Mit Citizen Marx: Republicanism and the Formation of Karl Marx’s Social and Political Thought (Princeton University Press) legte der Politische Theoretiker Bruno Leipold kürzlich eine Monographie über Karl Marx und sein komplexes Verhältnis zur Tradition des Republikanismus vor. Jochen Schmon hat darüber mit dem Autor gesprochen, das Interview erschien zuerst auf dem Blog des Journal of the History of Ideas im November 2024. Wir veröffentlichen es hier in gekürzter Form in deutscher Übersetzung.
Jochen Schmon (JS): Der Großteil der Marx-Forschung stützt sich bis heute auf die Annahme eines „epistemologischen Bruchs“, der Marx‘ Schriften in eine „junge“ humanistisch-philosophisch geprägte Frühphase und eine „reife“ historisch-materialistische Wissenschaft der politischen Ökonomie unterteilt. Ihr neues Buch charakterisiert stattdessen die intellektuelle Entwicklung von Marx anhand bestimmter politischer Brüche, die allen voran durch seine sich stetig verändernde Haltung zum Republikanismus zu erklären sei. Ihr Anliegen scheint es zu sein, theoretische Veränderungen in Marx‘ Werk weniger durch seine persönliche Forschung und wissenschaftliche Lektüre zu verstehen als anhand politischer Ereignisse – eine, wie ich finde, geradezu mustergültige historisch-materialistische Ideengeschichte. Wie Sie mit Rückgriff auf Autoren der Cambridge School wie J.G.A Pocock oder Quentin Skinner betonen, stieg der Republikanismus im Laufe des 19. Jahrhunderts in Europa, Nord- und Lateinamerika zum vorherrschenden Gedankengut der Massenpolitik auf. Was sind für Sie die zentralen theoretischen Besonderheiten des republikanischen politischen Denkens?
Bruno Leipold (BL): Was mir in diesem Buch sehr wichtig war, ist die Rekonstruktion der historisch spezifischen Bedeutung des Republikanismus in jener Zeit, in der Marx selbst als Denker geprägt wurde. In der Forschungsliteratur wird der Republikanismus oft als eine Tradition dargestellt, die im antiken Athen und Rom entstand, in der Renaissance wiederbelebt wurde und dann nach der amerikanischen Revolution ausstarb. Diese Genealogie ist ein eingeschliffenes, jedoch falsches Narrativ. Der Republikanismus war im Europa des neunzehnten Jahrhunderts eine lebendige politische Ideologie und Bewegung. Tausende politische Aktivist*innen und Denker*innen beschrieben sich explizit als „Republikaner“ und wurden von Konservativen und Liberalen auch als solche identifiziert. Dieser durch und durch populäre Republikanismus war dem Prinzip der Volkssouveränität zutiefst verpflichtet und sah sich selbst in einem Kampf für die Errichtung „demokratischer“ Republiken gegen die den Kontinent beherrschenden Monarchien. Vor dem 19. Jahrhundert wurde die republikanische Tradition häufig der „Demokratie“ oppositionell gegenübergestellt, danach jedoch entwickelte sich der Republikanismus in vielerlei Hinsicht zur dominanten politischen Ideologie demokratischer Bewegungen. Darin unterscheidet sich republikanische Politik am deutlichsten vom Liberalismus jener Zeit – letztere lehnten Demokratie in dem von de Tocqueville geprägten Trugbild einer „Tyrannei der Mehrheit“ ab und versuchten ganz explizit, die Regierungsbeteiligung der Bevölkerung durch Eigentumsbeschränkungen beim Wahlrecht zu zu begrenzen.
La Terre Promise, Rougeron Vignerot (1891). Line engraving. Courtesy of the Bibliothèque nationale de France.
Darüber hinaus setzten sich die republikanischen Bewegungen dieser Zeit für demokratische Bedingungen ein, die ganz eindeutig über den vom Liberalismus beschränkten Verfügungsbereich des Politischen hinausgingen. Die Vorstellung von Freiheit als Abschaffung „willkürlicher Macht“ untermauerte sowohl ihre Kritik an der „Tyrannei“ monarchischer Regime als auch ihren Widerstand gegen die Übermacht kapitalistischer Arbeitgeber. Aufgrund dieses historischen Umstands waren für mich die politiktheoretischen und ideengeschichtlichen Arbeiten von Philip Pettit und Quentin Skinner wegweisend, die das zentrale Prinzip des Republikanismus als „Abwesenheit willkürlicher Macht“ rekonstruiert haben. Der demokratische Republikanismus des 19. Jahrhunderts entwickelte eine Politik, die man als nichtsozialistischen Antikapitalismus bezeichnen könnte. Es war der Versuch, die Proletarisierung der Handwerker durch soziale Maßnahmen aufzuhalten und damit ihre Unabhängigkeit wiederherzustellen. Diese Vision der politischen Ökonomie war bei den Arbeitern sehr beliebt – man vergisst leicht, dass außerhalb Englands die Handwerker, nicht die Fabrikangestellten, damals einen der größten Teile der europäischen Arbeiter*innenklasse ausmachten. Es dauerte lange, bis sozialistische Prinzipien den Republikanismus als die vorherrschende Ideologie demokratischer Bewegungen ablösten. Dies gelang dem Sozialismus zum Teil deshalb, weil er eine überzeugendere politische Ökonomie anbot, die auf die Realität kapitalistischer Industrieproduktion reagierte. Gleichzeitig jedoch integrierte die sozialistische Bewegung viele Bestandteile des früheren republikanischen Radikalismus. Ich sehe Marx als Teil dieses historischen Prozesses.
JS: Sie beschreiben wie Marx mit seinem zunehmenden Engagement in der kommunistischen Bewegung von seiner frühen linkshegelianischen Unterstützung einer „demokratischen Republik“ abrückte und immer mehr zu einer radikalen Ablehnung der „bürgerlichen Republik“ überging. Erst die Pariser Kommune und ihre authentisch „proletarischen“ politischen Institutionen hätten Marx zwanzig Jahre später dazu gebracht, in seinem Bericht über den Bürgerkrieg in Frankreich (1871) eine „soziale Republik“ einzufordern. Wie unterscheidet sich dieses genuin römische Politikverständnis des Republikanismus von jenen Diskursen, die seit Lenin als die „drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ gelten: deutsche Philosophie, englische politische Ökonomie und französischer Sozialismus?
BL: In den 1840er Jahren war Marx‘ Verhältnis zur republikanischen Bewegung in der Tat sehr eng, was politiktheoretisch wohl am deutlichsten im sogenannten Kreuznacher Manuskript, der unveröffentlichten Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843) zum Ausdruck kommt. Dort skizzierte Marx noch umfassend eine demokratische Umstrukturierung der republikanischen Staatsform. Über die darauffolgenden Jahre jedoch bewegte sich Marx verstärkt vom Republikanismus weg hin zum Kommunismus. Allerdings war dieser Kommunismus in vielen wichtigen Punkten eine Art „republikanischer Kommunismus,“ der die „bürgerliche Republik“ als wichtiger und historisch sogar notwendiger Schritt hin zur Befreiung des Proletariats begriff. Dies war eine wichtige Intervention gegen die vielen anti-politischen und anti-demokratischen Strömungen, die damals in der sozialistischen Bewegung dominant waren. Gleichzeitig aber diente diese Republik für Marx in ihrer bürgerlichen Form den Kapitalinteressen der Bourgeoisie, worauf die Idee einer Republik mit radikal-demokratischen Institutionen – wie sich es der junge Marx vorgestellt hat – immer mehr in den Hintergrund seiner politischen Schriften trat. Erst die Pariser Kommune verlieh der politischen Wirklichkeit der Republik, nun unter der Fahne der „roten“ oder „sozialen Republik“, auch für Marx eine tiefere emanzipatorische Bedeutung.
In seinem Bericht über den Bürgerkrieg in Frankreich (1871) gab Marx ganz eindeutig zu, dass er und Engels sich im Manifest geirrt hätten. Die neugeschaffenen Institutionen der Pariser Kommunarden hätten ihm deutlich gezeigt, dass der Sozialismus eine viel umfassendere politische Umgestaltung des Staates benötige und nicht einfach nur vom Proletariat in einer Revolution „übernommen“ werden könne. Um die „Herrschaft des Proletariats“ herzustellen, müssten sämtliche politische Institutionen radikal „demokratisch“ umstrukturiert werden – so wie es die Pariser Kommune vorgemacht habe: Abgeordnete der Nationalversammlungen erhielten gleiche Löhne wie die von ihnen repräsentierten Arbeiter; das Stimmrecht in legislativen Entscheidungen wurde weisungsgebunden verfasst; Abgeordnete konnten vom Volk direkt abberufen werden. Auch der Exekutiv- und Verwaltungsapparat des Staates müssten nach Marx nach dem Vorbild der Kommune umgestaltet werden, beispielsweise durch die Ersetzung stehender Heere durch Bürgermilizen und die Einführung einer direkten Wahl und Kontrolle der Staatsbeamten. Für mich stellt diese zentrale politische Schrift nicht nur eine Rückkehr zu Marx‘ frühen politischen Anliegen dar, sondern spiegelt auch ganz allgemein republikanische Forderungen jener Zeit wider, deren Ursprünge sich bis zur Französischen Revolution zurückverfolgen lassen und in der Kommune ganz explizit als die Forderung nach einer „Sozialen Republik“ aufscheint.
Damit muss meines Erachtens die von Dir angesprochene, überaus wirkmächtige dreiteilige Darstellung Lenins der politisch-intellektuellen Einflüsse von Marx um diese republikanische Komponente ergänzt werden. So denkwürdig sie auch ist, lässt diese europäische republikanische Elemente völlig außer Acht. Interessanterweise geht dieses Bild einer politiktheoretischen Dreiteilung bis zu Moses Hess‘ Schrift über Die europäische Triarchie von 1841 zurück, die Marx und Engels in ihren frühen Arbeiten zur Beschreibung der Einflüsse auf die Entstehung des Sozialismus verwendeten. Dort sprechen sie jedoch von „französischer Politik“ und nicht von „französischem Sozialismus“ – eine Formulierung, die das republikanische Erbe womöglich besser wiedergibt.
Huldigung der Freiheit. Zur Erinnerung an die Reichstagswahl 1893, Hans Gabriel Jentzsch for Der Wahre Jacob, Nr. 183, 29.7.1893.
JS: Ich würde gerne mehr über Ihre Theorie der Demokratie und ihr Verhältnis zum Republikanismus hören. Nicht nur zeitgenössische Autoren der radikalen Demokratietheorie wie Cornelius Castoriadis oder Jacques Rancière haben mit Nachdruck einen unauflösbaren Gegensatz zwischen Republikanismus und demokratischer Politik zur Geltung gebracht. Wie Sie selbst in Ihrem Buch einräumen, hat der gesamte Kanon des republikanischen Denkens sich explizit von der demokratischen Staatsform abgegrenzt, von Polybius und Cicero bis Machiavelli, Rousseau oder Madison. Das republikanische „Mischregime“ wurde stets als Mittel zur Verhinderung demokratischer Herrschaft konzipiert, da jene auf einer direkten und gleichberechtigten Beteiligung aller Staatsbürger*innen an der Regierung beruht. Für sämtliche Republikaner der Antike bis hin zur Moderne galt dies als eine verheerende politische Bürde. Deshalb sollte die Demokratie auch nur als „ein Element“ des Regierungssystems unter anderen eingegliedert werden, als Volkstribune mit Vetorecht in der Gesetzgebung oder als elektorale Volksrepräsentation. Durch das „aristokratische Element“ des Senats oder Parlaments in legislativen Entscheidungen sowie das „monarchische Element“ der Konsuln oder des Präsidenten mit zeitlich begrenzten Notstandsbefugnisse sollten die fatalen Auswüchse dessen eingedämmt werden, was Madison eine „reine Demokratie“ nannte. Meines Erachtens folgt Marx diesem traditionellen Verständnis in seiner Kritik des Republikanismus, vor allem in den von Ihnen angesprochenen Arbeiten zu Hegels Rechtsphilosophie. Dort heißt es, dass die Republik nur „die abstrakte politische Form der Demokratie“ sei. In einem republikanischen Staatswesen, so Marx, ist es eben gerade nicht der gesamte „demos“ sondern nur „ein Teil“ der Bürgerschaft, der „den Charakter des Ganzen bestimmt“. Es scheint exakt dieser genuin demokratische Radikalismus zu sein, und zwar gegen das republikanische Prinzip der Gewaltenteilung, den Marx in seiner Spätschrift über die Pariser Kommune wiederbelebt.
BL: Meine Weigerung, diese traditionelle Opposition zwischen Republik und Demokratie zu wiederholen, ist das Resultat meiner historischen Kontextualisierung des Republikanismus im neunzehnten Jahrhundert – politische Begriffe sind nicht einfach monolithische Kategorien, ihre Bedeutung ist das Produkt historisch spezifischer Kämpfe und es ist genau diese diskursive Auseinandersetzung, die ich in meinem Buch rekonstruiere. In einem Text nach dem anderen aus dieser Zeit behandeln Republikaner und ihre Gegner „Demokratie“ und „Republik“ tatsächlich als Synonyme. Republikaner beschrieben sich selbst und wurden diffamiert als „Demokraten“ oder „Radikale“. Die Idee einer Republik als „gemischtes System“ aus Demokratie, Aristokratie und Monarchie verschwindet in den republikanischen Diskursen jener Zeit nahezu vollständig und entspricht vielmehr dem Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts. Deshalb ist meines Erachtens auch der Versuch, die Demokratie dem Republikanismus gegenüberzustellen, in der theoretischen Analyse dieser Epoche schlicht und ergreifend falsch. Eine sorgfältige Rekonstruktion der politischen Kontexte ist unumgänglich um den theoretischen Wandel in Marx‘ Werk zu verstehen. Vorgefertigte Definition des „Republikanismus“ und der „Demokratie“, wie sie gerade in neueren linken Theoriedebatten vertreten werden, machen dies jedoch unmöglich – ein Ansatz, der, wie ich zugebe, meine erste Beschäftigung mit dem Thema geprägt hat.
Es stimmt natürlich, dass vor dem neunzehnten Jahrhundert der Gegensatz zwischen Republikanismus und Demokratie eine gewisse politische und begriffliche Legitimität besitzt. Madisons berühmtes Argument bei der Verfassungskonferenz in Philadelphia 1787, das sich letztendlich in der Entscheidung über das Regierungssystem der USA durchsetzte und bis heute in Kraft ist, unterschied ganz explizit zwischen den direkten Demokratien der Antike und einer der modernen Gesellschaft entsprechenden repräsentativen Republik (Federalist Nr. 10). Ich finde ich es jedoch überaus merkwürdig, dass dieser durch und durch liberale Diskurs über die Republik vollkommen unkritisch in seinem ideologischen Gehalt akzeptiert wird. Beunruhigenderweise wird diese verabsolutierte Unterscheidung zwischen Demokratie und Republik heute auch häufig von amerikanischen Konservativen instrumentalisiert, um jegliche Demokratisierungsforderungen vonseiten der Linken abzuwehren. Ich habe den Verdacht – dem ich tatsächlich in meinem kommenden Forschungsvorhaben nachgehen will – dass Madison sich gegen die Versuche der Anti-Federalisten gewehrt haben könnte, die den Begriff der „Republik“ in eine demokratischere Verfassungsgestalt umzuprägen versuchten.
In jedem Fall halte ich Montesquieus Unterscheidung zwischen einer „demokratischen Republik“ und einer „aristokratischen Republik“, abhängig davon ob das ganze Volk oder nur ein Teil regiert, für weitaus prägnanter. Politiktheoretisch bringt sie auf den Begriff, wie in der Geschichte des Republikanismus volkstümliche und elitäre Elemente um die verfassungsrechtliche Bedeutung der Republik gekämpft haben, sei es in den Auseinandersetzungen der Plebejer gegen die Patrizier im antiken Rom oder den popolo gegen die grandi im Florenz der Renaissance. Machiavelli hat dies auf eindrücklichste Weise in seinen Diskursen über Livius (1519) deutlich gemacht, wie der Chicagoer Politiktheoretiker John McCormick in seiner jüngst auf deutsch erschienen Arbeit nachgezeichnet hat. Der populäreren, demokratischen Seite des Republikanismus wird bedauerlicherweise in der Forschung wenig Aufmerksamkeit geschenkt wie auch Annelien de Dijn sehr schön gezeigt hat. Das mag sicher daran liegen, dass geschichtlich genau diese anti-elitären Elemente des Republikanismus immer eher die ärmeren Bürger*innen ansprachen, die freilich weniger Zugang zu den Mitteln ideologischer Produktion hatten und vielleicht nicht einmal lesen und schreiben konnten. Deshalb sind diese diskursiven Realitäten auch kaum aufgezeichnet und überliefert, was die Ideengeschichte letztlich auch einseitig zugunsten eines aristokratischen Republikanismus geprägt hat.
JS: Das politik- und sozialtheoretische Herzstück ihres Buches bildet wohl das sechste Kapitel, in dem Sie eine Lektüre der drei Bände von Marx‘ Kapital: Kritik der Politischen Ökonomie vorlegen, die sich gegen die in der derzeitigen Rezeption eingeschliffene Behauptung wehrt, dass kapitalistische Herrschaft nach Marx auf einer rein „indirekten“ oder „abstrakten Form“ beruhe. Sie argumentieren, dass die Stärke von Marx‘ Theorie gerade darin liege, sowohl „direkte“ als auch „indirekte“ Formern der Herrschaft des Kapitals denken zu können – Arbeiter seien sowohl durch konkrete, individuelle Kapitalisten und ihre Vorarbeiter beherrscht als auch durch ein abstraktes Wirtschaftssystem, das selbst jene individuellen Kapitalisten dazu zwinge, ihre Ausbeutung der Arbeit unaufhörlich zu intensivieren. Auch hier argumentieren Sie, dass „im Mittelpunkt dieser Darstellung republikanische Vorstellungen von Abhängigkeit, Knechtschaft und Unfreiheit“ stehen. Können Sie erläutern, wie scheinbar nur ein republikanischer Diskurs es Marx ermöglicht hätte, die kapitalistische Produktionsweise auf diese Weise zu theoretisieren, und wie darüber hinaus er damit sogar „auch diese republikanischen Ideen erweitert und transformiert“ hätte?
BL: Marx hat in der Tat immer beide Modalitäten kapitalistischer Herrschaft theoretisiert, wie der direkte Antagonismus in der konkreten Produktionsstätte zwischen den Lohn- und Gesundheitsbedürfnissen der Arbeitenden und den Profitinteressen der Kapitaleigner wortwörtlich erzwungen wird durch die abstrakten Akkumulationsdynamiken eines global operierenden Wirtschaftssystems namens Kapitalismus. Marx vergleicht das Verhältnis zwischen Kapitalisten und Vorgesetzten über die Arbeiter*innen in der Fabrik an unzähligen zentralen Stellen seines Werkes mit der willkürlichen Macht eines absoluten Monarchen über seine Untertanen. Besonders deutlich wird dies in den vielen detaillierten Berichten, die Marx in den 1860er Jahren für die Internationale Arbeiterassoziation (IAA, oder Erste Internationale) über die Arbeitsbedingungen in ganz Europa verfasste. Diese Berichte sind eine vernachlässigte Fundgrube, um Marx‘ politische Rhetorik zu analysieren und ein augenscheinliches Archiv, um die Zentralität republikanischer Begriffe für Marx‘ politische Theorie nachzuzeichnen. Er beschreibt, wie die Fabrik unter der „Tyrannei“ des Kapitals „despotische Bedingungen“ über die Arbeit verhängt. Für mich war es sehr auffällig wie ähnlich seine Polemik hier seinem früheren politischen Journalismus nahekommt, wie zum Beispiel der Vorwurf, dass der Kapitalist bei der Verhängung von Geldstrafen für die Arbeitenden „Ankläger und Richter“ in einer Person ist, ohne dem Arbeiter die Möglichkeit zu geben, das Urteil anzufechten. Das ist dasselbe genuin republikanische Argument, das Marx gegen die preußische Regierungszensur über die Meinungsfreiheit vorgebracht hatte. Was Marx hier theoriegeschichtlich vornimmt, ist die republikanischen Anklage willkürlicher Macht vom Staatspolitischen auf das Soziale zu übertragen – eine genuin republikanische Politisierung von sozialen Verhältnisse, die der Liberalismus bis heute zu depolitisieren versucht. Die Sprache des Republikanismus zwang sich Marx geradezu auf, und zwar deshalb, so meine These, weil sie im 19. Jahrhundert als wirkmächtigster politischer Diskurs der populären Klassen remobilisiert wurde.
Ich versuche durch meine Arbeit, dieses genuin republikanische Moment als normative und begriffliche Grundlage für die Analyse der spezifischen Form der Unfreiheit im Kapitalismus starkzumachen. Meine Überlegungen sind dabei Alex Gourevitch und William Clare Roberts zu verdanken, die die Wirkmächtigkeit republikanischer Ideen auch für die Beschreibung von wirtschaftlichen Herrschaftsbedingungen so eindrücklich entwickelt haben. Denn der republikanische Diskurs wurde für Marx auch für die politische Beschreiung der strukturellen Herrschaftsform des kapitalistischen Wirtschaftssystems taktangebend. In einer berühmten Formulierung beschreibt Marx, wie Sklaven und Leibeigene einem bestimmten Herren gehören, während die Lohnarbeitenden zum Besitz der gesamten Kapitalistenklasse werden. Da sie nicht die Eigentümer ihrer Produktionsmittel sind, sei das Proletariat dazu verdammt, einen kapitalistischen Herren finden zu müssen – auch wenn sie die formale „Freiheit“ haben, den Kapitalisten selbst zu wählen, für den sie arbeiten. Damit sind es politisch generalisierte wirtschaftliche Strukturen, die die Arbeitenden unter die Herrschaft eines Kapitalisten zwingen, und mit ihrer wachsenden strukturellen Abhängigkeit von der Kapitalistenklasse wächst auch ihre Beherrschung am Arbeitsplatz. Man denke hier auch an Marx‘ Begriff der „Reservearmee der Arbeitslosen“, deren strukturell notwendige Vergrößerung die Macht des Proletariats verringert, effektiv zu verhandeln und zu streiken. Die persönlichen Herrschaftsverhältnisse, die die Fabrik prägen, sind deshalb nicht auf ein abstrakt „sadistisches Verlangen“ der Kapitalisten zurückzuführen. Sie können hinreichend nur damit erklärt werden, dass Herrschaft hier strukturell durch das systematische Ausbeutungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit bedingt ist, sei es durch die brutale Verlängerung des Arbeitstages oder die subtilere Aneignung von Produktivitätsgewinnen. Letzten Endes werden all diese Aspekte der kapitalistischen Herrschaft nach Marx durch die „unpersönlichste“ Form der Herrschaft untermauert: den Markt. Marx vertrat die Auffassung, dass der Kapitalismus jeden – auch die Kapitalisten – dem Marktimperativ der ständigen Akkumulation unterwirft. „Gute“ Kapitalisten, die ihre Arbeiter nicht beherrschen oder ausbeuten wollen, werden durch die billigeren Waren ihrer Konkurrenten vom Markt verdrängt. Damit sind wir alle einer abstrakten, unpersönlichen Macht unterworfen, die wir nicht kontrollieren können, wie sehr auch immer die Aufrechterhaltung dieser unpersönlichen Herrschaft freilich auch Menschen erfordert. Auch hier spricht Marx ständig von der „willkürlichen“ und „tyrannischen“ Macht des Marktes und übertragt damit den vormals auf Personen beschränkten Begriff republikanischer Freiheit auf abstrakte Sozialverhältnisse. Im Manifest wird dann auch der Versuch artikuliert, die tyrannische Willkür ökonomischer Verhältnisse durch die proletarische „Aneignung der Produktionsmittel“ abzuschaffen.
JS: Sie betonen auch die zentrale Bedeutung des Begriffs der „Lohnsklaverei“ für Marx‘ Theorie kapitalistischer Herrschaft – ein weiterer zentraler Bestandteil neorepublikanischer Theoriebildung, die die Abschaffung der Sklaverei als genuin republikanisches Anliegen vertritt. Viele Wissenschaftler*innen, insbesondere in den Black Studies oder auch Iris Därmann im deutschsprachigen Raum, haben diesen Vergleich von Lohnarbeit mit Sklaverei heftig kritisiert und ihn als Ausdruck eines systematischeren Problems der Sozialtheorie Marx‘ dargestellt. So haben beispielsweise Cedric Robinson oder Denise Ferreira da Silva argumentiert, dass Marx die zentrale Rolle der transatlantischen Sklaverei für die Schaffung des Kapitalismus und damit für die Moderne als Ganze unterschätzt, wenn nicht sogar ignoriert hat.
BL: Die Kritik an Marx‘ blinden Flecken ist wichtig und vollkommen richtig, sicherlich hätte er die Wechselwirkung der Sklaverei mit dem Kapitalismus in seiner Theorie viel ernster nehmen müssen. Vielleicht hätte er anders darüber nachgedacht, wenn er nach Amerika ausgewandert wäre, wie so viele seiner deutschen Exilgenossen von 1848. Auf jeden Fall hat die Metapher oder Analogie der „Lohnsklaverei“ eine komplizierte und teils problematische Geschichte. Sklavenhalter in den Südstaaten missbrauchten sie manchmal sogar, um die Sklaverei gegenüber der Lohnarbeit zu rechtfertigen. Und zwar mit dem Vorwand, dass sie sich um ihre Sklaven kümmern würden, während die Fabrikbesitzer im Norden ihre Arbeiter beim ersten Anzeichen einer Krise entließen und sie verhungern ließen. Leider findet sich auch bei einigen frühen europäischen Radikalen und Sozialisten ein ähnliches Argument. Sie befürworteten die Sklaverei zwar nicht, aber benutzten den Begriff der Lohnsklaverei auf eine rassistische Art und Weise, die die Bedingungen für weiße Arbeiter in Europa als schlimmer darstellte als die für schwarze Sklaven in Amerika. Selbst der junge Engels behauptete, dass Lohnsklaven in der Fabrik intensiver überwacht wurden als amerikanische Sklaven auf dem Feld.
Es ist jedoch überaus wichtig zu betonen, dass Marx den Begriff „Lohnsklaverei“ nicht in diesem Sinne verwendet. Er stellt zwar fest, dass im Gegensatz zum Lohnarbeitenden Sklaven von ihrem Herrn versorgt wurden und doch behauptet er meines Wissens nie, sogenannte „freie Arbeiter“ sei schlimmer als Sklaverei. Im Kapital ist er sehr eindeutig in der Feststellung, dass die brutalste Form der Herrschaft jene der amerikanischen Sklaven sei, die ebenfalls der verschärften Ausbeutung durch den Wettbewerbsdruck des globalen Kapitalismus ausgesetzt sind. Marx‘ Verwendung des Begriffs der Lohnsklaverei dient dazu, die Unfreiheit der vermeintlich „freien“ Arbeiter hervorzuheben, nicht um die noch größere Unfreiheit der Sklaven zu leugnen.
Trotzdem natürlich stellt sich die Frage, ob es überhaupt angemessen ist, von Sklaverei zu sprechen. Meiner Meinung nach müssen wir jedoch bedenken, dass die Situation der englischen Arbeiter*innen 1824 nicht gleichzusetzen sind mit den Bedingungen der europäischen Lohnarbeitenden unserer Zeit. Wenn es keinen Wohlfahrtsstaat und keine Arbeitslosenversicherung gibt und die Gewerkschaften verboten sind, dann ist die Herrschaft der Arbeitgeber von einem solchen Ausmaß, dass ein Vergleich mit der Sklaverei durchaus angebracht erscheint. In einem brillanten Aufsatz hat Tom O’Shea kürzlich den hilfreichen Vorschlag gemacht, man solle den Begriff „Lohnsklaverei“ nur für solche Fälle von Lohnarbeit reservieren, in denen die Arbeitnehmer einem so hohen Maß an willkürlicher Macht ausgesetzt sind, dass ihre Existenzgrundlage bedroht ist. Wenn die Willkür des Arbeitgebers dieses Ausmaß nicht erreicht, können (und sollten) wir zwar immer noch von wirtschaftlicher „Herrschaft“ sprechen, nicht jedoch von Lohnsklaverei. Das scheint eine vernünftige Art zu sein, die Analogie anzuwenden.
Bruno Leipold ist Fellow in Politischer Theorie an der London School of Economics and Political Science und wird ab Mai 2025 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie an der Durham University.
Jochen Schmon promoviert in politischer Theorie am Institut für Politikwissenschaft an der New School for Social Research in New York City. Seine Arbeit wird derzeit als Stipendiat der Mellon Foundation unterstützt. Er beschäftigt sich mit der Begriffsgeschichte der Sklaverei und den diskursiven Resonanzen abolitionistischer Politik in den Begriffen radikaler politischer Bewegungen der Moderne wie dem Feminismus, Republikanismus, Anarchismus und Kommunismus.
Marx ist bekanntlich nach seiner frühen Kritik an Hegels Staatstheorie nicht zu moral- und rechtsphilosophischen Überlegungen zurückgekehrt. Er hat die nach zwei Weltkriegen eingetretene Sozialstaatsentwicklung nicht vorhergesehen. So gesehen stellte Marx mit seiner Kritik am Hegelschen Staatsrecht die Weichen in eine falsche Richtung. Er verkennt, wie auch Hegel, die verfassungsrechtlichen Errungenschaften der bürgerlichen Demokratien, mir Menschen- und Bürgerrechten als deren Kern.