Es gibt zwei miteinander verwobene Entwicklungslagen, die in diesem Beitrag aufgegriffen und vertieft werden. Beide wurzeln in einem spezifischen Gründungskontext der deutschen Politikwissenschaft nach 1945: Erstens steht die Disziplin in einem Spannungsfeld zwischen ihrem ursprünglich integrativen Selbstverständnis, das durch den pluralen, normativ aufgeladenen Nachkriegskontext geprägt wurde, und einer zunehmenden fachlichen Spezialisierung, die in den empirisch orientierten Teilbereichen ihre Berechtigung hat, in der Politischen Theorie jedoch kritischer reflektiert werden muss. Zweitens läuft die Politische Theorie als ihr Teilgebiet gegenwärtig Gefahr, auf eine bloße Legitimationsinstanz liberal-demokratischer Ordnungen reduziert zu werden. Der Beitrag möchte an eine Politische Theorie erinnern, die ihren integrativen Gründungsanspruch ernst nimmt und mittels eines makrosynthetischen Herangehens das normative und analytische Potenzial des Faches erschließt.
Über das Selbstverständnis des Faches wurde zuletzt 2016/17 ausführlich und mit erheblicher medialer Aufmerksamkeit debattiert; teils skeptisch, teils differenziert und nicht selten defensiv. Vieles dazu ist bereits gesagt; daher konzentriert sich dieser Beitrag nicht auf das Fach insgesamt, sondern versteht sich explizit als Kommentar zum aktuellen Stand der Politischen Theorie; ein Thema zu dem auch nicht wenig gesagt worden ist, aber gerade wegen der nach wie vor bestehenden Unklarheiten im Selbstverständnis dieses Teilgebiets bleiben hier einige Punkte weiterhin diskussionswürdig.
Als die deutsche Politikwissenschaft nach 1945 Gestalt annahm, wurde sie zunächst von einem integrativen Anspruch geprägt – eine Prägung, die sich deutlich von der heute verbreiteten fachlichen Ausdifferenzierung in den Instituten unterscheidet: Die ersten Lehrstuhlinhaber – Juristen, Soziologen, Philosophen, Historiker – verfügten nicht über den Fundus einer bereits etablierten Disziplin. Und auch weil die NS-Zeit eben nicht auf eine einzige Variable zurückgeführt werden konnte, entstand der Anspruch, Politik, Demokratie und Staat interdisziplinär zu verstehen: Für Ernst Fraenkel beispielsweise sollte die Politikwissenschaft eine integrative Wissenschaft sein, die politische Phänomene erst im Verbund von Rechts-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaft wirklich begreift.
Natürlich ist eine Tendenz zur Spezialisierung in anderen geistes- sowie sozialwissenschaftlichen Fächern zu beobachten, aber gerade die Politikwissenschaft hatte in Deutschland historisch eine besondere demokratiepolitische Verantwortung: Sie sollte nach 1945 helfen, die neue demokratische Ordnung in all ihren Facetten zu begreifen, nicht bloß zu legitimieren, sondern auch kritisch zu begleiten. Veith Selk (Political science in the age of ‘total politics’, 2020) relativiert zwar diesen häufig bemühten Gründungsmythos einer einheitlichen „Demokratiewissenschaft“, indem er auf die Heterogenität der normativen Selbstverständnisse – die unter anderem auch post-liberal waren – der Gründungsfiguren verweist. Dennoch lässt sich gerade aus dieser normativen Aufladung, die dem unmittelbaren Nachkriegszeitgeist entsprang, ein originärer, kritischer demokratiepolitischer Auftrag für die frühe deutsche Politikwissenschaft ableiten. Wird dieser Anspruch ernst genommen, dann stellt die Tendenz zur Spezialisierung eine Spannung dar, die zwar nicht unbedingt größer ist als in anderen Fächern, aber in einem gesellschaftspolitischen Kontext stattfindet, in dem andere Fächer nicht stehen.
Der Fall der deutschen Politikwissenschaft ist aus zweierlei Gründen ein besonderer: (a) Ihre Ursprünge liegen in einem pluralen, normativ aufgeladenen Gründungsmoment, der verschiedene disziplinäre Perspektiven miteinander verband. (b) Zugleich kommt ihr im demokratischen Gefüge eine spezifische Legitimations- und Reflexionsverantwortung zu. Ihre fortschreitende Spezialisierung ist deshalb kritischer zu hinterfragen oder zumindest anders zu reflektieren als etwa in der Soziologie.
