theorieblog.de | Volkssouveränität und demokratische Politik. Zu Ingeborg Maus’ „Politischer Politischer Theorie“ 

25. März 2025, Petersen

Sonja Buckel und Oystein Lundestad haben mit ihren Beiträgen zum Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat bzw. zur Frage der Moral in Recht und Politik den Theorieblog-Schwerpunkt zum Werk der im Dezember verstorbenen Ingeborg Maus begonnen. Felix Petersen schließt die Trias der Beiträge heute mit einem Beitrag ab, der Maus noch einmal als Gegnerin Schmittscher Souveränitäts- und Verfassungsverständnisse präsentiert und ihre bleibende Aktualität betont.

Machtzentralisierung, exekutive Politik, und Autoritarismus sind Grundcharakteristika der aktuellen demokratischen Schieflage. Gerade bezüglich dieser politischen Entwicklungen, kann Ingeborg Maus’ politisches Denken Orientierung bieten. Entlang einiger grundsätzlicher Aspekte ihres Buchs Über Volkssouveränität (Maus 2011) möchte ich im Folgenden zeigen, dass wir uns an ihrer „Politischen Politischen Theorie“ (Jeremy Waldron) vergewissern können, warum es sinnvoll ist, Politische Theorie auf reale Machtverhältnisse und Institutionen auszurichten. 

Volkssouveränität als demokratische Gesetzgebung 

Mein Zugang zu Maus erfolgt über Ihre Kritik an Carl Schmitt. Anders als Radikaldemokratinnen wie Chantal Mouffe sieht Maus in Schmitt keinen Vertreter eines konfliktiven Begriffs des Politischen. Vielmehr repräsentiert er für sie eine bürgerlich-reaktionäre Idee von Politik als diktatorischer Rechtsdurchsetzung. Selbstverständlich taucht Schmitt auch in der Auseinandersetzung mit der Volkssouveränität auf. Im Zentrum steht der Vorwurf, dass dieser mit seinem Diktum – „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ – wesentlich dazu beigetragen habe, dass Souveränität nicht mehr als Gesetzgebungsmacht, sondern als „Exekutivgewalt“ (Maus 2011: 7) verstanden und mit dem staatlichen Gewaltmonopol gleichgesetzt werde. Die „ursprüngliche Bedeutung“ von Souveränität, als „Quelle allen positiven Rechts“ und Gesetzgebungsmacht, wurde somit nahezu vollständig „aus dem wissenschaftlichen Gedächtnis“ verdrängt (ebd.: 8). Was dieser Vorwurf also beinhaltet, ist erstens die Überzeugung, dass Souveränität historisch eine andere Bedeutung hatte als Schmitt und die Rechts- und Links-Schmittianer dies postulieren. Zweitens ist, laut Maus, Souveränität auch in den demokratischen Institutionen und Prozessen anders angelegt, als das in einem Schmittschen politischen Modell vorstellbar wäre, das die höchste Autorität mit dem Gewaltmonopol, der Exekutivfunktion, und dem Ausnahmezustand assoziiert. 

Gegen Schmitt erklärt Maus, dass Bodin und Rousseau zwischen Gesetzgebung und Regierung unterscheiden und genau damit eine auf Souveränität gegründete Politik möglich wird (ebd. 111-112). In dieser Konstruktion obliegt dem Souverän die Gesetzgebung, der Regierung die Ausführung (mehr dazu hier). Gemäß dieser Tradition betont Maus, dass in einer Demokratie „dem souveränen Volk (direkt oder repräsentiert) nur die Gesetzgebung zukommt, während das exekutivische Gewaltmonopol an der Spitze des Staates verbleibt […].“ (ebd. 8; auch 108-110; 368) Daraus folgt, dass Volksouveränität „von jeglicher Gewaltausübung weit entfernt“ ist und als “der genaue Gegenspieler der gewalthabenden Staatsapparate“ zu verstehen ist (ebd. 9). 

Dies entspricht einer an den Idealen politischer Revolution orientierten Praxis der Volkssouveränität, die als Alternative zu Miguel Abensours „Demokratie gegen den Staat“ gelesen werden kann. Wichtig ist hier zu ergänzen, dass Maus die Gesetzgebungsfunktion nicht auf repräsentative Versammlungen beschränkt, sondern auch plebiszitär-demokratische Verfahren der Gesetzgebung als Alternativen oder Ergänzungen zum parlamentarisch-repräsentativen Gesetzgeben versteht. 

