Kongresssplitter zum Panel Do D 28 — Vom Wandel zur Krise: Entwicklungslinien bundesrepublikanischer Demokratie vor der Polykrise
Wie hat sich die Demokratie in der Bundesrepublik, wie hat sich einer ihrer maßgeblichen Akteure und wie hat sich der Diskurs über die Demokratie der Bundesrepublik bis zum Beginn der 2020er Jahre verändert? Dies waren die Fragen des Panels Vom Wandel zur Krise: Entwicklungslinien bundesrepublikanischer Demokratie vor der Polykrise. Die Beiträge nahmen allesamt eine „gesamtdeutsche” Perspektive ein, in der die Spezifik der Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands weder inhaltlich noch forschungspragmatisch in den Blick kam. Dass es hinsichtlich der Entwicklungslinien der Demokratie jedoch Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland geben könnte, haben zuletzt etwa die festgestellten Differenzen im Wahlverhalten nahegelegt.
Das Panel war aufgrund zweier kurzfristiger Ausfälle mit drei Vorträgen besetzt. Auf einen maßgeblichen Akteur der bundesrepublikanischen Demokratie fokussierend, reflektierte Thomas Biebricher in seinem Vortrag die Entwicklung der Unionsparteien in der „Ära Merkel“ kritisch. Er legte dabei ein Verständnis von Konservatismus zugrunde, das insbesondere auf das Verhältnis von Bewahrung zu Veränderung abhebt. Auch für den Konservatismus seien Veränderungen nötig, sie sollten aber inkrementell angelegt sein und auf Erfahrungen basieren. Aus Biebrichers Sicht entsprach das Handeln der Unionsparteien in der „Ära Merkel“ diesem Verständnis von Konservatismus unter anderem nicht, weil „eine raum-zeitliche Externalisierung von Problemen auf Kosten der Zukunft“ betrieben worden sei. Unter Berücksichtigung der Geschichte der Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands wäre zu fragen, ob diese „Externalisierung“ eine innerdeutsche Dimension aufweist, etwa von West- nach Ostdeutschland.
Im Zentrum von Thorsten Thiels Vortrag zu einem gemeinsamen Projekt mit Jeanette Hofmann, Stephan Bohn und Gregor Wiedemann stand die Entwicklung des Diskurses über die Demokratie der Bundesrepublik. Thiel zeichnete anhand quantitativer Daten nach, wie zwischen 1990 und 2021 über Demokratie in überregionalen Tageszeitungen geschrieben und in Reden von Politiker:innen gesprochen wurde. Herausgegriffen wurden hier insbesondere die Rubriken der parlamentarischen Demokratie, der Beteiligungsformen und der Diagnosen von Krisenerscheinungen in der Bundesrepublik. Stand im Vortrag der Vergleich des medialen Diskurses über Demokratie zu dem des politischen Betriebs im Vordergrund, wäre es auch interessant zu erfahren, welche Unterschiede es darüber hinaus zwischen dem Diskurs über Demokratie in Ost- und Westdeutschland gibt. Wie auch auf dem Panel geäußert, werden allerdings die Limitationen der Datengrundlage bei dieser und ähnlichen Fragen deutlich. Denn in welchen überregionalen Tageszeitungen und in welchen Reden welcher Politiker:innen wäre überhaupt ein spezifisch ostdeutscher Diskurs über die bundesrepublikanische Demokratie auszumachen?
Veith Selk thematisierte in seinem Vortrag das Verhältnis von Zeitdiagnose und Demokratietheorie. Zunächst präsentierte er seine zeitdiagnostische These von der Devolution der Demokratie, die sich durch vier Aspekte auszeichnet: eine Zunahme der Komplexität, aber auch der Politisierung von politischen Prozessen und Verfahren, die Feststellung von „Wissens- und Mentalitätsungleichheiten“ unter den Bürger:innen sowie das „Ende des demokratischen Kapitalismus“. Vor dem Hintergrund struktureller Unterschiede zwischen West und Ost stellt sich bereits die Frage, ob einige oder gar alle Aspekte der Devolutionsdiagnose Spezifika für Ost- und Westdeutschland aufweisen. Die Devolution der Demokratie stellt für Selk aber nicht allein das Funktionieren von Demokratien infrage. Sie fordert auch die Leistungsfähigkeit der Demokratietheorie heraus, überhaupt noch angemessen auf diese Diagnose reagieren zu können. Selk versuchte, dies mit Schlaglichtern auf die Entwicklung der demokratietheoretischen Debatte in Deutschland zu untermauern. Dass aber das Ende der Demokratietheorie alles andere als ausgemacht ist, lässt sich anhand der Frage nach Ost-West-Unterschieden ebenfalls illustrieren. Denn sieht man wie Selk die Aufgabe der Demokratietheorie darin, zwischen deskriptiver und präskriptiver Dimension zu vermitteln, ergeben sich durch eine ausgeprägtere Sensibilität für mögliche Differenzen zwischen West- und Ostdeutschland Chancen für die Demokratietheorie. Präskriptive Vorschläge müssten eine Berücksichtigung der deskriptiv ausgemachten Unterschiede zumindest erwägen. Damit könnte die Demokratietheorie auch in der präskriptiven Dimension von nuancierteren Beschreibungen profitieren. Inwieweit diese Überlegung verallgemeinerbar ist, mag hier dahinstehen. Zumindest wird deutlich, dass sie auch, aber nicht allein für eine Demokratietheorie im Kontext der Bundesrepublik Anknüpfungspunkte bereithält. Anders als es der von Selk angestimmte Abgesang suggeriert, muss eine zwischen Präskription und Deskription vermittelnde Demokratietheorie also gar nicht an ihr Ende kommen, sondern hat weiterhin akute und kritische Fragen zu bearbeiten. Eingepreist ist dabei, dass die Antworten auf diese Fragen plural ausfallen werden und die Spannung zwischen der deskriptiven und präskriptiven Dimension nicht auflösen werden können.
Manuel Kautz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Professur für Politische Theorie der Universität Erfurt. In seinem Dissertationsprojekt forscht er zu historischen und zeitgenössischen Theorien politischer Repräsentation und zu den Herausforderungen ihrer Systematisierung.