Replik: Befragung der eigenen Grundlagen statt Wiederkehr des Immergleichen

Die politische Theorie Claude Leforts erfreut sich im deutschen Sprachraum einer ungebrochenen Beliebtheit. Davon zeugen nicht zuletzt die hier auf dem Blog versammelten Beiträge anlässlich seines hundertsten Geburtstages. Sie entstammen vorwiegend einer Theoriekonzeption, die sich selbst als radikaldemokratisch versteht und dabei in sehr affirmativer Weise auf Leforts politisches Denken bezieht. Unser kritisch-kontextualisierender Zugang zum Werk von Lefort wird von Martin Oppelt in einer Weise kritisiert, die fast den Eindruck erweckt, wir würden uns der unangemessenen Hinterfragung einer zentralen (demokratischen) Autorität schuldig machen. Das wollen wir zum Anlass nehmen, noch einmal unsere Gründe für eine distanzierte Auseinandersetzung mit Lefort anzuführen. Diese lassen sich gerade auch an den Beiträgen des hiesigen Forums demonstrieren.

So erinnert Oliver Flügel Martinsen mit Lefort einmal mehr daran, Demokratie als eine „Befragungspraxis des Politischen“ zu verstehen, die als „Kontestation und Transformation bestehender Ordnungen keine Fakten beschreiben, sondern einen Konstitutionsmodus gesellschaftlicher Ordnungen umreißen“ soll. Sara Gebh und Sergej Seitz sehen das Verdienst von Lefort vornehmlich darin, die „Spannung zwischen Demokratie und Institution produktiv zu wenden“. Martin Oppelt schließlich gelangt zu der Einschätzung, dass Leforts Abschied vom Marxismus wesentlich darauf zielte, „die Bedingungen der Möglichkeit zu analysieren, vor dem Hintergrund einer geteilten Erfahrung der Welt verschiedene Antworten auf dieselbe Frage (der Demokratie) überhaupt zueinander in Konkurrenz bringen zu können.“ Wir müssen gestehen, dass wir mit derartigen Formulierungen recht wenig anzufangen wissen. Was soll hier konkret „produktiv gewendet“ werden? Welche „geteilten Erfahrungen“ werden auf welche Weise „zueinander in Konkurrenz gebracht“?

Dass sich in der radikaldemokratischen Theoriebildung längst ein (rhetorisches) Abstraktionsniveau eingeschlichen hat, das von den politischen Praktiken der Lebenswelt weit abstrahiert, sich in ethische Überforderungen flüchtet (Buchstein 2023), oder in intellektuellen Spielereien verliert, betrachten wir als Grundproblem, welches zur weiteren gesellschaftlichen Marginalisierung der Demokratietheorie beiträgt. Hier findet die von Veith Selk erarbeitete These über das Auseinanderfallen gesellschaftlicher Modernisierung und akademischer Demokratietheorie eine deutliche Entsprechung.

Hinzu kommen theoretische Folgekosten, die inzwischen auch prominente Wortführer der Radikaldemokratie wie Oliver Marchart einräumen. „Abgeschüttelt“ werden soll eine fehlgeleitete radikaldemokratische „Staatsphobie“, um die „Verwechslung mit konkurrierenden politischen Ideologien wie Anarchismus und (Neo-)Liberalismus“ zu vermeiden. Wie schwer sich dieses Unterfangen für die Vertreterinnen und Vertreter der Radikaldemokratie darstellt, zeigen die Beiträge, die viel zu häufig in Leerformeln wie die bereits zitierten münden.

