theorieblog.de | Mit Kant gegen Schmitt – Demokratie und Rechtsstaat bei Ingeborg Maus
11. März 2025, Buckel
Ingeborg Maus ist am 14. Dezember 2024 im Alter von 87 Jahren verstorben. Aus dem Kreis der Politischen Theorie und Ideengeschichte sind Nachrufe hier, hier und hier erschienen.
Der Theorieblog widmet Ingeborg Maus einen Schwerpunkt, der in Form von drei Beiträgen in dieser und den kommenden zwei Wochen unterschiedliche Aspekte ihres politischen Denkens beleuchtet. Den Auftakt gibt heute Sonja Buckel mit Perspektiven auf Maus‘ demokratietheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat.
„Radikaldemokratie in Königsberg“, so lautete der Titel der 1993 erschienen Rezension von Reinhard Brandt über das Kant-Buch von Ingeborg Maus im Rechtshistorischen Journal. „Radikaldemokratie“ – das war bisher eher nicht mit Kant in Verbindung gebracht worden. Ihre Auseinandersetzung mit Kants Politischer Theorie, für die Maus den Titel „Zur Aufklärung der Demokratietheorie“ gewählt hatte, wich von gängigen Auslegungen ab. Das irritierte. Maus, die am 14. Dezember 2024 aus dem Leben schied, wollte in der Tat aufklären über „die emphatischste Demokratietheorie der Moderne“ (S. 34f.), die noch von keiner realexistierenden Demokratie je eingeholt worden sei (S. 15).
Aufklärung sei notwendig, da die Rezeptionsgeschichte obrigkeitsstaatlichen Verzerrungen unterliege und zudem „die konsequentesten Demokratietheorien des 18. Jahrhunderts“ an jenen begrenzten Formen politischer Beteiligung gemessen werden, die heutzutage überhaupt noch möglich erschienen (S. 8). Gegenwärtige Demokratietheorien, so Maus, artikulierten die institutionalisierte Hoffnungslosigkeit, etwa wenn Niklas Luhmann den demokratischen Souverän in das bloße „Publikum“ überführe (S. 20).
Strukturelle Gefährdung der Demokratie
Ingeborg Maus schrieb dies wohlgemerkt nicht in jüngster Zeit, sondern Anfang der 1990er Jahre und erwies sich damit durchaus als hellsichtig. Denn inzwischen sind die Unkenrufe auf die Demokratie zum Mainstream geworden. Mainstream war Ingeborg Maus nie. Ihre Kant-Interpretation war genauso originell und eigensinnig, so präzise und klarsichtig, wie ihre berühmte Arbeit zu Carl Schmitt aus dem Jahr 1976. Kritisierte sie an Schmitt, dass er eine genuin bürgerliche Rechtstheorie verfasst habe, welche die Grundprinzipien eines exklusiven bürgerlichen Rechtsstaats gegen die im Vordringen begriffene Arbeiterbewegung konservieren wolle, so beanspruchte sie, die demokratischen Intentionen Kants für eine moderne, durchaus radikal zu nennende Demokratietheorie freizulegen. Das Buch zu Schmitt trägt den Titel – und das ist ihre Pointe – „Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus“.
Die beiden großen Werke von Maus könnten heute kaum aktueller sein, zu einem Zeitpunkt, da Demokratie und Rechtsstaat durch Entwicklungen gefährdet sind, vor denen sie immer gewarnt hatte. Ähnlich wie Franz Neumann, Hermann Heller oder Wolfgang Abendroth sah sie die strukturelle Gefahr des Umschlagens in antidemokratische und autoritäre politische Systeme in einer Klassengesellschaft als stets gegeben an. In ihrer Auseinandersetzung mit Carl Schmitt zeichnete sie die Mechanismen der Involution nach, etwa die Umkehrung des Souveränitätsbegriffs von der Gesetzgebung auf die Exekutive, und mit Kant und Rousseau bot sie zugleich eine demokratische Lösung an.