Doch bevor nun der Eindruck entsteht, die Spezialisierung der Politikwissenschaft sei per se problematisch: In den anderen Teilbereichen zeigt sich ihr kaum zu bestreitender Mehrwert. So führen diese Spezialisierungsprozesse in den empirisch angelegten Teilbereichen zu einer noch stärkeren Rückkopplung zur Wirklichkeit. Rückkopplung bedeutet hier: verlässliche Prognosen, Evaluationsdaten, Evidenz für Kausalmechanismen. Empirische Teilbereichsforschung beantwortet beispielsweise Fragen zu rechtspopulistischem Wahlverhalten in süditalienischen Kommunen oder zum Bildungshintergrund urbaner Protestbewegungen zur Zeit der Finanzkrise 2007/2008. Die Relevanz verschiebt sich hier vom großen Narrativ zur konkreten Intervention – beispielsweise in Form einer Policy-Rückkopplung. Unter diesem Licht wirkt die fortschreitende Spezialisierung in den verschiedenen Teilbereichen der Politikwissenschaft unumkehrbar und sinnvoll.
Während die anderen Teilbereiche (Vergleichende Politikwissenschaft, Internationale Beziehungen bis hin zur Governance-Forschung) von einer zunehmenden Spezialisierung unmittelbar profitieren, würde die Politische Theorie Gefahr laufen, sich durch ähnlich gelagerte Prozesse von der Wirklichkeit zu entkoppeln. Der Vorwurf der Wirklichkeitsferne und einer allzu starken diskursiven Verästelung beschränkt sich beispielsweise nicht auf einzelne radikaldemokratische Stränge. Wenn also aus Herfried Münklers Sicht (2011: 199) deliberative Demokratietheorie Populismus als „eine nicht argumentationsfähige Anzeige von Fehlentwicklungen“ deklariert, dann werden aus dieser Warte auch die Ursachen und Zusammenhänge dieser Fehlentwicklungen nicht verstanden werden können. Einer solchen Politischen Theorie fällt es schwer, konkrete gesellschaftliche Herausforderungen im Blick zu behalten. Jedoch verlangen aktuelle Themenfelder wie Populismus, globale Ungleichheit oder Klimakrise eine enge Verbindung theoretischer Reflexion mit drängenden Problemlagen: also dem Vermögen, Querverbindungen zwischen Disziplinen herzustellen, Grundbegriffe zu reflektieren und zugleich den Blick fürs große Ganze zu bewahren, ohne sich im akademischen Klein-Klein zu verlieren. Und gerade in dieser breit angelegten Arbeitsweise einer – meines Erachtens idealtypischen – Politischen Theorie lebt der institutionelle Gründungsanspruch der frühen deutschen Politikwissenschaft fort. Eine Rückschau auf jene Zeit verdeutlicht, welche wissenschaftliche Praxis hier idealisiert wird: Franz Neumann etwa verbindet in seinem Werk Behemoth ökonomische, politische und staatstheoretische Perspektiven zu einer analytischen Einheit, die es ihm ermöglicht, die Bedingungen des NS-Staates präzise offenzulegen.
Eine zeitgenössische Spielart einer solchen integrativen Herangehensweise möchte ich am Beispiel des Populismus illustrieren, der inzwischen zu einem zentralen Gegenstand politikwissenschaftlicher Forschung geworden ist. So begnügt sich eine solche politikwissenschaftliche Arbeit nicht damit, populistische, demokratiefeindliche Bewegungen lediglich als Ergebnis enttäuschter Erwartungen zu erklären. Ja, auf welchen Bedingungen und Strukturen beruhen diese Erwartungen eigentlich? Was unterscheidet die vordergründigen Ursachen dieser Enttäuschungen von den tieferen, tatsächlichen Ursachen? Die in den folgenden Absätzen als Beispiel angeführte Politische Theorie endet somit nicht bei bloßer Krisenbeschreibung oder der Legitimierung gegenwärtiger politischer Ordnungen, sondern übernimmt eine rekonstruktive Aufgabe: die historischen, ökonomischen, rechtlichen und kulturellen Bedingungen des gegenwärtigen Populismus umfassend zu analysieren. Anhand von zwei jüngst erschienenen Arbeiten, die den Populismus jeweils zum zentralen Untersuchungsgegenstand haben, soll diese integrative Herangehensweise im Folgenden exemplarisch verdeutlicht und im Anschluss begrifflich genauer erfasst werden.
Natürlich setzen diese Arbeiten unterschiedliche Schwerpunkte und nähern sich dem Phänomen Populismus auf teils sehr verschiedene Weise an. Dennoch lässt sich in ihrem Vorgehen ein gemeinsamer Kern erkennen, den ich als Makrosynthese bezeichne. Makrosynthese nenne ich eine politiktheoretische Arbeitsweise, die drei Ebenen –
- Mikro: analytische oder ideengeschichtliche Begriffsreflexion,
- Meso: Bezug zu unmittelbaren Institutionen und empirischen Befunden,
- Makro: Einordnung in größere historische und normative Erzählungen
– simultan verschaltet.
