Die Demokratie scheint derzeit global auf dem Rückzug. Europa ist keine Ausnahme. Gerade der europäische Osten scheint mit Blick auf Ungarn, die Slowakei oder Serbien ein Labor für den autoritären Backlash. Doch selbst mit Blick auf Osteuropa greift das Narrativ des democratic decline zu kurz. Wer sich auf die Dissertation „Un/gehorsame Demokratie und umkämpfte Patronagestaatlichkeit in Südosteuropa. Eine Konjunkturanalyse der munizipalistischen Plattformen in Zagreb und Belgrad“ der Kasseler Politologin Norma Tiedemann einlässt, um über den Tellerrand der westeuropäischen Kernstaaten und der rechtspopulistischen Konjunktur zu blicken, dürfte überrascht werden. Hier erscheint Südosteuropa als ein radikaldemokratisches Experimentierfeld – was wertvolle Impulse liefert für den oft territorial verengten Blick der (deutschsprachigen) politischen Theorie. Die Studie argumentiert analytisch präzise und bewegt sich auch sprachlich auf einem (sehr) hohen Niveau. Meine Lesenotiz möchte für die Arbeit neugierig machen, indem es zugleich Teile des Arguments skizziert und dessen Spannungslinien benennt – insbesondere hinsichtlich des komplizierten Verhältnisses zwischen Tiedemanns materialistischer Position und der radikalen Demokratietheorie.
Tiedemann analysiert ein politisches Phänomen, das vor 10 Jahren im Süden Europas, vor allem in Spanien, zeitweilig für eine regelrechte Furore sorgte. Als die ehemalige Aktivistin für ein Recht auf Wohnen, Ada Colau, im Mai 2015 zur Bürgermeisterin Barcelonas gewählt wurde und sie von linksliberalen Medien als radikale Demokratin gefeiert wurde, da schien etwas realisiert, was lange eine politische Utopie schien. Was Anarchist:innen wie Murray Boockchin seit Jahrzehnten als libertarian municipalism hochhielten und worunter sie eine Form der kommunalen Basisdemokratie verstanden, die sich auf den Staatsapparat genauso wie auf die Ökonomie erstreckte, wurde Mitte der 2010er-Jahre in Spanien durch eine heterodoxe Linken wiederbelebt. Plattformen wie Ahora Madrid oder Barcelona en Comú, die sich als ein Hybrid von Bewegung und Partei verstanden, schickten sich an, unter der Leitformel des Munizipalismus auf kommunaler Ebne eine neue Regierungspraxis zu erproben, um der Austeritätspolitik ein Ende zu setzen, für breite Teilhabe zu sorgen und sich vis-à-vis sozialer Bewegungen responsiv zu zeigen.
Tiedemanns Studie untersucht das Revival, dass dieser Munizipalismus in jüngerer Zeit in Südosteuropa erlebt. In der kroatischen Hauptstadt führt die zwischen Bewegung und Partei oszillierende Plattform Zagreb Je NAŠ! (Zagreb gehört uns!, ZJN) seit Mai 2021 die kommunale Regierung Zagrebs an. In der serbischen Hauptstadt ist das Bündnis Ne Da(vi)mo Beograd (Geben wir Belgrad nicht auf, NDB) seit April 2022 Teil des Stadtparlaments und bildet dort eine rege Opposition. Tiedemann fragt sich nun mit Blick auf beide Ländern: Gelingt es diesen Plattformen, in Zagreb und in Belgrad die Demokratie von unten zu revitalisieren? Tiedemann nimmt dafür eine Binnenperspektive ein und rekonstruiert die munizipalistischen Projekte durch die Brille ihrer Akteur:innen (s.u.).
Radical Democracy? It’s materialist state theory, stupid!
Die empirische, aber vor allem konzeptuelle Auseinandersetzung mit dem Munizipalismus ist aus Tiedemanns Sicht oft verkoppelt mit jener Theorietradition, die wahlweise als radikale Demokratietheorie(n) oder als postfundamentalistische Theorien des Politischen firmiert und zu der Autor:innen wie Alain Badiou, Claude Lefort, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe oder Jacques Rancière gezählt werden. Die Studie nimmt gegenüber dieser Tradition jedoch eine kritisch-distanzierte Position ein. Aus ihrer Sicht geschieht dort eine Überbetonung dessen, was sich als das Moment des Politischen bezeichnen lässt (S. 39-46). Der Bruch mit der tradierten Ordnung und deren experimentelle Neugründung im Zeichen einer radikalen „Offenheit“ avancieren hier, so Tiedemanns Vorwurf (376), zum Selbstzweck. Demgegenüber gelte es, eine prozesshafte Vorstellung von Demokratisierung, oder, wie die Autorin es nennt, von Emanzipation im Sinne des Projekts einer (radikalen) Herrschaftsfreiheit zu erarbeiten (S. 18, 356).