Der Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat
Dabei steht die „gesellschaftliche Kompetenz der Selbstgesetzgebung“ (S. 36) im Zentrum, also das, was Habermas den „normativen Kern eines sozialistischen Projekts“ genannt hat (S.12). Dem demokratischen Souverän, der Gesamtheit aller Nicht-Funktionär:innen bzw. der „gesellschaftlichen Basis“ (S. 316), obliege es, in der Form von Gesetzen die Staatsapparate zu programmieren. Ihnen kommt dabei auch das Recht auf Irrtum zu, weswegen jede Form expertokratischer Kontrolle empirisch-demokratischer Ergebnisse bereits die Demokratie selbst aufhebe. „Die Exekutive wird in ihrer völligen Abhängigkeit von der Gesetzgebung zu einer vom demokratischen Souverän in Gang gesetzten und gesteuerten Maschine.“ (S. 179)
Die Verselbständigung der Exekutive, wie sie etwa heute in den USA zu beobachten ist, war die Kontrastfolie, der Horror, der durch die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat geschulten Politischen Theoretikerin. Insofern hängen Demokratie und Rechtsstaat unauflöslich zusammen. Die Volkssouveränität ist der innere Aspekt der Selbstgesetzgebung und der Rechtsstaat der äußere, der sicherstellt, dass die Staatsapparate sich an diese Gesetze halten.
Um die Programmierung an der Basis zu gewährleisten, kommt es auf fünf Mechanismen an: 1. auf die institutionelle Trennung von Recht und Moral, 2. auf das Rechtsetzungsmonopol sowie die Suprematie der Legislative in der Gewaltenteilung, 3. auf die dreifache Allgemeinheit des Gesetzes (Beteiligung aller an der Gesetzgebung, Allgemeinheit des Gesetzesinhaltes, Gleichheit der Gesetzesanwendung), 4. auf die inhaltliche Bestimmtheit positiven Rechts sowie 5. auf die strikte Bindung der Staatsapparate an diese Gesetze. Jeder Einsatz der Staatsgewalt muss daher von der Zielsetzung und Kontrolle der gesellschaftlichen Basis abhängen. Auf diese Weise wollte sie die Staatsapparate „bändigen“ (S. 348).
So könnten gesellschaftliche Auseinandersetzungen verfahrensförmig ausgetragen und konkurrierende Interessen kompatibilisiert werden. Ungleiche gesellschaftliche Machtpositionen müssten dabei durch die Verfahren formal ausgeglichen werden. Damit mächtige gesellschaftliche Kräfte diese demokratischen Verfahren nicht aushöhlen können, um ihre Interessen unmittelbar durchzusetzen, ist die strikte Einhaltung der fünf Mechanismen zu gewährleisten. Dies ist die Lehre, die aus der Beschäftigung mit Carl Schmitt zu ziehen ist.
Immanente Kritik an der realexistierenden Demokratie
Die Radikalität von Ingeborg Maus erweist sich nicht nur daran, wie sie die demokratischen Kontraktualisten für eine aktuelle Demokratietheorie in Anschlag brachte, sondern auch daran, wie unerbittlich sie diese Vorstellungen als normativen Maßstab an realexistierende Demokratien anlegte. Die aus den frühbürgerlichen Rechtstheorien gewonnenen Prinzipien, die zeitlich vor der Institutionalisierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Kontext der bürgerlichen Revolutionen entwickelt wurden, ließen aktuelle Demokratien in der Analyse dann eher als Verfallsformen erscheinen. Sie zeichnete eine Entwicklung seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach, in der mit der Durchsetzung der Demokratie zugleich deren Grundpfeiler allmählich erodierten. Genau in dem Moment, da die bisher Ausgeschlossenen an der demokratischen Selbstorganisation teilhaben, zum Souverän werden, setzen sich extrem unbestimmte Rechtsbegriffe und rechtsschöpferische Interpretationsmethoden durch. Auf diese Weise emanzipierten sich Gerichte, Regierungen und Bürokratien von der gesetzgeberischen Programmierung durch die gesellschaftliche Basis (bzw. deren Vertreter:innen) (S. 348). 2006 lautete ihr bitteres Fazit:
„Die Erfolgsgeschichte der modernen Demokratie, soweit sie in der Egalisierung des Wahlrechts liegt, ist somit durch die Zerstörung der Volkssouveränität gegenstandslos. Als es so weit kam, daß auch Arbeiter und schließlich sogar Frauen wählen durften, war die Bindung der Staatsapparate an das demokratische Gesetz bereits ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Parlamentswahlen sind heute insofern folgenlos, als die Zusammensetzung der Legislative zwar noch Zielvorgaben für die nächsten Gesetze enthält, aber die Gesetze selbst kaum noch Adressaten in den Apparaten finden.“ (S. 349)
Angesichts der Selbstprogrammierung der Staatsapparate existiere nur noch ein „egalitäres Volk von ‚Passivbürgern‘“ (ebd.).