Anders als streng empirisch angelegte interdisziplinäre Forschungsdesigns zielt politiktheoretische Makrosynthese nicht auf endgültige Systematik, sondern auf produktive Verknüpfungsräume. Ihre scheinbare Begriffsunschärfe wirkt hier als heuristische Stärke: Sie lässt offen, welche Disziplinen, Daten oder Narrative im Einzelfall zusammengeführt werden müssen, um ein politisches Problem adäquat zu erfassen. Die Elastizität des Konzepts ist damit kein methodisches Defizit, sondern Bedingung seiner Kritik- und Innovationsfähigkeit. Mein Beitrag möchte also zeigen, dass Politische Theorie auch heute, wie also schon in der bundesrepublikanischen Gründungsphase der Politikwissenschaft, dort am plausibelsten und überzeugendsten ist, wo sie makrosynthetisch arbeitet:
Als erstes Beispiel sei hier auf die Arbeit von Kolja Möller Volk und Elite verwiesen: Aus Möllers Sicht lässt sich Populismus nur verstehen, wenn Verfassungssemantik und historische Entwicklungen zusammen gedacht werden. Der Begriff erfährt eine systematische, ideengeschichtliche sowie sozial-historische Ausarbeitung. Schon mittelalterliche Aufstände signalisierten normative Erwartungen einer Volkssouveränität; seit dem 18. Jahrhundert verschmelzen solche Mobilisierungen mit ökonomischen Krisen, im Neoliberalismus der 1980er zu einer dauerhaften „Ko-Evolution“ von Politik und Markt. Arbeitslosigkeit, globaler Wettbewerb und Austerität erzeugen Legitimationslücken: Das Volk gilt formal als Souverän, bleibt jedoch machtlos in den Verteilungskämpfen. Heute verschärft eine ökologische Dimension diese Schieflage. Identitärer Populismus verspricht schnelle Steuerung, verfehlt aber gerade wegen seiner regressiven Logik die strukturellen Ursachen. Ein wirksamer Populismus müsste ökonomische wie ökologische Verwerfungen zugleich offenlegen, um tatsächlich neue Handlungsspielräume zu öffnen.
Als zweites Beispiel möchte ich John McCormicks Machiavellian Democracy anführen. Zwar entstammt diese Studie dem US-amerikanischen Kontext, entscheidend ist jedoch nicht der nationale Ursprung der Arbeit, sondern dass McCormicks Ansatz exemplarisch für die idealtypische politiktheoretische Arbeitsweise steht, die ich in diesem Beitrag herausstelle: eine Arbeitsweise, die synthetisch unterschiedliche disziplinäre Perspektiven verknüpft, um gegenwärtige populistische Herausforderungen zu adressieren. McCormick interpretiert Machiavelli zunächst auf der ideengeschichtlichen Mikroebene überraschend – und daher auch nicht unumstritten – als Protodemokraten und leitet hieraus konkrete Vorschläge radikaldemokratischer Institutionen jenseits liberaler oder deliberativer Meistererzählungen. Damit soll gezeigt werden, dass jene Vorgehensweise keineswegs exklusiv für die deutsche Politische Theorie ist, sondern vielmehr Ausdruck einer politiktheoretischen Herangehensweise, wie sie bereits im pluralistischen Gründungskontext der deutschen Nachkriegspolitikwissenschaft idealtypisch getätigt wurde und heute womöglich ohne bewussten Rekurs auf diesen Kontext international fortbesteht.
Gewiss lässt sich damit nicht behaupten, die gesamte Teildisziplin habe sich flächendeckend als resistent gegen alle Spezialisierungsprozesse gezeigt. Man könnte sogar spötteln: Wenn ich für ein zweites Beispiel bis nach Chicago (McCormick) ausweichen muss, deutet das auf Lücken in der heimischen Theorieproduktion hin. Überraschend ist das kaum – jeder Lehrstuhl versteht „Politische Theorie“ anders. Auch die Institute. In diesem Kontext gerät die „institutionelle und wissenssoziologische Zuordnung der politischen Theorie […] zyklisch unter Druck; sie muss nicht etwa von Generation zu Generation, sondern praktisch mit der Formulierung eines jeden Ausschreibungstextes neu erkämpft werden.“ (Niesen 2007: 126)
Sichtbar verstärkt durch die Neuausschreibungen von Theorieprofessuren, – Stichwort: Politische Theorie und empirische Demokratieforschung – wird der Teilbereich seit den 1990er Jahren in eine dritte Richtung gedrängt: Theorien mittlerer Reichweite (Meso-Ebene). Dieses von Merton in der US-amerikanischen Soziologie geprägte und von Beyme aufgegriffene Konzept verspricht, die unmittelbare politische Wirklichkeit theoretisch-deskriptiv zu erfassen. In der Logik output-orientierter Mittelverteilung (Drittmitteleinwerbung, Publikationsimpact) stellt die Absicherung empirischer Forschung zugleich die „rentable“ Hälfte der Bindestrichprofessur dar.