In dem von Oppelt kritisierten  Aufsatz von 2022 haben wir auf die Doppelbödigkeit von Leforts politischer Theorie hingewiesen, die sich zwischen libertärer Staatsablehnung im Frühwerk, sowie einer anti-totalitär motivierten Affirmation liberaldemokratischer Repräsentations- und Institutionenkonzepte im Spätwerk bewegt und damit die weitgehende Einseitigkeit der deutschen Lefort-Rezeption in Frage gestellt. Dieser Blick stellt sich jedoch erst ein, wenn man die theoretischen wie auch kontextuellen Aspekte seiner Theorie gleichermaßen berücksichtigt. Wie sonst ließe sich Leforts durch die Pariser Maiunruhen inspirierte radikale Kritik jeder politischen Organisation (Lefort 1968, 53, 81f.) und sein späteres Plädoyer für Wahlen und sogar „Parteien und Parlamente“ (Lefort 1990, 104f.; 1988, 43.) im Angesicht der totalitären Bedrohung schlüssig erläutern? Welche Konsequenzen hat diese rasante Entwicklung, von einer ‚wilden‘, nicht domestizierbaren Demokratie, hin zu einem konventionellen liberalen Repräsentationssystem, für die demokratietheoretischen Implikationen? Doch die Mehrheit der deutschsprachigen Forschung zu Lefort geht den zahlreichen Spannungen und Herausforderungen dieser Art gezielt aus dem Weg. So auch Oppelt, der es stattdessen vorzieht, die Klärung dieser Grundfragen zugunsten eines „Wachhaltens einer Erinnerung, dass die moderne Demokratie nicht selbstverständlich und auf ewig über den Totalitarismus triumphieren muss“ gekonnt umschifft. Präsentiert wird mithin ein geglätteter Lefort, dessen Werk weitestgehend ohne Brüche, ohne Ambiguitäten oder politiktheoretische Herausforderungen auskommt und sich bestens als Stichwortgeber „geflügelter Wörter“ eignet.

Spiegelbildliches zeigt sich im Kontext der Populismusdebatte, wo Lefort gerne von den Verteidigern des politischen Liberalismus und des gesellschaftlichen Pluralismus aufgegriffen wird. Wie schon bei Nadia Urbinati und Jan-Werner Müller wird Lefort auch im Beitrag von Paula Diehl primär als Kritiker des Totalitarismus gedeutet, der jedoch auch Einsichten zu den gegenwärtigen Phänomenen des Populismus liefern würde. Leforts Konzept könne dazu dienen, die diffizilen Unterschiede zwischen demokratischen, populistischen und totalitären Repräsentationsformen zu verstehen und diejenigen Strukturbedingungen zu erkennen, unter denen Populismus entweder demokratisierende oder gefährdende Potentiale entfaltet. Doch was ist demokratietheoretisch gewonnen, wenn man nach intensiver Lektüre des Werks von Lefort erfährt, „dass Populismus nicht Totalitarismus ist“, sich aber „empirisch […] beide Phänomene in unterschiedlichen Intensitäten“ mischen? Wir wissen zwar, dass Populismus auch bedrohliche Formen annehmen kann, aber das führt nicht über eine liberale Selbstvergewisserung hinaus. Vor allem bleibt die Frage nach systematischen Gründen für sein gegenwärtig dominantes Erscheinen unbeantwortet.

Auf Leforts Beiträge zu einer Theoretisierung des Populismus hat in ähnlicher Weise auch William Selinger unlängst hingewiesen, jedoch zugleich an die zahlreichen theoretischen Probleme seiner Demokratiekonzeption erinnert. Lefort erblickte, vor allem im Rahmen seines Spätwerks, die liberale Repräsentativdemokratie als einzige Alternative zur populistischen wie auch totalitären Bedrohung, was entgegen der radikaldemokratischen Kontingenzbehauptung wenig Spielraum für innovative oder experimentelle Formen konkreter demokratischer Praxis zulässt. Während seine Theorie der demokratischen Moderne komplex und schwer fassbar ist, erweist sich seine Konzeption repräsentativer Demokratie als frappierend konventionell. Die politischen Implikationen zeigten sich nicht zuletzt an seiner ablehnenden Haltung gegenüber den französischen Massenstreiks von 1995, die er als „links-populistisch“ abwertete und ihnen jedes Demokratisierungspotential absprach (Lefort 2007, 830f.). Leforts anti-totalitäre Grundhaltung, die sich im Spätwerk im Fahrwasser klassischer liberaler Verteidigungsstrategien bewegte und permanent an die Fragilität der demokratischen Ordnung appellierte, erinnert zuweilen stark an die Selbstvergewisserungsmechanismen eines (linken) Cold War Liberalism, die Samuel Moyn unlängst beschrieben hat. Aus einer links-libertären Kritik des Totalitarismus, die die Offenheit, aber auch andauernde Ungewissheit des demokratischen Projektes in ihren Mittelpunkt rückt, verfängt sich Lefort schlussendlich in einer weitverbreiteten Legitimationsstrategie der liberalen und pluralistischen Gesellschaft, die ihre Gegner und Bedrohungen klar benennt und trotz ihres Offenheitspostulates zugleich einen defensiven Charakter behält.

