E pluribus unum – zur synthetischen Kraft von Habermas‘ theoretischer Methodik

Lange bevor „Interdisziplinarität“ zu einem verbreiteten Mantra zur Bannung von Drittmittelgebern wurde, hat Jürgen Habermas ein inter- und transdisziplinäres Werk ausgearbeitet, das sich weder der Philosophie noch den Sozialwissenschaften eindeutig zuordnen lässt und das darüber hinaus Befunde einer Fülle weiterer Disziplinen einbezieht. In der Philosophie wirbt Habermas dafür, das philosophische Bewusstsein für die historisch-soziale Situiertheit der Vernunft in Auseinandersetzung mit aktueller sozialwissenschaftlicher Forschung und der soziologischen Gesellschaftstheorie zu gewinnen. Umgekehrt versucht er, den Sozialwissenschaften die methodologische, handlungstheoretische, demokratietheoretische und gesellschaftstheoretische Bedeutung von Rationalität näher zu bringen und sie auf einen Modus der Gesellschaftstheorie und -kritik zu verpflichten, der für die Selbstverständigung politischer Gemeinschaften anschlussfähig bleibt. Die teilweise durchaus technisch-trockene Durcharbeitung verschiedener disziplinärer Fachsprachen und Forschungsstände rechtfertigt sich dabei aus einer unbedingten Gegenstandsorientierung. Die Theorie einer einseitig rationalisierten Moderne kann nur noch gebrochen durch das Prisma verschiedener Spezialdiskurse zum Vorschein gebracht werden.

Aus heutiger Perspektive, vor dem Hintergrund weiterer Binnendifferenzierung und wechselseitiger Abgrenzung der Disziplinen, faszinieren die Leichtfüßigkeit, mit der Habermas sich zwischen Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft, Linguistik und Anthropologie bewegt, aber auch die Konsequenz, mit der er seinen Gesamtentwurf zwischen allen Stühlen platziert. Trotz der enormen weltweiten Aufmerksamkeit, die das Habermas’sche Werk erfahren hat (Corchia et al 2019), hatten die transdisziplinären Integrationsversuche nicht die erhoffte Wirkung. Schon die Rezeption pflegt die im Werk amalgamierten Aspekte voneinander zu lösen und in eben jene disziplinären Spezialdiskurse einzuspeisen, gegen deren Isolation die Habermas’sche Theorie gerichtet ist. Bedeutungstheorie, Rationalitätstheorie, Diskursethik und formalpragmatische Analysen werden in der Philosophie aufgegriffen, während sich die Soziologie vornehmlich mit Handlungstheorie, Gesellschaftstheorie und Öffentlichkeitsforschung auseinandersetzt und die Politikwissenschaft ein empirisch orientiertes Programm der Deliberationsforschung aufgesetzt hat, das zwar in seinen Prämissen an eine handlungstheoretische Rationalitäts- und eine gesellschaftstheoretische Öffentlichkeitstheorie anschließt, praktisch aber häufig in sozialtechnologische Verfahrensforschung ableitet.

Diese Isolation von Einzelaspekten hat eine der Dimensionen verdeckt, in der es sich besonders lohnt, von Habermas zu lernen: seine integrative Methode der Verknüpfung von systematischer Theoriebildung und hermeneutischer Interpretation. Diese ist längst nicht nur für interdisziplinäre Theorieunternehmungen interessant. Mittlerweile hat die theoretische Fragmentierung in den Sozialwissenschaften Ausmaße erreicht, die selbst die Rede von einer multiparadigmatischen Lage überoptimistisch scheinen lassen. Der überbordenden Vielfalt der Theorievorschläge, Ansätze und Methodologien liegen unterschiedliche Theorieverständnisse und theoretische Zielsetzungen zugrunde, die nicht auf wenige Grundkonflikte zurückgeführt werden können (siehe Schmitz und Schmidt-Wellenburg 2024; Straßenberger und Münkler 2007). Mittlerweile muss auch die disziplinär gebundene Theorie in hohem Ausmaß theorievergleichend und theorieintegrativ vorgehen, um die theoretische Vielfalt im Fach produktiv aufnehmen zu können.

