theorieblog.de | Recht und Moral bei Ingeborg Maus
18. März 2025, Lundestad
Ingeborg Maus ist am 14. Dezember 2024 im Alter von 87 Jahren verstorben. Der Theorieblog widmet Ingeborg Maus einen Schwerpunkt, der in Form von drei Beiträgen in dieser und den kommenden zwei Wochen unterschiedliche Aspekte ihres politischen Denkens beleuchtet. Den Auftakt gab vergangene Woche Sonja Buckel mit Perspektiven auf Maus‘ demokratietheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat. Wir führen den Schwerpunkt fort mit einem Beitrag von Øystein Lundestad zum Verhältnis von Moral und Recht sowie Maus‘ Auseinandersetzung mit Kant.
Ingeborg Maus’ Artikel „Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts“ wurde erstmals 1989 in der Zeitschrift Rechtstheorie veröffentlicht. Er wurde später auch in den Anhang ihres bedeutendsten Werks Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1992) aufgenommen. Dieser Titel kann zugleich auch als Einstieg in ihr gesamtes Werk dienen: Ein Schwerpunkt für Maus war der für einige kontraintuitive Satz, dass die Legitimation und Struktur des modernen, demokratischen Rechtsstaats eine Trennung zwischen Recht und Moral voraussetzt.
Maus lehnt alle Versuche ab, das Recht an die Moral zu binden. Im Artikel nennt sie die Theorie Ronald Dworkins und die Praxis des Bundesverfassungsgerichts als Beispiele dafür. Maus zufolge stehen aber solche Versuche in Gefahr, die formellen Strukturen des Rechts zu wandeln: Statt eine Art Garantie gegen positiv-rechtliches Unrecht zu bieten, wird das Recht dem willkürlichen Handeln des Staatsapparats und dessen moralischer Selbstbegrenzung überantwortet. Dem Gewaltenteilungsprinzip ähnlich sorgt die Trennung zwischen Recht und Moral eher für eine normativ notwendige Begrenzung des Rechtsbereichs. Wo andere ein normatives Problem in den amoralischen Zügen des Rechts gesehen haben, sah Maus darin seine normative Autonomie, und warnte vor allen Versuchen, moralische Kategorien ins Recht einzuführen.
Im Folgenden werde ich diese Position kurz erläutern, zuerst am Beispiel ihres eigenen Ansatzpunkts: die Beziehung dieser zwei normativen Grundbegriffe bei Immanuel Kant. Danach beschreibe ich die Bedeutung dieser Trennung für den modernen, demokratischen Rechtsstaat und die von Maus diagnostizierte und problematisierte heutige Remoralisierung des Rechts.
Maus über Recht und Moral bei Kant
Für Maus war eine der wichtigsten Erkenntnisse der politischen Philosophie der Aufklärung, dass eine prinzipielle Trennung dieser beiden Bereiche vollzogen wurde. Lapidar ausgedrückt: Das Recht war nicht mehr eine Fortsetzung der Moral mit anderen Mitteln – die Moral von Individuen und Gesellschaft war nicht länger eine Angelegenheit des Rechtsstaats. Die Trennung war sowohl prinzipiell begründet als auch normativ notwendig, um die Unabhängigkeit und Autonomie beider Bereiche zu bewahren.
Diese Erkenntnis fand Maus nirgendwo besser ausgedrückt als in der späten normativen Theorie Immanuel Kants. In Zur Aufklärung der Demokratietheorie weist Maus darauf hin, was viele Kant-Interpreten immer noch übersehen: In seinem letzten großen Werk, Die Metaphysik der Sitten (1797), zog Kant eine bedeutende Trennlinie zwischen Recht und Moral. Maus macht genau darauf aufmerksam: Kant leitet seinen späten Rechtsbegriff nicht aus einem Prinzip der Moralität oder Ethik ab. Seine politische Philosophie ist als Rechtstheorie formuliert und in einer Natur- oder Vernunftrechtstradition der äußeren Freiheit verankert .
Ist der Rechtsbegriff aus einem übergeordneten Moralbegriff abgeleitet, bedarf es einer neuen Klärung, welche Normen ausschließlich moralisch und welche nur rechtlich sind. Und diese Klärung kann nicht das Moralprinzip selbst hervorbringen. Diesem Problem war sich auch Kant bewusst, mindestens in seinen Spätwerken. In den einleitenden Abschnitten der Metaphysik der Sitten macht er deutlich, dass das Nichtlügen – eine moralisch vollkommene Pflicht – nicht in allen Fällen eine rechtliche Pflicht ist. Das Recht handelt nicht von der Durchsetzung der Gesetze der Moralität oder von ethischen (Mindest-)Standards. Man braucht schlicht einen anderen Maßstab als das Moralprinzip selbst, um die Grenze zwischen nicht erzwingbaren Moralnormen und erzwingbaren Rechtsnormen zu ziehen.