Kurzum, unsere Ausgangsbeobachtung war, dass Teile der sowohl radikaldemokratischen als auch liberalen Demokratietheorie, nicht zuletzt infolge der Lefort-Rezeption, in eine Sackgasse geraten sind. Das hat uns dazu motiviert, nach der Genese des lefortschen Werkes und seinen Untiefen zu fragen. Man mag das, wie Martin Oppelt es tut, als Entlarvungshermeneutik charakterisieren. Wir gehen jedoch davon aus, dass Lefort, wie auch die Sammelströmung der radikalen Demokratietheorie insgesamt, theoretisch festgefahren sind und im Angesicht gegenwärtiger politischer Entwicklungen wenig überzeugende Antworten liefern. Erstens haben jene sozialen Bewegungen aus der Zivilgesellschaft mit ihrer Institutionenkritik, auf die sich die radikaldemokratische Rezeption von Lefort wesentlich stützt, keine dauerhafte politische Wirkung entfalten können. Dort wo sich hingegen majoritäre Geltungsansprüche verfestigt haben, wie beispielsweise im MAGA-Movement in den USA, dürften sie wohl kaum mit dem impliziten Normenkatalog der Radikaldemokratie vereinbar sein. Doch es reicht unseres Erachtens nicht, diese lediglich als populistisch, rückwärtsgewandt oder schlicht faschistisch abzuwehren.

Zweitens hat sich diese ständige Betonung einer populistischen bis totalitären Bedrohung des (liberal-) „demokratischen Abenteuers“ und seiner tönernen, kontingenten Fundamente, für die Lefort im Besonderen steht, längst als Brandbeschleuniger seiner Selbstauflösung erwiesen. Denn ganz im Zeichen einer Wiederkehr des Cold War Liberalism befinden sich die liberalen Demokratien längst im Prozess einer defensiven Verschließung, die insbesondere den Einfluss populistischer Bewegungen begrenzen möchte und dadurch jedoch fatalerweise deren Hass auf die liberalen und nicht zuletzt akademischen Eliten verstärkt. Auch hier ist Lefort ein schlechter Ratgeber, der keine überzeugenden Antworten auf die gegenwärtigen Krisen der Demokratie liefert.

Schlussendlich bieten 100 Jahre Lefort genug Anlass zur kritischen Selbstbefragung. Statt der immergleichen Betonung von Leforts Stärken und seiner demokratietheoretischen Potentiale ist aus unserer Sicht ein Umdenken notwendig. Dafür ist es erforderlich, die eigenen theoretischen Grundlagen erneut zu prüfen und mit den von Oppelt beschworenen theoretischen Mystifikationen der Demokratie zu brechen: Manche Theorien erfüllen nicht das, was sie anfangs versprachen. Andere erfassen historische Momente, verlieren aber die Überzeugungskraft, wenn man sie ihrem Kontext entreißt. Vielleicht ist es langsam Zeit für etwas Neues?

Julian Nicolai Hofmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsgebiet Politische Theorie und Ideengeschichte der Philipps-Universität Marburg. In seiner Promotion untersucht er (Sozial-)Staatskritik, Demokratietheorie und Wohlfahrtsstaatlichkeit im Kontext französischer und deutscher Debatten von den 1960er- bis 1990er-Jahren. Er war Visiting Fellow an der University of Chicago und der Yale University.

Dirk Jörke ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Darmstadt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert