Die Populismusforschung hat sich in den letzten 20 Jahren stark entwickelt und inzwischen als eigenständiger Forschungszweig etabliert. Vier Theorieansätze sind hier von Interesse: der minimale Ansatz (Mudde 2004; Mudde u. Rovira Kaltwasser 2019); der komplexe Ansatz (Stanley 2008; Diehl 2024); der diskursanalytische Ansatz (Laclau 2005; Mouffe 2018); und der Totalitarismus-inspirierte Ansatz (Arato 2013; Müller 2016; Rosanvallon 2020; Arato u. Cohen 2022). Die beiden letzteren stehen in enger Verbindung mit Claude Leforts Denken. Obwohl der Totalitarismus-inspirierte Ansatz vielversprechende Elemente der Lefortschen Theorie aufgreift, kann er den Blick auf die komplexe und ambivalente Beziehung des Populismus zur Demokratie (Mény u. Surel 2000) trüben. Es gilt also, die Chancen und Risiken der Anwendung von Leforts Totalitarismustheorie für das Verstehen des Populismus zu überprüfen. Diese liegen in der Verwendung der Konzepte “l’un” für die Repräsentation des Volkes als unveränderbar und homogen sowie des “Egokraten” als Repräsentationsmodus, in dem das Volk und die Macht von der Führerperson verkörpert werden. Beide sind Konzepte, die Lefort anhand des Totalitarismus entwickelt. Populismus steht damit in Beziehung, ohne dadurch beschrieben werden zu können. Mehr noch, mit Leforts Demokratie- und Totalitarismustheorie wird es möglich, diejenigen Stellen aufzuzeigen, an denen das populistische Versprechen von Volkssouveränität beide Möglichkeiten eröffnet: die Redemokratisierung der Demokratie aber auch ihre Abschaffung durch Autoritarismus und Totalitarismus.
Leforts Demokratie- und Totalitarismustheorie
Leforts Demokratietheorie ist vor allem mit dem Ausdruck der „leeren Stelle der Macht“ verbunden, der im vielzitierten Aufsatz „La question de la démocratie“ von 1983 erschien. Dabei betont Lefort die Indeterminiertheit der Demokratie und die Bedeutung der symbolischen Repräsentation als mise en scène für die Konstituierung des Politischen. Demokratie erscheint als ein Prozess auf der Suche nach der Gesellschaftsform, der niemals abgeschlossen werden kann. Lefort spart nicht mit Zumutungen und erkennt zwei wichtige Voraussetzungen der demokratischen Repräsentation.
Erstens kann die Form der demokratischen Gesellschaft niemals fixiert werden, da sie dynamisch und plural ist. Mehr noch, die demokratische Gesellschaft weiß, dass sie sich ihre eigene Ordnung selbst gibt, daher bleibt ihre Begründung immer offen und wird zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Die demokratische Gesellschaft muss nicht nur ihre Veränderungen, sondern auch ihre Indeterminiertheit in die eigene Form aufnehmen. Als Konsequenz kann das Volk weder zu einer homogenen Einheit noch in eine endgültige Form gebracht werden – auch nicht symbolisch. Zweitens, Lefort verbindet mit dem Prinzip der Volkssouveränität eine weitere Unmöglichkeit: keine Person oder Entität kann die Macht verkörpern, da diese allen gehört. Mit Verkörperung bezeichnet Lefort das absorptive Repräsentationsprinzip, wie etwa bei Hobbes’ Leviathan. Den Begriff der Verkörperung entwickelt Lefort anhand von zwei negativen Folien: dem Absolutismus und dem Totalitarismus. Doch Lefort erkennt, dass die Demokratie anfällig ist für die totalitäre Gefahr und für die Durchsetzung einer Gesellschaftskonzeption, die ihre Indeterminiertheit überwindet. Auf die Unbestimmtheit, Dynamik und Pluralität der Demokratie antwortet der Totalitarismus mit der Fixierung des homogenen Volkes (l‘un) sowie mit der Verkörperung der Macht und des Volkes durch eine Führerperson (Egokrat).
In beiden Fällen wird der Repräsentantenkörper des Königs bzw. des „Egokraten“ zum Ort der Macht und Souveränität. Doch während des Absolutismus angesichts des revolutionären Prinzips der Volkssouveränität zerbrach, berücksichtigt der Totalitarismus das Volk als politischen Akteur und beansprucht, es zu repräsentieren. Der Wille des Volkes wird zum Willen des Führers. Allerdings ist hier ein Unterschied wichtig: Anders als der Absolutismus stellen totalitäre Ideologien das Volk als Einheit dar. Totalitäre Regime heben außerdem den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft auf. Der Staat durchdringt die Gesellschaft – ein Gedanke, der dem aufmerksamen Leser von Hannah Arendt nicht entgeht. Damit verschwinden neben der Dynamik und der Pluralität der demokratischen Gesellschaft zwei weitere Prinzipien der Demokratie: die Freiheit und die Menschenrechte, die Lefort ebenfalls als konstitutiv für die moderne Demokratie erkennt.
Totalitarismus operiert innerhalb eines modernen Paradigmas, in dem die Bevölkerung biopolitisch verwaltet wird, aber er kombiniert das biopolitische Ziel mit der Vorstellung einer homogenen und in staatlichen Organisationen erfassten Gesellschaft. Der neue Mensch, von dem bereits die französischen Revolutionäre als Ergebnis neuer sozialer Verhältnisse geträumt haben, wird jetzt zum Gegenstand der wissenschaftlichen Gestaltung und vor allem im Fall des Nationalsozialismus zum „rasseneugenischen“ Projekt. Indem er das Volk als homogenen Körper imaginiert, schließt der Totalitarismus Abweichungen im Denken, Verhalten und in der körperlichen Verfasstheit als bedrohlich aus. Deswegen müssen die „Fremden“ ausgeschlossen werden. Lefort nennt diese totalitäre Vorstellung des homogenen Volkskörpers „l‘un“.
Lefort verbindet seine Totalitarismustheorie mit der Frage nach symbolischer Repräsentation. Um sich repräsentieren zu lassen, reicht es nicht aus, dass das Volk als „l’un“ in Paraden und Massenchoreografien als geordnet und homogen inszeniert wird. Vielmehr kann diese Einheit nur vollständig zur Repräsentation gebracht werden, wenn sie durch den „Egokraten“ verkörpert wird, womit der Totalitarismus die Volkssouveränität auf die Führerperson transferiert. Nun ist diese Volksrepräsentation nicht mehr demokratisch, denn der Wille des Volkes wird zum Willen des Führers. Damit pervertiert der Totalitarismus die Repräsentationsdynamik des Volkes, indem er eine homogene Volkseinheit herzustellen versucht und die Verkörperung der Macht durch den „Egokraten“ wiederkehren lässt, wie Lefort in der Aufsatzsammlung L’invention démocratique. Les limites de la domination totalitaire von 1981 darlegt.
Anwendung auf das Problem des Populismus
Lefort reflektiert das potentielle Kippen der Demokratie in den Totalitarismus, aber er geht nicht auf Populismus ein. Wie Thomás Zicman de Barros schreibt, „[t]here is no populism in Lefort“ (im Erscheinen). Trotzdem liefern die Konzepte des „l’un“ und „Egokraten“ wichtige Instrumente, um über die Repräsentationsbeziehungen in der Demokratie, im Totalitarismus und im Populismus nachzudenken. Autor*innen, die sich für Repräsentation interessieren, greifen auf Lefort zurück.
Der diskursive Ansatz von Laclau geht explizit auf Leforts Repräsentationstheorie ein. Allerdings verschiebt Laclau in On Populist Reason seinen Repräsentationsansatz: “for Lefort, the place of power in democracies is empty. For me, the question poses itself differently: it is a question of producing emptiness out of the operation of hegemonic logics. For me, emptiness is a type of identity, not a structural location” (2005: 166). Genau die Frage der Identitätskonstruktion und ihre Opposition zum Feind, die für Laclau zentral ist, ist für den offenen und dynamischen Charakter der demokratischen Gesellschaft nicht unproblematisch, denn sie birgt eine symbolische Fixierung – ein Problem übrigens, das die semiotische Beschreibung als „empty signifier“ nicht löst. Und so kommt Laclau zum Ergebnis: „emptiness and fullness are, in fact, synonymous“ (2005: 170). Kritiker wie Philippe Urfalino (2019in einen Widerhall von Carl Schmitt und George Sorel. Diesem antidemokratischen Potential hat Mouffe (2019) versucht, mit einer Reformulierung des Populismusansatzes zu begegnen, der die Pluralität der demokratischen Gesellschaft aufnimmt. Doch die Spannungen zwischen momentaner Fixierung und Entkörperung der Gesellschaft werden dadurch nicht beseitigt.
Der Totalitarismus-inspirierte Populismusansatz knüpft an einer anderen Stelle von Leforts Theorie an und verbindet Populismus mit den Konzepten des „Egokraten“ und des „l‘un“. Das Problem dabei ist, dass Populismus nicht mehr als ambivalentes Phänomen (Mény/Surel 2000) erkannt, sondern ausschließlich in seinem antidemokratischen Potential dargestellt wird, womit der Unterschied zum Totalitarismus bzw. Faschismus verschwimmt. Für Rosanvallon imaginiert der Populismus das Volk als homogene Einheit, die vom Führer verkörpert wird. In seinen ersten Aufsätzen zum Thema setzt er „l’un“ und „Egokrat“ in direkten Bezug zum Populismus (Diehl 2019). Später, in Das Jahrhundert des Populismus (2020), werden diese totalitären Konturen aufgeweicht. Rosanvallon fügt eine besondere Variante des „Egokraten“ ein: „L’homme peuple“, der in populistischer Manier eine mimetische und pars pro toto Beziehung zum Volk pflegt, jedoch immer noch im Verkörperungsmodus operiert. Aratos Aufsatz von 2013 und sein neuestes Buch mit Jean Cohen Populism and Civil Society (2022) gehen einen ähnlichen Weg. Demzufolge ist die Verkörperung des Volkes durch die Führerfigur eine wichtige Säule des Populismus und nur möglich, weil sich Repräsentation als pars pro toto artikuliert. Dagegen ist außerdem einzuwenden, dass pars-pro-toto-Repräsentation nicht per se Verkörperungsrepräsentation sein muss. In meiner Replik „Populism in power and its hybridizations“ (2024) habe ich darauf hingewiesen, dass sich auch Solidaritätsbekundungen – wie etwa das Motto der 1968er französischen Linken „Nous sommes tous de juifs allemands“ als Unterstützung von Daniel Cohn-Bendit – als pars-pro-toto-Repräsentation artikulieren lassen.
Ein weiterer Einwand gegen den Totalitarismus-inspirierten Populismusansatz betrifft die Volkssouveränität, die eine zentrale Säule des Populismus ist. In der Verkörperung dagegen liegt die Souveränität vollständig bei der Führerperson. Obwohl die Beziehung zwischen Führerperson und Volk im Populismus ambivalent ist, bleibt das Volkssouveränitätsprinzip, anders als beim Egokraten im Faschismus, bestehen. Es kann also mit Lefort argumentiert werden, dass der symbolische Ort der Macht entscheidend ist, um eine analytische Trennlinie zwischen Populismus und Totalitarismus zu markieren.
Auch die Charakterisierung der populistischen Volkskonstruktion als homogen hat das Problem, das totalitäre „l’un“ zu aktivieren. Dies wird teilweise durch die Populismusforschung begünstigt (u.a. Mudde 20004: 543; Taggart 2000: 96). Doch wie diese Homogenität verstanden werden soll, bleibt in der Populismusforschung ungeklärt. Das „homogene Volk“ kann sich sowohl auf die populistische Unfähigkeit, die Pluralität des Volkes darzustellen, als auch auf die Vorstellung des Volkes als „l’un“ beziehen. In der Forschungsliteratur verschwimmen häufig die Grenzen zwischen beiden Aspekten. Genau an dieser Stelle liegt das Potential für das Verstehen der ambivalenten Beziehung des Populismus zur Demokratie. Totalitarismus-inspirierte Ansätze betonen den exkludierenden Charakter des Populismus und übersehen den „inklusiven Populismus“ (Mudde u. Rovira Kaltwasser 2013). Linkspopulistische Fälle wie etwa Podemos oder MAS unter Evo Morales, die explizit exkludierte Teile der Bevölkerung (LGBTQ für Podemos und Indigene für MAS) repräsentieren wollen, fallen durch das Raster. Jan-Werner Müller hat Recht, wenn er in seinem Buch Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit (2021) auf den problematischen Anspruch des Populismus, Alleinvertreter des Volkes zu sein, hinweist. Dies begünstigt tatsächlich totalitäre Auswüchse. Allerdings kann die populistische Repräsentation auch als Einladung an exkludierte Gruppierungen verstanden werden, wie es in vielen linkspopulistischen Bewegungen und Parteien zu beobachten ist.
Totalitarismus-inspirierte Ansätze können Rechtspopulismus gut beschreiben, generalisierbar für alle Populismusformen sind sie aber nicht. Mudde hat bereits 2004 gezeigt, dass Populismus als „thin-centered ideology“ mit unterschiedlichen robusteren Ideologien kombinierbar ist. Die Konstruktion des Volkes als homogener (Volks-)Körper ist ein typisches Ideologem von Totalitarismus und Faschismus, das von der extremen und radikalen Rechten übernommen wird. Der Rechtspopulismus kombiniert diesen ideologischen Kern des Rechtsextremismus mit dem Populismus und artikuliert ihn in milderer Form. Empirisch braucht man ein komplexes Populismuskonzept (Diehl 2024), um den Rechtspopulismus und seine aktuelle Radikalisierung zu verstehen. Damit können sowohl der Populismus als auch die beigemischten rechtsextremen Ideologeme berücksichtigt werden. Je stärker der rechtsextremistische Anteil, desto stärker tritt die Exklusion von „Fremden“ als „Eindringlinge“ in den Vordergrund. Dies ist im Moment in vielen europäischen Ländern zu beobachten. Normalisierungs- und Radikalisierungsprozesse des rechtsextremen Denkens werden dadurch sichtbar.
Letztlich betont der Totalitarismus-inspirierte Ansatz die Verschiebung der symbolischen Volksrepräsentation im Populismus. Das stimmt, doch darin lässt sich noch keine Verkörperung erkennen. Für Carlos de la Torre ist sie „semi-embodiment“ (2013). Ich würde noch weiter gehen. Populismus befindet sich in einem fragilen Spannungsfeld zwischen Demokratie und Totalitarismus und arbeitet mit „Twists“, er kann zwar totalitär werden, aber dann wird er zu etwas anderem (Diehl 2019). Mit Lefort kann gezeigt werden, dass Populismus nicht Totalitarismus ist (Volkssouveränitätsprinzip). Empirisch aber mischen sich beide Phänomene in unterschiedlichen Intensitäten, wie aktuelle Rechtspopulismen zeigen. Lefort bietet einen wichtigen Beitrag zu dieser Klärung.
Paula Diehl ist für den Bereich Politische Theorie, Ideengeschichte und politische Kultur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zuständig. Sie ist auch Direktorin des Internationalen Netzwerks für Populismusforschung.