Ingeborg Maus hatte also wesentlich früher und auch grundsätzlicher auf die Prekarität jener über Jahrhunderte hinweg erkämpften Selbstgesetzgebung bürgerlicher Gesellschaften hingewiesen – noch vor Diagnosen wie „Post-Demokratie“ (Crouch, Rancière), „simulativer Demokratie“ (Blühdorn) oder „Demokratiedämmerung“ (Selk). Und auch bevor unter Rechtsstaat in Schmittscher Manier hauptsächlich „Law and Order“ verstanden wurde (vgl. Pichl 2024), hatte sie ein normativ anspruchsvolles Konzept des Rechtsstaats vorgelegt, wonach die eigentlichen Adressaten der demokratischen Gesetze die ausführenden Staatsapparate selbst sind (S. 295). Würde die europäische Migrationspolitik in diesem Sinne strikt rechtsstaatlich umgesetzt werden – und zwar nicht nur innereuropäisch, sondern auch in Bezug auf das ehemals kolonialisierte Außen Europas – gäbe es heute keinen wahnhaften Diskurs über eine vermeintliche „Migrationskrise“, sondern geregelte gesetzesförmige Verfahren, welche die Genfer Flüchtlingskonvention schlicht umsetzten.
Normative Theorie als Moment von Gesellschaftstheorie
Die Theorie der Volkssouveränität von Ingeborg Maus ist dabei immer, ganz in der Frankfurter Tradition, als Moment einer Gesellschaftstheorie zu verstehen. Institutionen transformieren sich oder erodieren als Ergebnis gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und Auseinandersetzungen. Die Marxsche Dialektik von Demokratie und Kapitalismus und Franz Neumanns Behemoth grundierten ihre normative Theorie, auch wenn sie für ihre Überlegungen explizit eher auf die Kontraktualisten zurückgriff, etwa auf Rousseau, der in einer extremen gesellschaftlichen Ungleichheit eine stets drohende Gefahr für die politische Demokratie erkannte (Maus 2011: 320). Die Assoziation zur „Broligarchie“ in den USA, in der der reichste Mann der Welt einen Großteil des gesellschaftlichen Reichtums angehäuft hat und darüber enorme politische Macht ausübt, drängt sich geradezu auf; genauso wie der Umstand, dass die fünf reichsten Unternehmerfamilien in Deutschland gemeinsam soviel Vermögen besitzen, wie die ganze ärmere Hälfte der Bevölkerung: 40 Millionen Menschen.