Das politische Volk und der demokratische Prozess 

Ingeborg Maus fasst „Volk“ als rein politischen Begriff. In Anerkennung historischer Pervertierungen warnt sie davor, dass Behelfskonstruktionen wie „Bevölkerung“ die zentrale „politische Funktion eliminier[en],“ die u.a. „die kontraktualistische Theorie als gesetz- und verfassungsgebende Gewalt des Volkes begründet hat.“ (Maus 2011: 17) Als Gesetzgeber setzt das politische Volk den Rahmen für die „gewalthabenden“ und „rechtsanwendenden Staatsapparate,“ denen es durch seine verfassungsgebende Gewalt und „Rechtssetzungsfunktion […] sogar übergeordnet“ ist (ebd. 19). 

Wie aber funktioniert der demokratische Prozess konkret? Maus betont, dass der „demokratische Souverän […] alles Recht beliebig setzen und ändern“ kann, dabei jedoch „durch die Ausdifferenzierung des Entscheidungsverfahrens beschränkt“ ist. Das bedeutet, mit der Verfassungsgebung werden die „Verfahrensbedingungen“ der Gesetzgebung „in Unkenntnis konkreter Gesetzesvorhaben“ bestimmt, während im „demokratischen Gesetzgebungsverfahren in Unkenntnis der zu regelnden Einzelfälle“ nur allgemeine „Prämissen exekutivischer und judikativer Entscheidungen bestimmt werden.“ Daraus folgt, dass im demokratischen Prozess „auf jeder Ebene des Entscheidungsverfahrens […] eine Bindung an die Vorgaben des vorausgehenden Verfahrens [existiert], die auf die konkrete Entscheidung nicht zugeschnitten sind und insofern willkürliche Durchgriffe eines demokratischen Absolutismus unmöglich machen“ sollten (ebd.: 110). 

Grundrechtspolitik als Triebfeder der Entdemokratisierung? 

Die Erörterung der zentralen Charakteristika einer Praxis der Volkssouveränität zeigt, dass Maus im Rahmen des republikanischen Demokratiebegriffs, und in Anerkennung der verfassungsrechtlichen Wirklichkeit zeitgenössischer demokratischer Systeme, die Möglichkeiten demokratischer Politik radikal auslegt. Damit verweist sie auf ein theoretisches Programm, das darauf zielt, „das Volk in sein stets vorenthaltenes Recht [die verfassungsgebende Gewalt auszuüben, FP] einzusetzen.“ (Maus 2011: 18) 

Obschon Maus den Postdemokratiebegriff nicht nutzt, geht es im Kern um ein ähnliches Argument: dass nämlich eine Verschiebung politischer Macht – der Macht des souveränen Volkes – von den rechtssetzenden auf die rechtsanwenden Gewalten zu beobachten ist. Bei Maus nimmt dieses Argument eine andere Wendung als bei Crouch, da sie unterstreicht, dass diese Entwicklung sich unter dem Deckmantel der „effizienten Verwirklichung von Grundrechten“ vollzieht (ebd.: 365).  

Ungeachtet der diskursiven Überhöhung der Grund- und Menschenrechte in den 1990er und frühen 2000er Jahren macht Maus Grundrechtspolitik zum Fixpunkt ihrer Kritik. Das heißt nicht, dass sie Grundrechte für obsolet hält, sondern dass sie hier bereits andeutet, was sie in ihrem letzten größeren Buch „Menschenrechte, Demokratie und Frieden“ (Maus 2015) ausführt, dass nämlich Rechte und Volkssouveränität ein „komplexes Kontinuum“ darstellen, das sich in Zeiten der Grundrechts- und Menschenrechtspolitik aufzulösen droht (Maus 2011: 360, siehe dazu auch den Beitrag von Sonja Buckel zu diesem Schwerpunkt). 

Die Selbstermächtigung der rechtsanwendenden Gewalten 

Interessanterweise nutzt Maus den Begriff Grundrechtspolitik, um die politische und verfassungsrechtliche Entwicklung des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts zu fassen. Damit verweist sie auf eine Art der Verwaltung gesellschaftlichen Lebens, die sich auf eine Priorisierung der Grundrechte gegenüber der Volksouveränität und den Verfahren politischer Entscheidungsfindung und Gesetzgebung beruft.  