Daher geht es für Kant beim Recht um äußere und erzwingbare Gesetzgebung, um jedermanns angeborenes, gleiches Recht auf Freiheit in zwischenmenschlichen Beziehungen zu gewährleisten. Die Frage, welche Formen der Lüge rechtlich geregelt werden sollen und können, verweist nicht auf die Moral, sondern auf einen intersubjektiven Begriff der Freiheit. Rechtlich untersagt sind nur Handlungen, die als Ausdruck individueller Freiheit mit der Freiheit Anderer nach einem allgemeinen Gesetz nicht vereinbar sind. Wie Maus auch betont: Die moralische und unspezifische Pflicht Du sollst nicht lügen! als allgemeine Rechtsnorm einzusetzen, würde nicht nur die moralische Bedeutung der Norm untergraben; als staatliche Zwangsnorm wäre sie offener Terror. Für Kant war es entscheidend, dass das Recht nicht mit moralischen Gesinnungen oder ethischen Zwecken der Individuen gleichbedeutend war, sondern diese vom rechtlichen Bereich freihielt.
Kants Moralbegriff in der Grundlegung und der zweiten Kritik ist mit anderen Worten nicht die Basis für seine spätere Ableitung dessen, was Recht ist. Er nutzt nach wie vor einen normativen Begriff von Moral oder Sitten als Oberbegriff, teilt jedoch bezeichnenderweise die Metaphysik der Sitten in zwei Teile, erst die Rechtslehre, dann die Tugendlehre. Während erstere sich mit der äußeren Art der Verpflichtung des Rechts befasst, dreht sich letztere um die innere Art der Verpflichtung der Ethik, die wir normalerweise mit Kants Morallehre verbinden.
Was diese neue Auffassung des Verhältnisses von Recht und Moral für Kants Moraltheorie bedeutet, müssen wir hier beiseitelassen. Maus‘ große Leistung war es indessen, diese Differenzierung zu vertiefen und ihre Bedeutung für unser Verständnis des Rechts aufzuzeigen, sowohl in Kants Rechtslehre als auch für die moderne Demokratietheorie.
Recht und Moral im modernen demokratischen Rechtsstaat
Maus thematisiert, wie sich das Recht in wichtigen Hinsichten von der Moral unterscheidet – und auch unterscheiden muss. Moral und Ethik handeln von Normen, die immer subjektiv angenommen, oft wertbasiert und als solche nicht erzwingbar sind. Das Recht und die Rechtsnormen befassen sich dagegen nur mit Handlungen, die in die äußere Freiheit anderer eingreifen. Und nicht zuletzt: Das Recht befasst sich mit der Begründung und Regulierung rein formaler Merkmale des Rechtszustands selbst. Hier kommt die Moral nicht unmittelbar ins Spiel. In Fragen des Rechts und der Politik sind normative Argumente und Ansprüche eher an einen institutionalisierten Bereich verwiesen, wo die Moral einen direkten Zugang zu den Prozessen weder hat noch haben soll.
In diesem Zusammenhang betonte Maus auch, wie nahe Habermas‘ diskurstheoretische Rekonstruktion des Rechts in Faktizität und Geltung Kants Rechtsphilosophie steht. Ähnlich Kant ändert Habermas hier sein Verständnis von Recht und Moral. Er versucht nicht, das Recht aus einem diskursethischen oder moralischen Prinzip abzuleiten, sondern aus einem normativ geladenen Diskursprinzip, das im Hinblick auf Moral und Recht immer noch undifferenziert ist (s. Kap. 3). Als Kollegen in der „Arbeitsgruppe Rechtstheorie“ hatten Maus (und Klaus Günther) ihren Anteil daran, dass Habermas seine theoretische Position an diesem entscheidenden Punkt änderte. Habermas schrieb sogar, dass er diese Trennung gründlicher als Kant durchgeführt habe; Maus entgegnete, dass er damit versuche, eine Distanz zu Kant zu schaffen, die in großen Zügen nicht da war.
