Kongresssplitter: Die Kraft des Anderen: Zum demokratischen Potential (post)migrantischer Gegenpraxis

Kongresssplitter zu Panel Di D14 – Gegenuntersuchungen der „Migrationskrise“: Politiktheoretische Perspektiven auf migrantische Kämpfe und postmigrantische Allianzen  

Das von Jeanette Ehrmann und Laura Gorriahn organisierte Panel intervenierte in die gegenwärtige Migrationsdebatte und wies dabei die vielfach vorgenommene Rahmung der Krise der Demokratie als Krise der Migration zurück. Anstelle einer politiktheoretischen Analyse staatlicher Migrationsregime fokussierten die Beiträge auf migrantische und diasporische Gegenperspektiven, um das demokratische Potential von globaler Kohabitation und postnationaler Partizipation auszuloten und alternative Formen der Vergemeinschaftung zu theoretisieren. Ich möchte diesem Einsatzpunkt des „Gegen“, der im Rahmen des Panels unthematisch geblieben ist, in der Folge nachgehen und die einzelnen Beiträge auf ihr begriffstheoretisches Verständnis befragen, um das Leistungsvermögen einer solchen Gegenuntersuchung für eine politische Theorie der Migration abzustecken. Die Beiträge lassen sich, um eine Unterscheidung von Charles Mills zu variieren, auf drei Ebenen verorten: Helge Schwiertz diskutiert die Frage nach dem „Gegen“ auf der Ebene des Lokalen (Mesoebene), Veronika Zablotsky auf der Ebene der Institutionen (Makroebene) und Laura Gorriahn und Christian Volk auf der Ebene des Körpers (Mikroebene).   

Helge Schwiertz schlug einen postessentialistischen Begriff der horizontal citizenship vor. Darunter verstand er eine Form der Gegenvergemeinschaftung, die sich zur Beschreibung von alteritären Beziehungsweisen in sozialen Bewegungen eignet und durch (lokale) Praktiken von Solidarität, Care und Communing gekennzeichnet ist. Weil Zugehörigkeit so nicht durch Nation, sondern durch Partizipation bestimmt werde, würden sich Gegengemeinschaften nicht ein für alle Mal herausbilden, sondern offen für Revisionen bleiben, die im Rahmen von sogenannten „communities of struggle“ ausgehandelt werden. Der vorgeschlagene citizenship-Begriff könnte sich in meinen Augen tatsächlich für eine Untersuchung von emanzipatorischen Politiken als produktiv erweisen, sofern die Verwobenheit der gegenhegemonialen Praxiszusammenhänge in hegemoniale Logiken stets reflektiert wird. Gleichzeitig müssten die Gegenpraktiken in verlässlichere institutionelle Zusammenhänge eingehen, um nicht auf der Ebene partikularer Netzwerke zu verharren. Wie aber müssten Institutionen beschaffen sein, um den Charakter des „Gegen“ zu genügen und für eine Gegenuntersuchung der Migration anschlussfähig zu sein?  

Diese Frage verhandelte Veronika Zablotsky. Die staatliche Zurückweisung von Asyl und das Ringen um Teilhabe, auf das sich Migrant:innen im Rahmen von refugee-movements berufen, lasse sich, so Zablotskys These, nur durch Institutionen aushebeln, die sich einer „Ethik der Verantwortung“ (Spivak) verpflichtet wissen. Vor diesem Hintergrund führt Zablotsky das Kirchenasyl implizit als eine Gegeninstitution ein, die sich einer „Praxis des Möglichen“ verschreibe: Indem die Kirche eine unbedingte Asylpflicht selbst dann noch affirmiert, wenn der Staat sie bestreitet, antworte sie auf diese Ungerechtigkeit und subvertiere damit zugleich ein passabhängiges Recht zu bleiben. Meiner Lesart zufolge haben wir es bei einem so perspektivierten Kirchenasyl mit einer Gegeninstitution zu tun, weil sie auf Praktiken (der Solidarität und Verantwortung) zurückgreift, die in Abgrenzung zu den hegemonialen Aufnahmediskursen in Anschlag gebracht werden, jenseits nationalistischer Grammatiken operieren und gleichzeitig als Korrektive einer ungerechten Ordnung verstanden werden können.  

Die Frage nach migrantischen Gegenperspektiven stellte sich in Laura Gorriahns und Christian Volks Beitrag schließlich auf der Mikroebene des Körpers selbst. Sie gingen davon aus, dass Praktiken der Selbstverletzung politisch signifikant seien und argumentierten, dass der Rückgriff auf den Körper als Umgang mit der Nicht-Intelligibilität gedeutet werden müsse. Dabei griffen sie auf Mills Konzept der subpersonhood zurück, um plausibel zu machen, dass der Körper politisch überdeterminiert ist: Der Körper ist zugleich Angriffsfläche als auch Ausgangspunkt der Kritik. Die Registrierung dieser Sinnverschiebung des Körpers ist meines Erachtens hilfreich, um zu verstehen, weshalb wir diese Protestpraktiken als Gegenpraktiken deuten sollten: zum einen, weil sie an dieser körperlichen Exklusionserfahrung anknüpfen und diese umdeuten; zum anderen, weil sie mit gängigen Protestlogiken der Rede und Gegenrede brechen.  

Auch wenn die Vortragenden des Panels die Frage nach migrantischen Gegenperspektiven auf unterschiedlichen Ebenen verhandelten, ist ihre gemeinsame Stoßrichtung doch recht deutlich: Sie stellen darauf ab, das sozialtransformative Potential (post)migrantischer und diasporischer Gegenarchive herauszustellen und zum unmittelbaren Bezugspunkt einer politischen Theoretisierung von Migration zu machen. Wenngleich die Frage nach den Gelingensbedingungen von häufig ambivalenten, situativen, konfliktiven und unabgeschlossenen Gegenperspektiven für soziale Transformation offenbleiben muss, liefern sie einen wertvollen Beitrag, um Migration jenseits dominanter Untersuchungsperspektiven zu analysieren. 

 

Michaela Bstieler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck. In ihrer Dissertation „Figuren des Unwohnlichen. Eine politische Phänomenologie der Bleibe“ beschäftigt sie sich mit unterschiedlichen Verlusterfahrungen der Bleibe und ihren sozialen, politischen und existentiellen Effekten auf Subjektkörper.   

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