Diese Position ist laut Maus auch zentral für die reaktionäre Theorie Carl Schmitts. Als prominenter Vertreter der Weimarer Rechtslehre habe Schmitt laut Maus bereits Grundrechte, beispielsweise auf Eigentum, als „höhere Werte“ (Maus 2011: 119) konstruiert, die gegenüber den organisatorischen Verfassungsnormen als substanzieller zu betrachten seien und deswegen verfassungsrechtliche Priorität gegenüber demokratischen Organisationsprinzipien genießen sollten (auch ebd.: 70-71). Maus spricht hier von einer „Verabsolutierung“ der Grundrechte, die in Schmitts einflussreicher Verfassungslehre angelegt sei (ebd.: 118-119; zu Grundrechten in Weimar und Bonn siehe auch den Beitrag von Clara Maier). 

Mit der Kritik an der Grundrechtspolitik zeigt Maus, dass unter diesem Paradigma Rechte „der Selbstlegitimation der Staatsapparate durch unmittelbaren Grundrechtsvollzug“ dienen. Denn „Staatshandeln rechtfertigt sich […] nicht mehr am demokratischen Konsens von Grundrechtssubjekten, sondern an der effizienten Durchsetzung eigenmächtig definierter Grundwerte – im Zusammenspiel von Justiz und Exekutive.“ (ebd.: 71) Damit steht der Vorwurf im Raum, dass die rechtsanwendenden Gewalten „ihre Selbstermächtigung durch Grundrechtspolitik“ betreiben (ebd.: 365). 

Während der paternalistische Staat die „demokratisch-rechtsstaatliche Bedürfnisermittlung“ ignoriert und „expertokratisch definierte Rechte von oben zuteilt,“ werden Bürger:innen zu passiven Subjekten (ebd.: 218). Das bedeutet, dass der demokratische Souverän seine Grundrechte nicht mehr verteidigen kann, wodurch diese „genau jene Freiheitsdimension“ verlieren, „die nach dem Demokratiekonzept der Aufklärung geschützt werden sollte.“ (ebd.: 364) Maus schlussfolgert, dass Rechte in diesem Prozess „von individuellen subjektiven Rechtsansprüchen zu objektiven Systemzwecken verkehrt“ werden (ebd. 361). 

Demokratietheoretisch zentral ist die zunehmende Verschiebung politischer Macht von den rechtssetzenden auf die rechtsanwendenden Gewalten. Kritische verfassungspolitische Arbeiten diskutieren dieses Problem bereits seit den 2000er Jahren mit Blick auf Verfassungsgerichte (siehe u.a. Ran Hirschl und Jeremy Waldron). In Die Demokratische Regression haben Armin Schäfer und Michael Zürn kürzlich die Folgen der Machtverschiebung hin zu nicht-majoritären Institutionen als Grund für die Entfremdung der Bürger:innen von politischen Entscheidungsprozessen und Amtsträger:innen beschrieben. Mit Maus lässt sich folgern, dass die mit Volkssouveränität assoziierte politische Macht zunehmend aus den eigentlich für sie vorgesehenen Strukturen verschwindet. 

Exekutive Gesetzgebung und demokratische Regression 

Für ein politisches System wie die repräsentative Demokratie ist die Machtverschiebung von Legislative zu Exekutive und Judikative folgenreich, da gewählte Vertreter:innen somit immer weniger gestaltend wirken. Die Konsequenzen dieser Verschiebung lassen sich am Beispiel des deutschen Gesetzgebungsprozess illustrieren. 

Zwar werden Gesetze mit Mehrheit im Bundestag beschlossen, ihr Ursprung liegt jedoch meist in der Exekutive. Von den 547 in der 19. Wahlperiode (2017-2021) beschlossenen Gesetzen wurden 87,2% von der Regierung initiiert, 11,5% vom Bundestag und 1,3% vom Bundesrat. 40,3% der „Regierungsvorlagen“ wurden mit minimalen Änderungen verabschiedet, während der Bundestag bei 63,6% inhaltlich Einfluss nahm und 27,8% substanzielle Änderungen erfuhren. Diese Zahlen zeigen, dass das Parlament als Ausübungsorgan der Volkssouveränität in der Gesetzgebung eher eine „Kontroll- als eine Gestaltungsrolle einnimmt“ (vgl. Mehr Demokratie). 