Die Politische Theorie droht so ihr Alleinstellungsmerkmal zu verlieren. Auch andere Teilbereiche produzieren inzwischen „inhouse“-Theorien mittlerer Reichweite. Wenn ein Wahlforscher die Gründe für die Wahlerfolge der regimekritischen Opposition in Kuwait rekonstruiert, dann verändern die empirischen Befunde die Stoßrichtung etablierter Theorien autokratischer Politik. (Endogenous Opposition, Tavana 2025) Und wenn eine Studie empirisch belegt, dass libertäre und rechte Ausprägungen des Populismus – je nach politischer Ausrichtung – unterschiedliche Kernprinzipien der liberalen Demokratie angreifen, dann liefert sie zugleich einen Erklärungsansatz, der verschiedene Dimensionen populistischer Demokratiekritik beleuchtet und damit einen Ertrag für die Populismustheorie erbringt. (Democracy challenged, Engler et al. 2022).
Dieses Nebeneinander kann so lange gut gehen, wie die Universitäten in einer stabilen Haushaltslage wirtschaften können. Die institutionelle Bewertung richtet sich an Metriken, die den empirischen Teilbereich privilegieren. Die Theorieanteile erscheinen als schwer quantifizierbare „Restposten“ und sind darum im haushaltspolitischen Legitimationsdiskurs latent prekär. Bricht diese höchst kontingente haushaltspolitische Voraussetzung weg, ist es für die anderen Teilbereiche aus strategischen Gründen auch verlockend, darauf zu verweisen, dass man die Politische Theorie ja längst im eigenen Haus produziere und sie draußen nicht mehr brauche. (Münkler u. Straßenberger 2016,: 13; Strähle 2019) In solchen Fällen graben die innerbetrieblichen Theorien der Politischen Theorie das Wasser ab.
Selbst unter der optimistischen Annahme, dass Sparmaßnahmen auch in ferner Zukunft kein Thema sein werden, bliebe eine Gefahr: Eine Politische Theorie, die nur noch auf mittlerer Ebene operiert, könnte zu einem reinen Legitimationsinstrument verflachen, das die liberale Demokratie nur noch feiert – wie Selk (Demokratiedämmerung 2023) bereits kritisiert. Böse zugespitzt würde eine derart zurechtgestutzte Theorie bloß noch als Beipackzettel zur Legitimierung des krisengebeutelten Status Quos sowie den empirischen Beobachtungen anderer politikwissenschaftlicher Teilbereiche dienen. Die anspruchsvolle Arbeit im Weinberg der Politikwissenschaft, die an den Fundamenten gräbt (Mikro) und gelegentlich auch die eigene Ordnung irritiert (Makro), bliebe auf der Strecke. Die eingangs erwähnte demokratiepolitische Bedeutung der jungen bundesrepublikanischen Politikwissenschaft darf daher nicht zur Irrannahme verleiten, dass die zeitgenössische Politische Theorie lediglich als Hilfsinstrument zur Legitimation der bestehenden Ordnung mitsamt ihrem liberalen Zierwerk herhalten müsse.
Jonathan White mahnte jüngst, man dürfe Politik nicht nur auf den kurzen Zeithorizont reduzieren, also auf das Unmittelbare, da „chronic crisis governed as acute emergency“ allzu leicht den Blick für das Größere verstellt (In the Long Run 2024, S. 210). Und weiter: „There is a need to put negative experiences in a wider context – to find ways to stay the course when things seem to be deteriorating.“ (S. 214) All dies ist mit einer perspektivischen Verengung kaum zu bewältigen, hier bedarf es eines Ansatzes, den ich hier als Makrosynthese bezeichne – sicherlich ist dieser Ansatz unter einer anderen Begriffssemantik in anderen Beiträgen schon stark gemacht worden. Gerade dadurch vermag es Politische Theorie den „Erwartungshorizont“ über vertraute liberale Ordnungsmodelle hinaus zu erweitern.
Mounir Zahran ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er promoviert am Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie der FU Berlin sowie am Lehrstuhl für Öffentliches Recht (insb. Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie) der HU Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Demokratie- und Verfassungstheorie. Darüber hinaus ist er derzeit Affiliated Researcher am Orient-Institut Beirut, wo er zum liberalen Denken im frühen 20. Jahrhundert in der Levante forscht.