Dieses Plädoyer resultiert aus Tiedemanns historisch-materialistischer Position. Die munizipalistischen Projekte ZJN und NDB operieren eben nicht in einem Vakuum, sondern in einem, mit Deleuze gesagt, gekerbten Raum, also in einer durch die kapitalistische Produktionsform und staatliche Institutionen (vor-)strukturierte Gesellschaftsform. Wenn Tiedemann von der „relationalen Autonomie des Politischen“ (S. 66-69) spricht, dann meint sie damit: Die munizipalistischen Projekte müssen sich beständig an den per se trägen Strukturen von Ökonomie und Staatsapparat abarbeiten. „Die Materialität des Staates formt so die Auseinandersetzungen, in denen sich die relationale Autonomie reproduziert“ (68), meint Tiedemann im Anschluss an Poulantzas.
Damit trifft die Autorin einen wichtigen, wenn nicht den blinden Fleck der radikalen Demokratietheorie, namentlich ihr ungenügendes Verständnis für das Umschlagen und die Verfestigung des Politischen in eine (scheinbar) unpolitische Ordnung und Praxis – dies wird teils als ihr institutionelles Defizit bezeichnet, geht aber darüber hinaus. Mit der einseitigen Zuspitzung auf das Politische, verstanden als Moment des Bruchs und der konflikthaften Neuverhandlung von Gesellschaft, gerät das aus dem Fokus, was Laclau (1990: 34) als Sedimentierung bezeichnet und wie folgt definiert: „The sedimented forms of ‘objectivity’ make up the field of what we will call the ‘social’. […] [A]ny political construction takes places against the background of a range of sedimented practices.“ Was aber bei Laclau und Co. eine sozial- wie gesellschaftstheoretisch unterbestimmte geologische Metapher bleibt, buchstabiert Tiedemann dezidiert aus.
In diesem Sinne präsentiert die Studie eine materialistische Konzeption des Staates, die nicht bei Nicos Poulantzas stehen bleibt, sondern gegenstandsbezogen wird. Den postjugoslawischen Patronagestaat (S. 93-100) zeichnen weniger liberal-demokratische Strukturen als vielmehr illiberale, geradezu verwilderte Dynamiken aus. Verfeindete Clans („Rackets“) ringen dort in hobbesscher Manier darum, den Staat für sich in Beschlag zu nehmen (S. 81-86). Die soziologische Wendung von Tiedemanns Argument ist, dass diese State Capture durch bestimmte Netzwerke politische Vergesellschaftsprozesse in Gang bringt (S. 90), der sich selbst oppositionelle Projekte, die für eine Demokratisierung des Staates eintreten, nicht einfach so entziehen können. Anders gesagt: Die munizipalistischen Projekte in Zagreb und Belgrad setzen sich zwar das ehrbare Ziel, quasi-mafiöse Patronage-Netzwerke abzubauen, werden aber ihrerseits auch durch derartige Netzwerke geprägt. Wie letzteres konkret geschieht, bleibt in Tiedemanns Studie jedoch etwas unterbeleuchtet.
Radikale Demokratie in Südosteuropa als Praxis (und Erzählung)
Der empirische Part der Monographie basiert auf 56 Expert:inneninterviews mit Aktivist:innen, Mitgliedern und gewählten Vertreter:innen der munizipalistischen Plattformen sowie Journalist:innen und Forscher:innen. Dabei wird, und dies zeichnet die Studie aus, eine Binnenperspektive eingenommen. Es geht Tiedemann darum, die „Perspektive der Bewegungsakteur:innen“ zu rekonstruieren (S. 117), diese aber zugleich kritisch auf die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Perspektiven zu reflektieren. Dies gelingt jedoch leider nur partiell. Das Versprechen auf eine holistische Analyse, wie sie in Tiedemanns theoretisch-methodologischem Rahmen angelegt ist, wird am ehesten in der lehrreichen historischen Rekonstruktion der kroatischen und serbischen Patronagestaaten geleistet (S. 129-177, 245-273). Demgegenüber folgt die Darstellung der beiden munizipalistischen Initiativen dem einseitigen radikaldemokratischen Pathos, von dem sich Tiedemann eigentlich abgrenzt. Paradigmatisch dafür ist folgender Abschnitt, in dem die politische Praxis der links-munizipalistischen ZJN in Zagreb dargestellt wird: „Als neue links-grüne Kraft konnte sie die politische Apathie der Stadt partiell aufbrechen, neue Dynamiken in die Nachbarschafts- und Bezirksräte bringen, Wissen über die klientelistischen Adern des lokalstaatlichen Systems generieren und mittels der Interaktion zwischen Institution und Selbstorganisierung kleinere Abwehrkämpfe gewinnen.“ (S. 235)
Da die Passage die erarbeiteten empirischen Erkenntnisse zur Regierungspraxis von ZJN synthetisiert (hier: S. 214-235), fragt man sich, ob Tiedemann hier nicht die politische Realität idealisiert? Lässt sie sich zu sehr auf die Selbstbeschreibung der munizipalistischen Aktivist:innen ein und lässt dabei außer Acht, dass zwischen der Ebene des Diskurses und jener der Praxis Lücken klaffen? Immer wieder wünscht man sich eine etwas kontextsensiblere Analyse, die auch die Deutungen der politischen Kontrahent:innen oder schlicht die Sichtweise von eher unpolitischen Bürger:innen eingefangen hätte. Die Einsichten der politischen Ethnographie, welche die Autorin durchgeführt hat (S. 114f.), wäre für die Dezentrierung des etwas zu geschmeidigen radikaldemokratischen Narrativs eigentlich gut geeignet gewesen. Diese idealisierte Darstellung ist auch deshalb schade, weil sie der empirischen Ebene gerade jene Idealisierung des Bruches und der (radikal-)demokratischen Transformation vorantreibt, von der sich Tiedemann auf einer theoretischen Ebene eigentlich distanziert hatte. Pointiert formuliert: Tiedemann wird als Empirikerin zu der radikalen Demokratietheoretikerin, die sie als Theoretikerin nicht sein wollte.
