theorieblog.de | Lefort-Schwerpunkt: Reboot der Radikaldemokratie? Zur Kritik an Claude Leforts vermeintlichem Liberalismus
19. Dezember 2024, Oppelt
Schon vor einiger Zeit haben Dirk Jörke und Christoph Held die Radikalität der Demokratietheorie Chantal Mouffes bezweifelt und ihr unterstellt, in die „Lefortsche Liberalismusfalle“ geraten zu sein, ja sich in dieser gar „verstrickt“ zu haben. Zu sehr stütze Mouffe sich seither auf liberale Autor*innen und habe sich damit einen „problematischen institutionellen Universalismus“ eingekauft, der in letzter Konsequenz gegen ihre Absicht zu einer Verstetigung gesellschaftlicher Machtungleichgewichte führen müsse. Insbesondere die Übernahme der Lefortschen Figur der „leeren Mitte der Macht“ habe sie übersehen lassen, dass sich liberale Institutionenarrangements mit Lefort nicht radikal verändern ließen, wo diesen der Ausschluss der Massen von der Politik eingeschrieben sei.
Wenig später legte Dirk Jörke zusammen mit Nicolai Hofmann nach und identifizierte die vermeintlichen Strukturdefizite des radikaldemokratischen Diskurses als „Erblasten“ kontextvergessener Lefort-Lektüren. Diese hätten zu einer „politischen Fehlbewertung“ Leforts geführt und dessen „libertär-liberale Programmatik“ übersehen lassen. Leforts „affirmative[s] Interesse an Autor*innen des liberalen Kanons“, vor allem an der „liberal-aristokratischen Theorie“ Tocquevilles, rückten ihn vielmehr in die Nähe revisionistischer Historiker wie François Furet. Mit seinem Engagement am Centre Raymond Aron habe Lefort schließlich am anti-marxistischen Projekt einer Gegengeschichtsschreibung, einer politischen Liberalisierung der republikanischen Tradition und einer Umdeutung der Französischen Revolution mitgewirkt und fortan für klassisch liberale institutionelle Arrangements geworben. Als zentraler Stichwortgeber sei außerdem Leforts liberale Institutionenskepsis in den Diskurs der Radikaldemokratie eingespeist worden, wo infolgedessen sein anti-staatlicher und anti-organisatorischer „Idealismus einer reinen Bewegungsdemokratie“ zu einer allgemeinen Verweigerung gegenüber institutionellen Fragestellungen geführt habe. Die Radikaldemokratie könne sich folglich nicht (länger) folgenlos bei Lefort bedienen, sondern müsse eine „Neubefragung“ dessen „politisch fragwürdigen Erbes“ vornehmen.
Leicht zugespitzt verstehe ich die Kritik so, dass Lefort also eine geheime Agenda verfolgt und mit seiner Demokratietheorie eine Art Trojaner programmiert haben soll, der dank anhaltender Rezeption und „endloser“ Repetition die postmarxistische Firewall des radikaldemokratischen Diskurses geschleift und eine liberale Malware installiert hat, die jede wirkliche Demokratisierung erfolgreich sabotiert. Dies wirft wichtige methodische Fragen nach dem Verhältnis von Politischer Theorie und Ideengeschichte auf, wie es zuletzt in Augsburg diskutiert wurde und hier auf dem Theorieblog Gegenstand einer Debatte ist. Lässt sich etwa eine in Theorien entwickelte oder hinter diesen stehende ‚Intention‘ von Institutionen (der Ausschluss der Massen von der Politik) wirklich unverfälscht und absichtsgetreu in deren Praxis einschreiben und dann aller historischen, politischen und sozialen Entwicklungen zum Trotz unbeschadet durchhalten, gegen jede Form ihrer Umdeutung imprägnieren? Was genau bedeutet es, sich mit Autor*innen, die (als Ergebnis kontingenter Deutungskämpfe und damit selten unumstritten) einer bestimmten Tradition zugerechnet werden, irgendetwas ‚einzukaufen‘, worüber man dann allen eigenen Absichten, Adaptionen und Interpretationen zum Trotz die Kontrolle verliert? Welche Konsequenz müsste die Radikaldemokratie schließlich daraus ziehen, von Lefort in die Falle gelockt worden zu sein: Ihren ideengeschichtlichen Bestand auszumisten, sich neu aufzustellen, zu regenerieren? Um dann aber was zu sein: Effizienter? Radikaler? Glaubhafter? Und wie müsste ein solcher Reboot der Radikaldemokratie dann (besser) ablaufen?
