Theoriepolitische Polemik im Gewand der Werkexegese. Eine Replik auf die Replik

Julian Nicolai Hofmann und Dirk Jörke haben den Umstand, dass Martin Oppelt ihre Lefort-Lektüre in seinem Beitrag zum 100. Geburtstag Claude Leforts einer kritischen Betrachtung unterzogen hat, zum Anlass genommen, ihre grundlegende Kritik an Lefort und vor allem an der Lefort-Rezeption im Kontext der deutschsprachigen Debatten über radikale Demokratietheorie zu erneuern. Was auf den ersten Blick wie die Auseinandersetzung darüber erscheinen könnte, wie das Werk eines politischen Theoretikers zu lesen ist, erweist sich dabei rasch, wie auch schon im ursprünglichen Lefort-Artikel der beiden Autoren, auf den sich Martin Oppelts Kritik bezieht, als eine theoriepolitische Polemik im Gewand der Werkexegese.

Darauf deutet bereits der Umstand hin, dass Hofmann und Jörke ihre Auseinandersetzung nicht allein auf den Beitrag von Martin Oppelt beziehen, sondern einen pauschalen und deshalb eigentümlich argumentationslos bleibenden Rundumschlag auch gegen die meisten anderen Beiträge des Lefort-Schwerpunkts, darunter auch meinen, und gegen die radikaldemokratische Lefort-Rezeption insgesamt ausführen – und dabei bezeichnenderweise ausgerechnet den Beitrag vollkommen unerwähnt lassen, ja noch nicht einmal als aus ihrer Sicht löbliche Ausnahme nennen, der genau das tut, was für eine kritisch kontextualisierende Werkexegese, wie sie sie vordergründig anmahnen, auch aus ihrer Sicht wichtig sein dürfte: die Lefort-Rezeption auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes zu betrachten. Ragna Verhoevens Text zeichnet nämlich Grundlinien der französischen Lefort-Rezeption instruktiv nach und er löst damit auf hervorragende Weise die Kontextualisierung ein, die Hofmann und Jörke einfordern. Diese Vorgehensweise ergibt freilich dann Sinn, wenn man das eigentliche Anliegen von Hofmanns und Jörkes Beitrag darin erkennt, dass hier keine Werkexegese betrieben, sondern eine Theorieströmung attackiert werden soll.

Die wesentlichen Vorwürfe der beiden Autoren sind bereits aus ihrem anderen Beitrag bekannt: Die Lefort-Lektüre im Umfeld radikaldemokratischen Denkens sei einseitig, da sie nur einen Teil Leforts zu Kenntnis nehme. Dieser müsse umfassender, mit einem gleichzeitigen Blick auf Früh- und Spätwerk rezipiert werden – und dann zeige sich, zugespitzt gefasst, dass er im Frühwerk ein libertärer Gegner staatlicher Institutionen gewesen sei, der sich im Spätwerk zu einem eher schlichten Befürworter liberaler, repräsentativer Demokratie, die er gegen totalitäre Gefahren in Stellung bringe, entwickelt habe. Die bisher dominante radikaldemokratische Rezeptionslinie beschränke sich deshalb auf einen „geglättete[n] Lefort“, der so eigentlich nur zum „Stichwortgeber ‚geflügelter Worte‘“ werde. Im Übrigen sei Lefort für die heutigen politischen Herausforderungen auch nicht mehr sonderlich instruktiv und radikaldemokratisches Denken eine Wiederholung des Immergleichen, das spätestens angesichts der gegenwärtigen Krise der Demokratie nichts Gehaltvolles mehr beizutragen habe. Das führt dann zu dem summarischen Diktum: „Manche Theorien erfüllen nicht das, was sie anfangs versprachen. Andere erfassen historische Momente, verlieren aber die Überzeugungskraft, wenn man sie ihrem Kontext entreißt. Vielleicht ist es langsam Zeit für etwas Neues?“