In einer derartigen Lage lohnt es sich zu fragen, wie es Habermas in seinem Werk gelingt, heterogene Denkbewegungen zu integrieren und unterschiedlichste Forschungstraditionen zueinander sprechen zu lassen. Wie findet er fortlaufende Diskursfäden nicht nur innerhalb, sondern sogar zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, die in ihrer Entwicklung wenig Rücksicht aufeinander nehmen?  Habermas hat zwar selbst eher kursorische Bemerkungen zu seiner Methode der Theoriekonstruktion oder des Theorievergleichs gemacht und sich nie als Methodiker der Theoriekonstruktion positioniert, aber aus den Schriften lässt sich durchaus eine zugrunde liegende Methode der produktiven Verarbeitung von Theorie destillieren.

“… on the shoulders of giants.” – Traditionsauslegung als Bedingung von Innovation

Die ‚dünne‘ Abstraktion, die ich im Folgenden als methodischen Kern von Habermas‘ Vorgehen herausarbeiten möchte, ist freilich bei ihm in ein Geflecht materialer Prämissen zum Verhältnis von Subjektivität, Reflexion und Tradition eingebunden. Habermas ist stark von der Tradition der philosophischen Hermeneutik beeinflusst, gegen deren konservative Implikationen er zwar die emanzipatorische Bedeutung von Reflexion geltend macht (Habermas 1971), deren grundlegende Haltung er aber übernimmt. Insbesondere ist er von einem wirkungsgeschichtlichen Denken beeinflusst, das Traditionsfortsetzung und Innovation als wechselseitig aufeinander angewiesene Konzepte behandelt und die Gegenwart als Ort der selektiven und innovativen Anknüpfung an die Überlieferung bestimmt (Habermas 1988, S. 23-24). Habermas begreift Theoriegeschichte deshalb systematisch als Ressource aktueller theoretischer Bemühungen. Das theoretische Selbstverständnis der Gegenwart wird dadurch in seiner kontingenten Historizität durchsichtig – wobei es Habermas anders als Foucault nicht auf die entlarvende Wirkung des Aufblitzens der Beliebigkeit unter dem Schleier der Notwendigkeit, sondern auf die Wiedererschließung vergessener Optionen ankommt: Das Bewusstsein für vergangene Lösungen der Probleme von wissenschaftlicher Welterschließung und Welterklärung  erlauben es, die Gegenwart auf Distanz zu bringen und alternative Lehren aus der Reflexionsgeschichte zu ziehen (vgl. auch Habermas 2019, S. 23-39; Habermas 2001, S. 9).

In der Theorie des kommunikativen Handelns (TkH) bringt Habermas die Verschmelzung von systematischer Theoriebildung und hermeneutisch genauer Interpretation klassischer Ansätze auf die Formel der „Theoriegeschichte in systematischer Absicht“ (Habermas 1981 I, S. 201). Er betrachtet ‚klassische‘ Theorien nicht als überholte Vorläufer, sondern als nach wie vor wegweisende Versuche, wesentliche Momente der Entstehung der modernen Gesellschaft auf den Punkt zu bringen. Die Theorien werden zwar historisch kontextualisiert, aber dennoch als sachlich zeitgenössischbehandelt. Die interpretationsleitende Annahme der Zeitgenossenschaft impliziert, die Ansätze als Beiträge zu nach wie vor relevanten Fragestellungen zu behandeln, die vielleicht unvollständig oder in bestimmten Punkten kontemporären Anforderungen nicht mehr genügen, aber deren Einsichten das aktuelle Reflexionsniveau erst ermöglichen. Aus ihrer Geschichte, aus ihren positiven Leistungen wie aus ihren Fehlern, lässt sich lernen, welche Positionen wir heute noch vertreten können und welche Fragen nach wie vor relevant für den disziplinären Problemhorizont sind. Theoriegeschichte wird dadurch lesbar wie ein Bildungsroman, dessen Etappen notwendige Schritte in der Entwicklung des theoretischen Diskurses darstellen. Dabei geht es immer gleichermaßen um theoretische Begriffe, deren Verzweigungen das Denken in bestimmte Bahnen lenken und das Problembewusstsein, das die Reflexion leitet.

Will man von dieser Haltung methodisch abstrahieren, bietet sich dafür insbesondere die Unterscheidung von Theorie und Bezugsproblem an. Habermas liest Theorien als bezogen auf eine basale Fragestellung oder ein Problem. Das Problem gibt den Relevanzrahmen vor, vor dessen Hintergrund das theoretische Vokabular einer Theorie eine Bedeutung gewinnt – das Problem artikuliert das Erkenntnisinteresse und spezifische Vorannahmen der Theorie. Gleichzeitig interpretieren Theorien das Bezugsproblem, indem sie es auf bestimmte Art und Weise auslegen. Dieses Theorieverständnis lässt sich schematisch abstrahieren (Abbildung 1).

Abbildung 1: Verschränkung von Theorie und Bezugsproblem (aus Anicker 2024, S. 292)

Die Unterscheidung von Theorie und Bezugsproblem ermöglicht, konvergente Problemstellungen zu beobachten und dadurch Ansätze aufeinander zu beziehen, ohne dadurch schon eine theoretische Konvergenz der Ansätze behaupten zu müssen: Verallgemeinernde Systematizität und partikularisierende Hermeneutik werden so simultan möglich. Habermas macht von der Differenz von Problemstellungen und Theorie sehr flexibel Gebrauch. In Der philosophische Diskurs der Moderne wird das Schema beispielsweise zunächst schlicht genutzt, um die Diskurslandschaft zu sortieren und Überblick zu schaffen. Hier nutzt Habermas einen abstrakten Problembezug – die Frage nach dem Verhältnis kultureller und gesellschaftlicher Modernisierung – um den kontemporären philosophischen Diskurs der Moderne über die Opposition zwischen „neukonservativen“ und „postmodernen“ Strömungen darzustellen und damit seine eigene theoretische Positionierung vorzubereiten (Habermas 1988, S. 9–13). Bei konkurrierenden Theorien, die Habermas nicht integriert, sondern zurückweist, nutzt er die problembezogene Theorieinterpretation für Kritik: Er fragt, inwiefern bestehende Theorien systematisch nicht nur ihren eigenen, sondern auch jenen Problemstellungen gerecht werden können, deren Relevanz aus der Problemgeschichte des Faches deutlich wird – und gründet seine Kritik auf die Diagnose unzureichenden Problembewusstseins oder ungenügender Problemlösungen (Habermas 1995).

Die größte Bedeutung kommt dem Schema jedoch bei der Theoriekonstruktion zu. Beispielsweise bearbeitet Habermas in der TkH zwar Meads Problemstellung (Wie entsteht symbolische Gestenkommunikation aus reiz-reaktionsbasierter Sozialität?), nutzt aber Wittgensteins Theorie der Regelfolge, um dieses Problem des Übergangs von regelmäßigem zu regelgeleitetem (symbolischen) Handeln zu klären (vgl. Habermas 1981 II, S. 27-40). Wittgensteins Sprache erlaubt also eine präzisere Antwort auf Meads Frage – eine einfache Argumentationsfigur, die aber ohne die Unterscheidung von Theorie und Problemstellung unzugänglich wäre.

Platz für Neues: Problembezogene Kritik als theoretische Positionierungsstrategie

Auch für die Theoriearchitektur der Theorie deliberativer Demokratie lässt sich eine problemvermittelte Konvergenz verschiedener theoretischer Strömungen nachweisen. Besonders deutlich wird dies etwa in dem einflussreichen Artikel „Three normative models of Democrcacy“ (Habermas 1994), den ich im Folgenden zu Illustrationszwecken genauer rekonstruieren möchte. In diesem Aufsatz grenzt Habermas seine eigene normative Grundlegung der deliberativen Demokratietheorie gegen liberale und republikanische Positionen ab, indem er diese als eine vermittelnde Fortentwicklung dieser beiden Strömungen darstellt.

Die beiden Traditionen werden dabei als konkurrierende Antworten auf die geteilte Frage nach dem normativen Sinn von Demokratie gelesen. Während der Republikanismus von der Idee der Demokratie als Form der Selbstverwirklichung einer ethischen Gemeinschaft ausgeht, sieht der Liberalismus die Demokratie als Regulationsmechanismus für gemeinsame und widerstreitende Interessen eines Kollektivs von Privatpersonen. Wo der Liberalismus Bürgerrechte als ‚negative‘ Abwehrrechte gegen den Staat konzipiert, konzipiert der Republikanismus Rechte, insbesondere Partizipationsrechte, als ermöglichend für politische Partizipation – es sind ‚positive‘ Rechte, die Ausdruck und Mittel der Selbstverwirklichung einer politischen Gemeinschaft sind. Diesen Positionen entspricht eine unterschiedliche Sicht auf die Grundlage von Bürgerrechten: Während Liberale für politische Grundrechte eine außerpolitische Geltungsgrundlage beanspruchen, wurzeln für Republikaner Grundrechte im kollektiven Willen einer politisch-ethischen Gemeinschaft (vgl. 1994, 1-3).

