falls diese Perspektive tatsächlich als ‚zaghaft‘ gelten sollte, müssten Gerlachs Ansprüche ausgesprochen radikal sein. Aber mit einem solchen Unterschied in den politischen Haltungen könnte ich gut leben, und er ist mir, offen gestanden, sogar recht sympathisch.
Hannes Kuch ist Privatdozent am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt und derzeit am Aufbau des Instituts für Unternehmensdemokratie beteiligt, ein Thinktank an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Seine Forschung bewegt sich im Spannungsfeld von kritischer Sozialphilosophie, normativer Gerechtigkeitstheorie und politischer Ökonomie.
oohhha!
ich werde versuchen, darauf zurückzukommen!
„ich argumentiere, dass die Akteure in den wirtschaftlichen Institutionen die verbürgte Möglichkeit haben müssen, die Fairness der Vergütung von unterschiedlichen Tätigkeiten zu thematisieren und mit Gründen zu kritisieren. Das schließt die Möglichkeit mit ein, falls erforderlich unfaire Einkommensverhältnisse zu korrigieren (Kuch 2023: Kap 5.2). Hier stimmen Gerlach und ich also weitgehend überein.“
im weinberg-gleichnis des jvn ist aber der „consent“, vertraglichkeit also, das entscheidende, und NICHT „die Fairness der Vergütung“ (wie auch immer gesetzt ? …) und erst recht kommt keine einseitige korrekturmacht EINER vertragspartei in frage bzw. macht schon die einwilligung die vergütung m.o.w. „fair“.
das ist nicht so einfach „hintergehbar“, – jvn’s u. v. a. ähnliche auffassungswelten klopfen selbst hardboiled atheisten usw. nicht so einfach aus den kultur-kleidern …