Um diese suggestiven Schlüsse nahelegen zu können, stützen sich Hofmann und Jörke einerseits auf ein mittlerweile wohletabliertes Set an Pauschalurteilen gegenüber radikaldemokratischen Theorieansätzen und postulieren andererseits eine Form der Werkexegese, deren Fragwürdigkeit Martin Oppelt in seiner lesenswerten und nach meinem Dafürhalten zutreffenden Kritik an ihrem 2022 im Leviathan erschienenen Lefort-Aufsatz auf bestechende Weise herausgestellt hat. Deshalb kann ich meine kritische Betrachtung ihres Postulats einer kontextualisierenden Lefort-Lektüre hier knapphalten. Selbst wenn das, was Hofmann und Jörke in ihrer Lefort-Lektüre durch eine dem Anspruch nach umfassendere Lektüre über Lefort zu Tage fördern hoffen, zutreffen sollte, Leforts teils emphatisch rezipierte Demokratietheorie also gleichsam zwischen libertärer Staatskritik im Frühwerk und einer simplen Verteidigung des Liberalismus im Spätwerk verblasse (woran Martin Oppelt berechtigte Zweifel anmeldet), bleibt es meines Erachtens völlig unklar, warum daraus irgendetwas für den theoretischen und konzeptionellen Umgang mit Denkfiguren Leforts folgen sollte, die sich aus bestimmten seiner Arbeiten rekonstruieren lassen. Warum sollte das der Fall sein? Jüngere Entwicklungen in der ideengeschichtlichen Werkexegese verweisen zu Recht zunehmend auf die Vielfalt und Vielschichtigkeit von Autor*innen, statt sie in die wenig produktive und noch weniger plausible Vorstellung eines einheitlichen Werkes zu pressen. Harald Bluhm hat etwa mit Blick auf die durch die MEGA-Edition möglich gewordene Marx-Rezeption pointiert herausgestellt, wie unfruchtbar Versuche einer Gesamtlektüre sind, die sich bemühen, Zwangsläufigkeiten zu konstruieren, die sich aus bestimmten Denkfiguren ergeben sollen, und wie ergiebig hingegen pluralistische Lektüren unterschiedlicher Denkmotive bei Marx sein können. Ebenso wie beispielsweise ein politischer Marx neben einem eher marxistischen Marx der politischen Ökonomie koexistieren kann (und noch viele andere mehr), würde ein Lefort, der die liberale Institutionenordnung repräsentativer Demokratien gegen totalitäre politische Systeme verteidigt, den radikaldemokratisch befragenden Lefort als wichtige Inspirationsquelle für die zeitgenössischen Diskurse radikaldemokratischen Denkens nicht beschädigen. Kurz, das, was Hofmann und Jörke nachzeichnen, könnte allenfalls eine historiographische Erweiterung des Lefort-Bildes sein, ein Einwand gegen die theoretische Bezugnahme auf einige seiner Denkfiguren lässt sich daraus schlicht nicht ableiten.

Kommen wir nun kurz zu den Pauschalurteilen gegen radikaldemokratische Denkansätze, denn eine Breitseite gegen sie scheint mir das eigentliche Anliegen des Textes der beiden Autoren zu sein. In diesem Zusammenhang werde ich auch die Frage der Fruchtbarkeit Leforts und radikaler Demokratietheorien für die politischen Diskurse der Gegenwart noch einmal aufgreifen. Zunächst ist der von Hofmann und Jörke unterstellte antistaatliche oder antiinstitutionelle Impetus in radikalen Demokratietheorien eher eine Randposition, wie sie beispielsweise vom anarchistischen Lefort-Schüler Miguel Abensour in Demokratie gegen den Staat vertreten wird. Dass radikale Demokratietheorien insgesamt antistaatlich oder gar antiinstitutionalistisch seien, ist lediglich ein gern gepflegtes Zerrbild. Chantal Mouffe verteidigt vehement Institutionen, betont aber, dass demokratische Praktiken immer auch kritische Auseinandersetzungen mit ihnen sein müssen. Auch Rancière ist keineswegs antiinstitutionell, sondern hebt hervor, dass sich demokratische Praktiken nicht auf institutionelle Verfahren beschränken lassen, sondern immer auch Kämpfe um deren Veränderung umfassen. Demokratische Emanzipationskämpfe müssen jedoch, daran lassen weder Mouffe noch Rancière Zweifel, immer auch in Institutionalisierungen münden. Was radikaldemokratische Ansätze aber lehren, ist, dass jede Institutionalisierung auch zur Fessel künftiger Emanzipationsbestrebungen werden kann.