Mit Maus lässt sich dieser Zustand verfassungsgeschichtlich erklären. Sie betont, dass beim Schreiben des Grundgesetzes nicht nur die Weimarer Instrumente der „plebiszitär-demokratischen Gesetzgebung“ ausgeschlossen wurden, sondern sich „Mißtrauen“ gegenüber der Volkssouveränität „sogar noch gegen einen möglichen Absolutismus des Parlaments,“ richtete, „der nur durch eine starke Stellung der Regierung und gerichtliche Normenkontrolle der Gesetzgebung zu verhindern sei“ (Maus 2011: 118). Der Zustand der heutigen deutschen Demokratie versteht sich folglich als Ergebnis dieser Weichenstellung. 

Angesichts der Praxis des Gesetzgebungsoutsourcing, d.h., der „Delegation der ersten Ausarbeitung insbesondere eiliger oder inhaltlich komplexer Gesetzentwürfe an anwaltliche Beratungseinheiten“ (Wörner 2021: 1), erscheint der Zustand unserer Demokratie noch prekärer. Denn große Anwaltskanzleien produzieren „Entwürfe“ (also Framings) für Gesetze, die „fortan den Ausgangs- und Bezugspunkt der gesetzgeberischen Entscheidungsfindung darstellen.“ (ebd.) Statt nichtgewählter aber von gewählten Vertreter:innen berufenen Bürokrat:innen in Ministerien, übernehmen hier Private Aufgaben in der Gesetzgebung, die allein ihre rechtswissenschaftliche Expertise qualifiziert. Diese Auslagerung der grundsätzlichen Konzeptionalisierung von Gesetzen ist zweifelsohne eine Konsequenz der exekutiven Selbstermächtigung und folgt der Rationalität effizienter Grundrechtspolitik. 

Aktuelle parlamentarische Ereignisse – wie die von der CDU vor der Bundestagwahl lancierte parlamentarische Posse zur Migrationsbeschränkung und die anschließende Debatte zum Verhalten demokratischer Parteien, oder die parlamentarische Intervention der Grünen zur Restrukturierung der Schuldenbremse – sollten das Problem der exekutiven Gesetzgebung nicht kleiner erscheinen lassen. Diese Beispiele zeigen eigentlich nur, dass im Parlament immer wieder auch ohne die direkte Eingabe der Regierung über grundsätzliche Fragen gestritten wird und die Opposition versuchen kann Einfluss geltend zu machen.  

Allerdings ändern diese Ereignisse nichts an der generellen Entwicklung, dass eine immer kleinere Anzahl gewählter Vertreter:innen, unter Hinzuziehung von Bürokrat:innen und Anwaltskanzleien, inhaltlich und gestaltend Einfluss auf politische Entscheidungen nimmt, während der Mehrzahl der Repräsentant:innen im Prozess eher eine akklamatorische Rolle zufällt. Eine realistische demokratische Kritik und Rekonstruktion sollte auch hier ansetzen und versuchen im Rahmen des herrschenden Demokratiebegriffs maximal radikale demokratische Politik denk- und umsetzbar zu machen. 

Ingeborg Maus‘ Politische Politische Theorie 

Ingeborg Maus’ Kritik an der schleichenden Entmachtung der Gesetzgebung zugunsten exekutiver und judikativer Akteure verdeutlicht, dass Demokratie mehr ist als eine effiziente Verwaltung von Grundrechten. An ihrer Demokratietheorie verstehen wir, dass nur eine Rekonstruktion der Volkssouveränität als Gesetzgebungsmacht des Volkes ein zentrales Korrektiv gegenüber postdemokratischen Entwicklungen darstellen kann. Für die auf Dauer gestellte Aufgabe der Rekonstruktion politischer Praxis und Institutionen ist es unabdingbar, dass kritisch erfasst wird, warum politische Entwicklungen, wie die zunehmende Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz auf die Exekutive oder die technokratische Autorisierung politischer Entscheidungen undemokratisch sind – und welche Konsequenzen dies für die Zukunft demokratischer Politik hat. In solchen theoretischen Unternehmungen kann Maus’ „Politische Politische Theorie“ insofern Orientierung bieten, als sie daran erinnert, dass Freiheit, Recht und Demokratie praktische, institutionelle und prozedurale Formen annehmen, die es auch theoretisch zu analysieren, kritisieren und rekonstruieren gilt.  

 

Dr. Felix Petersen lehrt und forscht am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster. Aktuelle Forschungsprojekte konzentrieren sich auf Praktiken und Institutionen demokratischen Entscheidens und Fragen zur (Un)Vereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus.  


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