Ingeborg Maus hat ihre ganze Kraft, neben der Aufklärung über die frühen Volkssouveränitätskonzepte, in die immanente Kritik der bestehenden Demokratien gesteckt. Was aus dieser Kritik an gesellschaftlicher Transformation folgen müsste, hat sie nicht systematisch ausformuliert. Sie scheint eine stillschweigende Arbeitsteilung mit jenen materialistischen Staats- und Rechtstheoretiker:innen praktiziert zu haben, mit denen sie von der Nachkriegszeit bis zu ihrem Wirken an der Frankfurter Universität verbunden war. Einer Ausdehnung ihrer Demokratietheorie auf alle gesellschaftlichen Bereiche begegnete sie mit Sympathie. Ihr eigenes Werk zeigt somit auch viele Parallelen zu Autoren wie Franz Neumann oder Wolfgang Abendroth. Abendroth führte das Ende der Weimarer Republik auf die Beschränkung der Demokratie auf das Politische zurück. Werde die Beteiligung aller an der planmäßigen Steuerung der ökonomischen Prozesse nicht gesichert, „die über das Geschick der Gesellschaft entscheiden“, so seine Schlussfolgerung (S. 415), dann könne ein parlamentarischer Staat seinen demokratischen Integrationswert nicht bewahren, sondern streife am Ende auch diese parlamentarischen Formen wieder ab.
Radikaldemokratie heute
In einem Aufsatz in der Kritischen Justiz hat sich Maus 1991 solchen Überlegungen angenähert, indem sie sich fragte, wie unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen Elemente ihrer radikaldemokratischen neokantianischen Konzeption realisiert werden könnten. Die Suprematie der Gesetzgebung könne durchaus auch dezentralisiert gedacht werden, wenn zugleich die generalisierende Perspektive der Rechtsform beibehalten werde. Generelle Gesetze, z.B. das Verbot klimaschädlicher Emissionen, müssten nicht notwendig zentralistisch erarbeitet werden. „Gerade die politische Zentrale der Rechtsetzung ist gegenwärtig durch den privilegierten Zugang der stärksten Umweltschädiger okkupiert“ (S. 148).
Ihr schwebte eine „Arbeitsteilung zwischen Zentrale und Peripherie nach dem Grad der Anwendungsallgemeinheit einer Rechtsregulierung“ (ebd.) vor: Rechtsnormen, die sich an eine nur begrenzte Zahl von Adressat:innen richten oder nur regionale Auswirkungen haben, könnten in Rechtssetzungsarrangements beschlossen werden, „in denen die betroffenen Konfliktparteien einander direkt konfrontiert und mit symmetrischen Verhandlungspositionen ausgestattet werden, die die Asymmetrien gesellschaftlicher Macht rechtlich kompensieren“ (ebd.). Wohingegen Rechtsnormen, die nahezu alle betreffen, dezentral vorbereitet und zentral koordiniert und verabschiedet werden (ebd.). Dabei sei aber entscheidend, dass die Zentrale für die Setzung von Verfahrensnormen zuständig bleibt, nach denen in den dezentralen Prozessen die inhaltlichen Normen zustande kommen (S. 149). Denn das rechtsstaatliche Prinzip setzt voraus, dass von Verfahrensnormen „nur dann ein Mindestmaß an Fairness zu erwarten [ist], wenn bei ihrem Zustandekommen der jeweils konkrete gesellschaftliche Interessenkonflikt noch nicht bekannt ist (…)“ (ebd.).
Maus nähert sich hier, von ihrer Perspektive aus, der Rätedemokratie an. Ein Vermächtnis ihrer Arbeit – diese Überlegung verdanke ich einer Diskussion mit Dirk Martin – könnte darin bestehen, diese beiden Perspektiven füreinander fruchtbar zu machen. Dabei ist einiges zu klären, vor allen Dingen Fragen der Gewaltenteilung und des Staates. Lohnenswert wäre es allemal, ihre Erkenntnisse mit aktuellen rätedemokratischen Theorien bzw. der Wirtschaftsdemokratie ins Gespräch zu bringen (etwa Demirović 2009).
Sonja Buckel ist Politikwissenschaftlerin und Juristin. Sie ist Professorin für Politische Theorie sowie zurzeit Vizepräsidentin der Universität Kassel. Ihre Forschung widmet sich der Rechts- und Staatstheorie, der kritischen Gesellschaftstheorie sowie der europäischen Migrationspolitik.
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