Daraus folgt keineswegs ein naiver, aktivistischer Blick auf das politische Geschehen, der radikaldemokratische Ansätze veralten lässt, weil demokratische und emanzipatorische politische Bewegungen in den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart ins Hintertreffen gegenüber rechtsautoritären Positionen geraten sind. Politische Auseinandersetzungen mit einem realistischen Blick zu betrachten und die Kräfteverhältnisse zu analysieren, statt die Aufgabe von Demokratietheorie in Modellierungen demokratischer Institutionenordnungen zu verstehen, ist meines Erachtens eine der großen Stärken radikaldemokratischen Denkens gegenüber gängigen normativen und empirischen Demokratietheorien – und es lässt sie gerade in der Untersuchung der Konflikte der Gegenwart sehr aktuell werden, weil sie nicht primär über mögliche institutionelle Arrangements sinnieren, die sie als das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen begreifen, sondern konkreten Ansatzpunkten für demokratische Praktiken innerhalb und außerhalb von Institutionen nachspüren. Das dürfte in einer Situation von großem Gewicht sein, in der demokratische Institutionen durch Akteure wie Donald Trump geschliffen werden, die durch einen demokratischen Autoritarismus ins Amt gekommen sind und ihn nun als postdemokratischen Autoritarismus zu verstetigen suchen.

Was wir in radikaldemokratischen Diskursen und insbesondere in den Arbeiten Leforts lernen können, ist schließlich, dass die Institutionen der Politik stets prekär bleiben, weil sie durch das Politische eben nicht nur konstituiert, sondern durch politische Konflikte, wenn diese zu Verschiebungen in den Kräfteverhältnissen führen, immer auch aufgelöst werden können. Auch das ist ein für viele radikaldemokratische Ansätze wesentlicher kritisch-realistischer Blick auf politische Institutionen, der keineswegs veraltet ist, wie derzeit wiederum die Aushöhlung demokratischer Institutionen durch die Trump-Administration auf beängstigende Weise zeigt. Radikale Demokratietheorien können demnach insgesamt – unter anderem mithilfe von Denkfiguren, die auf Claude Lefort zurückgehen – zeigen, dass wir die Konstitution gesellschaftlicher Ordnungen als einen politischen Vorgang verstehen müssen und dass diese politischen Ordnungen eine konstitutive Umstrittenheit niemals ganz abstreifen können, so dass jederzeit Kämpfe um die Einrichtung unserer Welt möglich sind. Zudem werden wir gerade Zeug*innen davon, dass die Ungewissheit und Kontingenz epistemischer, normativer, sozialer und politischer Ordnungen, wie es Lefort sehr klarsichtig herausgestellt hat, nicht nur die Möglichkeit demokratischer Praktiken in sich bergen, sondern auch als eine Verlusterfahrung spürbar werden, die zu autoritären, ja totalitären Sehnsüchten führen kann. Mit Verlaub, aktueller geht es kaum, denn eine demokratietheoretische Totalitarismuskritik, zu der wir Lefort maßgebliche Beiträge verdanken, ist leider keineswegs veraltet, wie sich etwa an der jüngsten US-amerikanischen Wissenschaftspolitik zeigt, für deren Beschreibung unlängst in einem FAZ-Kommentar der Begriff des politischen Totalitarismus verwendet wurde.

 

Oliver Flügel-Martinsen ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Seine Forschungsinteressen liegen u.a. auf der Ideengeschichte der Kritik, Demokratietheorie (insbesondere Theorien radikaler Demokratie) und der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Jüngst erschien sein Buch: Plurale Kritik. Postessentialistische Lektüren kritischer politischer Theorien in der Reihe Philosophie & Kritik im Campus-Verlag.

Ein Kommentar zu “Theoriepolitische Polemik im Gewand der Werkexegese. Eine Replik auf die Replik

  1. @Kugel
    7. März 2025 um 06:55 Uhr

    „Die kritische Auseinandersetzung mit Leforts Werk bleibt daher ein bedeutender Beitrag zur Demokratietheorie und zur politischen Praxis.“

    das gilt aber bestenfalls aus der innenperspektive einer demokratietheoretischen szene auf den rest, ihr „außen“.
    beim umgekehrten blickwinkel, – vom übrigen auf die demokratietheorie leforts -, bleiben die von „außen“ an die „kritische Auseinandersetzung mit Leforts Werk“ gerichteten fragen zu unbeantwortet, um ihr größeres gewicht zumessen zu können..

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