Habermas geht von diesem problembezogenen Gegensatz der beiden demokratietheoretischen Positionen aus, um das Modell der deliberativen Demokratie als eine dritte Möglichkeit einzuführen, die nicht einfach als weitere Option hinzutritt, sondern die als eine Vereinigung und Aufhebung der widerstreitenden Tendenzen von Republikanismus und Liberalismus verstanden werden kann. Der eigene Theorieentwurf wird in jenem Teil des Raums der Gründe platziert, der durch die wechselseitige Kritik der beiden Traditionen freigelegt wird. Während Liberale den Republikanern vorhalten könnten, dass Rechtsstaatsprinzipien nur unzureichend verankert werden können, wenn man sie als kontingenten Ausdruck kollektiver Willensbildung behandelt, lautet die umgekehrte Kritik am Liberalismus, dass die vorpolitische Geltung von Grundfreiheiten im säkularen Sprachspiel der Moderne letztendlich nicht zu begründen ist. Die Theorie deliberativer Demokratie positioniert sich hier zwischen beiden Lagern, indem sie zwar die Grundrechte der demokratischen Willkür entzieht, die Begründung jedoch nicht in einer der Politik vorgelagerten Vernunft sucht, sondern in die Konstitutionsbedingungen von Politik verlegt (siehe auch Habermas, 1998). Eine kompakte Darstellung der Problem- und Lösungsbezüge lässt sich dem folgenden Schema entnehmen:

Abbildung 2: Drei normative Modelle der Demokratie (eigene Darstellung)

Habermas sieht sich, wie er mir freundlicherweise in Reaktion auf eine erste Version dieses Beitrags bestätigt hat, nicht als Erfinder einer als solcher bewusst reflektierten Methode der Theoriekonstruktion. Eher erwirbt er sie als eine implizite Mitgift aus Hegel’scher Begriffsdialektik, Hermeneutik und Parson’scher Konvergenztheoretisierung, die für ihn einen so selbstverständlichen Hintergrund der Theoriearbeit bildete, dass sie keiner expliziten Artikulation bedurfte. Allerdings besteht aus meiner Sicht kein Zweifel, dass sein Werk wegen der Transparenz der Theoriekonstruktion und der Spannweite seiner Synthesen ein eindrucksvolles Beispiel für die Möglichkeiten hermeneutischer Theoriebildung darstellt. In der heutigen Zeit abreißender Theorietraditionen und disziplinärer Fragmentierung ist die synthetische Kraft des problemorientierten Denkens eine wiederzuentdeckende Ressource, um Theorievielfalt produktiv zu nutzen – und das Habermas’sche Werk der vielleicht schlagendste Beweis für ihre Ergiebigkeit.

Dieser Beitrag ist in leicht abgewandelter Form am 07. November 2024 bei Praefaktisch erschienen.

Fabian Anicker ist Fellow am Center for Advanced Internet Studies in Bochum und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie stellvertretender Sprecher der DGS-Sektion „Soziologische Theorie“. Er promovierte 2019 mit einer Arbeit über das Verhältnis von deliberativer Demokratie und Habermas’ Theorie kommunikativer Rationalität und arbeitet aktuell zu soziologischer Theoriebildung und Künstlicher Intelligenz.

Ein Kommentar zu “E pluribus unum – zur synthetischen Kraft von Habermas‘ theoretischer Methodik

  1. “ … in leicht abgewandelter Form …“ – ist ja köstlich!

    der ursprungsartikel ist vernünftigerweise von ca. 60% seines ur-inhaltes hier entrümpelt erschienen.
    zentral der austausch von abb. 2.

    zum jetzt herausgenommenen wären wohl ca. 2-4 eigene beiträge zur verdeutlichung lohnend, – die erstversion auf praefaktisch.de erschließt sich insg. nicht hinreichend.

    sehr gut finde ich den ansatz, (hypo-)thesen/fragen, die ergebnisse u. deren ableitungen/belege dazu in diagramatischen sheets abzubilden!
    die damit verbundenen risiken/probleme werden m. e. zu oft gescheut. ist halt auch eine art, sich nakig zu machen, tragfähigkeiten auch mal im ÜBERBLICK, jenseits einzelner text-wendungen, abschätzen zu können, z. b. ob das geschriebene die diagrammatischen aussagen auch so hergibt.

    ob die wiss. philosophie nach über 50 jahren der elaborierten entwicklung von diagrammatiken in anderen disziplinen, insb. in der systemanalytik, mit UML u.ä., nunmehr doch beginnt sich diese tools zunutze zu machen?

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