Kongresssplitter: Stein oder nicht Stein? Postfundamentalistische Perspektiven auf die Erschöpfung politischer Vorstellungskraft

Kongresssplitter zum Panel Mi E 26 The Crisis of Political Imagination 

Alle Beiträge dieses Panels kreisten um das Spannungsverhältnis zwischen Fluidität und Festigkeit, Werden und Sein, Gestalt und Auflösung, Zirkulation und Fixierung im Denken über das Politische. Mit der Bezeichnung von Beton als „flüssigem Stein“ bot daher gleich der erste Beitrag eine bildliche Klammer für die nachfolgende Debatte. Diese nahm ihren Ausgang von der Beobachtung, dass die Poly-Krise nicht zuletzt auch eine Krise der politischen Imagination sei – der Fähigkeit, sich eine bessere Gesellschaft vorzustellen. Das Panel wollte aus postfundamentalistischer Perspektive nach den Möglichkeitsbedingungen einer Wiederbelebung politischer Vorstellungskraft und Vertiefung der Demokratie fragen.

Die Konzepte des Panels: Gesteinsmetaphern, urbane Logiken, Entstaltung und Aporie

Eröffnet wurde es von Rainer Stummer (Wien), der sich dem explanatorischen Potential geologischer Metaphern in der Politischen Theorie widmete. Seine analytische Gegenüberstellung von Sedimentation bzw. Steinwerdung einerseits und der Instabilisierung, Reaktivierung des Unbeweglichen im Zeichen klimatischen Notstands und seiner Unberechenbarkeiten andererseits setzte sich in Marlon Barbehöns (Heidelberg) Vortrag fort. Er kontrastierte urbane und staatliche Logiken von Raum und Zeit. Während letztere beständig durch das Setzen von Fixpunkten und Grenzen zu kontrollieren suchen, sei der Charakter des Urbanen durch Überfluss, Unerwartetes, Grenzenlosigkeit und unkontrollierbare Zirkulation gekennzeichnet.  

„Entstaltung“ nannte diese Bewegungen der Gestalt-Auflösung und der nicht einzugrenzenden Dynamik unter Bezugnahme auf Walter Benjamin wiederum Michaela Bstieler (Innsbruck). Sie lotete aus, inwiefern die Zentralität der Momente des Werdens gegenüber dem Sein Potential für eine Praxis der „kritischen Imagination“ entfalten könne. Sergej Seitz und Sara Gebh (beide Wien) führten die aufgeworfene Dialektik von gestaltendem und auflösendem Handeln und Denken in ihrem Beitrag fort, der sich entlang von Claude Leforts Gedanken zur Gleichzeitigkeit von Kritik und Gründung mit der Spannung im Begriffspaar der „demokratischen Institutionen“ beschäftigte. Der Widerspruch, der in der Idee von demokratischen Institutionen liege, so schlugen sie vor, könne als Aporie gedacht und eingeholt werden. Diese aporetische Beziehung konzeptualisieren zu können, sei der Vorteil postfundamentalistischer Theorie. Eine demokratische Institution zeichne sich folglich dadurch aus, dass sie die Spannung zwischen Neuerung und Dauerhaftigkeit aufrechterhalte und den Konflikt institutionalisiere. 

Kritik des ewigen Bruchs: Materialistische Perspektiven auf emanzipatorische Utopien

An drei Punkten ließe sich aus Perspektive materialistischer Demokratietheorie einhaken.  

So lassen sich erstens die Gründe für die identifizierte Krise der utopischen Vorstellungskraft kaum greifen, wenn die zerrissene Welt in der Theorie verdoppelt wird – denn dies geschieht, wenn die innere Spannung bürgerlich-liberaler Demokratien im Begriff der Aporie nicht nur abgebildet, sondern normativ aufgewertet wird. Bürgerlich-liberale Demokratie verspricht und realisiert zum Teil politische Freiheit und Gleichheit auf Basis sozialer Ungleichheit und Unfreiheit. Dieser Widerspruch kann als Grund für die Krise analysiert werden, statt ihn theoretisch zu wiederholen. Dann geraten die – veränderbaren – Mechanismen einer Gesellschaft in den Blick, die systematisch vereinzelt, die Vereinzelten in Konkurrenz zueinander setzt, Ohnmacht produziert und die Fantasie erstickt. 

Die Affirmation des beständigen Bruchs, des Unerwarteten und Neuen, das aus einer verflüssigten, urbanen Unordnung uns quasi messianisch entgegentritt, erscheint dann zweitens selbst als Symptom der Krise politischer Imagination, der die emanzipatorischen Utopien abhandengekommen sind. Eine solche Utopie könnte gegenüber dem zur Ewigkeit verdammten Konflikt die Überwindung der Widersprüche und Spannungen bilden bspw. als “emphatische Demokratie” (Andreas Fisahn) und als “Ende der Politik” (Alex Demirović) . 

Mit postfundamentalistischen Theorieansätzen lässt sich drittens Emanzipation als Unterfangen praktisch handelnder Menschen nur schwer denken. Eine konkrete Praxis zur Wiederbelebung der politischen Imagination und der Vertiefung der Demokratie gerät selbst in Widersprüche. Denn wenn Menschen in Bewegungen die versteinerten Verhältnisse politisieren, gibt es nicht nur Momente des Bruchs und der Verflüssigung. Sie kommunizieren, argumentieren, einigen sich, planen, treffen Entscheidungen, die prinzipiell auch morgen noch Gültigkeit haben, bzw. legen für deren Veränderung ein Verfahren fest. All diese Aktivitäten fixieren, definieren, stellen temporär still. In der auf dem Panel eingenommenen Perspektive postfundamentalistischer Theorie bleibt uneindeutig, ob sie damit bereits in die staatliche Logik der repressiven Gestalt und des Steinwerdens fallen.  

Norma Tiedemann arbeitet als Koordinatorin des Promotionskollegs „JUST – Gerechte und Nachhaltige Transformation“ an der Universität Kassel. Sie hat zu munizipalistischen Plattformen in Zagreb und Belgrad promoviert, die sie aus Perspektive materialistische Demokratie- und Staatstheorie als „un/gehorsam“-demokratische Projekte im Kontext umkämpfter Patronagestaatlichkeit charakterisiert.

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