Wichtiger scheint mir jedoch, auf die konkreten Vorwürfe zu reagieren, um Leforts Bedeutung nicht nur für die radikale Demokratietheorie herauszustellen: Die Erinnerung daran wachzuhalten, dass die moderne Demokratie nicht selbstverständlich und auf ewig über den Totalitarismus triumphieren muss. Die Versuche, Lefort als Liberalen zu überführen, setzen daher auf der falschen Ebene an und verfehlen, worum es (mit) Lefort eigentlich geht.
Dafür muss ich zunächst die Prämisse akzeptieren (oder ignorieren), wonach die Skepsis der von Lefort beeinflussten Radikaldemokratie gegenüber Staat und Institutionen an sich sowie für diese selbst problematisch sei, es hier also tatsächlich eine Art Erblast oder Leidensdruck zu beklagen gibt (Oliver Flügel-Martinsen hat dazu das Wesentliche formuliert). Sodann möchte ich zurückfragen, worin genau die Falle eigentlich besteht, in die so viele Radikaldemokrat*innen blindlings getappt sein sollen. Schließlich hat Lefort selber nie ein Geheimnis aus seiner Abkehr vom orthodoxen Marxismus (wohlgemerkt nicht von Marx!) und seiner damit verbundenen Hinwendung zur bzw. seiner „Neubefragung” der liberalen Demokratie und des liberal-demokratischen Denkens (etwa Tocquevilles) gemacht. Nicht nur stand dies ja wohl sogar auf dem Klingelschild seines Arbeitgebers, auch zahlreiche seiner Publikationen stellten die Namen der damals innerhalb der französischen Linken verfemten Autor*innen sowie den Begriff des Liberalismus selbst bereits im Titel offen zur Schau.
Gerade von Tocqueville ist zudem bekannt, dass er sich selber als Liberalen einer neuen Art verstanden hat und ja, liberal bedeutet auch im liberalen Sinne nicht nur liberal. In seinem zentralen Aufsatz über ‚Die Frage der Demokratie‘ hat Lefort aber selber ‚eingestanden‘, dass Tocqueville „als theoretischer Vordenker des modernen politischen Liberalismus in Mode gekommen ist“, was ihm explizit als wenig interessant erschien (S. 289). Lefort bewertete Tocquevilles Analysen als „keineswegs unstrittig“ und attestierte ihm sogar „intellektuellen Widerstand (verbunden mit einem politischen Vorurteil) angesichts der Ungewissheiten der Demokratie“ (S. 290). Hat sich Lefort also am Ende in Tocqueville getäuscht? Ist er selber in eine Tocquevillsche Liberalismusfalle geraten? Wer stellt hier eigentlich wem ein Bein?
Ich denke, dass ein zu starker Fokus auf den Kontext in die Irre führen kann, zumal bei aller Bedeutung kontextsensibler Lektüren doch immer bedacht werden muss, dass (wir) Rezipient*innen (uns) den jeweils als relevant erscheinenden Kontext mehr oder weniger interessegeleitet (und ressourcenbedingt) zurechtschneiden (müssen).
Worum also geht es (mit) Lefort? Zuvorderst darum, sich „von herrschenden und rivalisierenden Ideologien“ zu befreien (S. 281), um so ein Verständnis des neuartigen Phänomens totalitärer Herrschaft zu ermöglichen, das seinen Ursprung im „Abenteuer der modernen Demokratie“ (S. 288) nahm. Am vorläufigen Ende dieses Abenteuers – und das war der für Lefort relevante Kontext – ging es ihm angesichts der Erfahrung des Totalitarismus also niemals darum, die Fronten zu wechseln und in welches feindliche Lager auch immer überzulaufen. Ganz im Gegenteil ist er mit seiner Abkehr von der zu seiner Zeit dominanten Auslegung des Marxismus durch den Parti communiste français und die KPdSU allen politischen Grabenkämpfen von der Fahne gegangen, um die Bedingungen der Möglichkeit zu analysieren, vor dem Hintergrund einer geteilten Erfahrung der Welt verschiedene Antworten auf dieselbe Frage (der Demokratie) überhaupt zueinander in Konkurrenz bringen zu können.
Seine Gesprächspartner*innen wählte er entsprechend nicht nach deren Trikotfarbe aus. So gibt er in seinem wegweisenden Essay zur Fortdauer des Theologisch-Politischen an, dass ihn an den Denker*innen des frühen 19. Jahrhunderts vor allem eines interessierte: Das sich in ihren Schriften mit der Erinnerung an das Ereignis der Französischen Revolution abbildende „Gefühl eines Bruchs, […] der sich nicht auf das Feld der politisch, ökonomisch oder sozial genannten Institutionen beschränkt, sondern [uns] mit der Institution als solcher in Beziehung setzt“. Dieses Gefühl, „gleichgültig“ wie es dann theoretisch oder politisch umgesetzt wurde, vereinte „an einem Ende [den] Legitimist[en] de Maistre, an dem anderen [den] Sozialist[en] Leorux, und zwischen diesen beiden so einzigartige Denker wie Ballanche, Chateaubriand, Michelet oder Quinet. Sie alle sprechen die gleiche, zugleich politische, philosophische und religiöse Sprache“ (S. 31-32).
Was Lefort an Tocqueville schätzte, war also nicht dessen ‚Liberalismus‘, sondern seine Analyse der demokratischen Revolution „im Zustand der Gesellschaft“, „im Fleisch des Gesellschaftlichen“. Lefort gibt hier einen entscheidenden Lektürehinweis auf den Einfluss der Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys, dessen Bedeutung für die Politische Theorie (nicht nur Leforts) Michel Dormal zuletzt vorgestellt hat. Lefort las also Autor*innen, die ihm im Rahmen einer Politischen Phänomenologie einen Zugang zu jenen Erfahrungen verschafften, die sein Verständnis für die permanente Gefährdung der Demokratie durch die von ihr selbst geschaffenen Bedingungen beförderten.
Mit Merleau-Ponty könnte man Leforts Perspektive auf den Kanon der Ideengeschichte daher als Erfahrungsspeicher begreifen. Es waren konkret die in und mit der Lektüre wieder-holbaren Erfahrungen der Ungewissheit und Unbestimmtheit, des Abenteuers der modernen Demokratie, die „am Ende“ dieses Abenteuers nicht mehr so leicht und unmittelbar zugänglich sind. Und hier erst kommen die Antworten ins Spiel, wird relevant, wie sich die Macht in der modernen Demokratie angesichts ihrer Entleerung im Zuge der Revolution in Szene setzt und so den Individuen in ihrer Ko-Existenz sowie ihrer Beziehung zur Macht als Gesellschaft überhaupt Form und Sinn verleiht.
Politisch wird diese Phänomenologie, wo sie leibliche Erfahrungen der Lebensbedingungen in bestimmten Regimen an deren eigenen Ansprüchen und Selbstbeschreibungen misst. Wo sie also angesichts des (notwendig scheiternden) Versuchs der Überführung abstrakter Prinzipien in konkrete Politik analysiert, wie dies zu Widerspruch und damit einem Offenhalten des Politischen und dem Erhalt der Freiheit gegen die totalitäre Verführung angesichts der Ungewissheit der modernen Demokratie beitragen kann.
Insofern stimmt es, dass Lefort sich für den Universalismus (liberaler) Institutionen interessierte, doch ist das nur die eine Seite. Am Gegenpol, wo eben abstrakte Prinzipien offizieller Verlautbarungen auf konkrete Erfahrungen der Lebenswirklichkeit prallen, sind weder (liberales) Individuum, noch (sozialistisches) Kollektiv Ausgangs- und Endpunkt der Analysen, sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen, wie dieses Regime sie tatsächlich ermöglicht oder unterdrückt: „Das Volk, die Nation und der Staat errichten sich als universelle Wesenheiten, auf die jedes Individuum, jede Gruppe gleichermaßen bezogen ist. Doch […] ihre Repräsentation ist selbst ständig abhängig von einem politischen Diskurs und einer geschichtlichen und gesellschaftlichen Ausgestaltung, die ihrerseits stets an die ideologischen Auseinandersetzungen gebunden bleibt“ (S. 295).
Auch oder gerade eine Demokratie gegen den Staat braucht also mit Lefort immer auch Staat und Institutionen, um unter der Erfahrung der Auflösung der Grundlagen aller Gewissheit und in der gelebten Ko-Existenz die Freiheit und Gleichheit gegen die permanenten Versuche ihrer Rücknahme auch seitens dieses Staates und seiner Institutionen zu verteidigen. Das anzunehmen, bedeutet keineswegs, in eine Falle gegangen zu sein. Viel eher passt hier das Bild eines Fangnetzes, das hinreichend engmaschig ist, um den Absturz ins Bodenlose (zumindest vorläufig) zu vermeiden, jedoch weit genug gestrickt, um die Fallhöhe nicht vergessen zu lassen. Das Erproben einer Antwort auf die vielen Fragen der Demokratie bedeutet dann mitnichten, diese Antwort als einzig- und letztgültig zu akzeptieren oder gar die Fragen überhaupt nicht mehr zu stellen. Denn nur so ist der mögliche Neustart der Demokratie gerade im Angesicht der permanenten Gefahr ihrer Abstürze auf Dauer zu gewährleisten.
Martin Oppelt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft/ Politische Theorie der Universität Augsburg. Gegenwärtig forscht er zur Bedeutung des Verrats im Demokratischen Denken.
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