Kant und Habermas haben für Maus mindestens dies gemeinsam: In einem demokratischen Rechtsstaat sind normative Argumente und Ansprüche grundlegend nicht an die Moral, sondern eher an die formalen Rechtsstrukturen und die gesetzgebende Willens- und Meinungsformation der deliberativen Öffentlichkeit gebunden: Dementsprechend heißt Demokratie, dass sich die Bürger selbst die Gesetze geben, denen sie dann als Rechtssubjekte unterworfen sind. Maus ist ihrerseits eindeutig, dass dem Volk alle Gesetzgebung zukommt, aber auch nur diese. Auf diesen Grundprinzipien der Volkssouveränität und des demokratischen Rechtsstaats beharrt sie in allen ihren Werken, gut unterstützt von ihrer präzisen Lektüre der Rechtsphilosophie der Aufklärung, insbesondere der Strukturen des öffentlichen Rechts.
Maus und die Remoralisierung des Rechts
Abschließend können wir zum Ausgangspunkt zurückkehren. Im oben erwähnten Artikel spricht Maus von einer heutigen Remoralisierung des Rechts: An den Beispielen Dworkins und des Bundesverfassungsgerichts warnt sie vor Versuchen, eine „moralische Erweiterung“ des Rechts einzuführen, um den Bereich des Rechts zu begrenzen. Obwohl die Absicht lobenswert sein kann, eine Barriere gegen Missbrauch der Souveränität und des Rechts zu errichten, ist das Rezept für Maus grundfalsch: Mit dem Versuch, moralische Garantien oder ethische Größen in die Rechtssysteme einzubauen, stehen wir in ernster Gefahr, genau das Gegenteil zu bewirken.
Das Problem für Maus ist nicht nur, dass es so eine Garantie nicht geben kann. Es führt auch dazu, dass man die Rechtsstrukturen zugunsten der Exekutive und Judikative ändert. Damit schafft man die Republik ab, für die Kant, Rousseau und große Teile der aufklärungstheoretischen Tradition standen und in der der Gesetzgeber der Souverän ist. Um (mögliches) Unrecht seitens des Gesetzgebers zu verhindern, hat Maus darauf verwiesen, wie materielle und oft unspezifische Normen in die Verfassung oder Rechtsprechung eingeführt werden. Durch die Implementierung solcher Einschränkungen überträgt man aber in der Praxis gesetzgebende Macht auf die Exekutive und Judikative.
Damit vermischt man nicht nur kontingente Fragen mit formalen rechtsstaatlichen Funktionen. Man folgt einer vormodernen Theorie des Gleichgewichts der verschiedenen Staatsgewalten (à la Montesquieu) und nicht einem funktionalen Gewaltenteilungsbegriff (à la Kant). Maus äußert hier Kritik sowohl an Präsidialsystemen („Wahlmonarchien“) als auch an der Rolle des Bundesverfassungsgerichts: In dem Maße, in dem die Exekutive oder Judikative die Tätigkeit der gesetzgebenden Gewalt als Gesetzgeber überprüfen kann, hat man eine formale und höchst reale Übertragung der Autorität auf einen Staatsapparat vorgenommen, der sich nun auch selbst autorisieren kann. Damit wird ihm ein Privileg eingeräumt, Macht nach eigener Willkür auszuüben.
Für Maus wird dann das Rechtssystem vom nicht mehr souveränen, gesetzgebenden Willen des Volkes abgekoppelt. Diese äußerst undemokratische und gefährliche Entwicklung bezeichnet sie in einem berühmten Zitat als eine „Refeudalisierung des Rechts“: Politische und rechtliche Macht werden zunehmend vom willkürlichen Willen der Exekutive und Judikative „usurpiert“. Aus rechtlicher und demokratischer Sicht hat man nun einen Staatsapparat, der nicht mehr ans Recht gebunden ist, sondern an sein eigenes moralisches Argument. Maus zufolge ist dies nicht nur demokratietheoretisch problematisch, es ist überhaupt kein Recht. Und eine Garantie gegen Unrecht hat man damit nicht erhalten; das Gegenteil ist eher der Fall. Der Versuch, das Recht durch die Moral zu begrenzen, führt für Maus vielmehr dazu, dass Rechtssysteme die Trennung durchbrechen, die als Grenze des Rechts hätte dienen sollen.
Øystein Lundestad hat seine Doktorarbeit zu Kants Rechtslehre verfasst (NTNU Trondheim) und mehrere Artikel über die politischen Theorien von Kant, Habermas und Maus geschrieben.
Vollständiger Link zum Artikel: https://www.theorieblog.de/index.php/2025/03/29513/