So (politisch) beschwingend die Lektüre darüber ausfällt, dass ZJN zumindest partiell mit den klientelistischen, teils mafiösen Strukturen der kommunalen Regierung in der kroatischen Hauptstadt bricht und wie sie die Zivilgesellschaft (re-)politisiert, so erwartbar ist es aus Tiedemanns (uneingestanden) radikaldemokratischer Perspektive zugleich. Möglicherweise bedingt auch die vergleichende Analyse von Serbien und Kroatien, dass die Darstellung oft zu stark in der Vogelperspektive verharrt und die konkreten Kämpfe der munizipalistischen Projekte gegen den Patronagestaat sowie ihre internen Widersprüche und Machtkonfigurationen aus dem Blickfeld geraten. Positiv formuliert ließe sich davon sprechen, dass die Autorin mit ihrer stärker in die Breite als in die Tiefe gehende Analyse den Weg für zukünftige, stärker ins empirische Detail gehende Forschung geebnet hat. Angesichts der Tatsache, dass die munizipalistische Regierungspraxis (in Zagreb) wie Oppositionspraxis (in Belgrad) bis heute andauert, scheinen derartige qualitative „Tiefenbohrungen“ geboten, ja ein überaus fruchtbares Lernfeld für Demokratietheorien jedweden Zuschnitts.
Un/gehorsame Demokratie?
Das Konzept der un/gehorsamen Demokratie, das der Studie als Leitkategorie vorsteht, ist an sich attraktiv, überzeugt aber ebenfalls nicht restlos. Wo Tiedemann den Begriff der ungehorsamen Demokratie in der „radikaldemokratischen Opposition gegenüber konstituierten Ordnungen“ verortet, da steht das Konzept der un/gehorsamen Demokratie für eine grundlegende Ambivalenz. Nach Tiedemann oszilliert der Munizipalismus zwischen dem Anspruch, die Staatsmacht zu verändern, mit ihr zu brechen (Moment des Ungehorsams) und der Akzeptanz der Staatsmacht, möglicherweise gar ihrer aktiven Bejahung (Moment des Gehorsams) (S. 341). Sozialtheoretisch gewendet rückt dieses Konzept gerade die Dialektik von Kontingenz und Ordnung ins Zentrum, um die sich der Postfundamentalismus dreht. Wenn die munizipalistischen Praxen in Südosteuropa zwischen der „Affirmation und [der] Transgression der Ideale bürgerlich-liberaler Demokratie“ oszillieren (ebd.), dann folgt daraus: Hier wird weniger der radikaldemokratische Bruch mit der Ordnung gesucht, als vielmehr eine politische Ordnung angestrebt, „in der berechenbar, transparent und demokratisch die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung verwirklicht sind“ (S. 343). Allerdings fragt sich, ob die Dialektik des Bruches mit und der Verstetigung von der liberal-demokratischen Ordnung nicht erneut (!) jener Enthistorisierung anheimfällt, die Tiedemann der poststrukturalistischen Demokratietheorie vorwirft (S. 376).
Damit tut sie wiederum ihrem Forschungsgegenstand unrecht. Im postjugoslawischen Patronagestaat ist, wie die Monographie offenlegt, der liberal-demokratische Staat höchstens bruchstückhaft gegeben. Es geht in dieser historischen Konjunktur nicht darum, „demokratische Resilienz“ (S. 375) zu verteidigen, sondern diese überhaupt erst herzustellen. Was Tiedemann die affirmative Verteidigung der liberalen Demokratie nennt, ist selbst eine zutiefst politische Geste, die eine démocratie à venir einfordert. Für die munizipalistischen Projekte in Zagreb und Belgrad ist beides, die liberale und die radikale Demokratie, eine normative Vision. Die derzeitigen Proteste in Serbien gegen den autokratischen Präsidenten Vučić und die nur scheinbar profane Forderung danach, „dass die Institutionen ihre Arbeit machen“, scheinen genau dies zu bestätigen. Angesichts der autoritären Aushöhlung der westlichen Demokratien – man denke nur an die USA – sollte uns dieser doppelte Impetus zum Vorbild gemahnen. Wir dürften ihm bald folgen müssen.
Conrad Lluis arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) am Fachgebiet Makrosoziologie an der Uni Kassel.