theorieblog.de | Blogdebatte: Für einen kreativen Anachronismus

22. Oktober 2024, Gebh

Zum Start unserer Blogpost-Reihe zum Verhältnis von Politischer Theorie und Ideengeschichte plädiert Sara Gebh für einen kreativen Anachronismus bei der Verknüpfung der beiden Disziplinen.

Wer möchte schon des Anachronismus bezichtigt werden? Außerhalb der Literaturwissenschaften wäre das wenig mehr als eine Beschimpfung. Meist steht der Begriff schlicht für eine falsche zeitliche Einordnung, für einen allzu offensichtlichen Fehler bei der Zuordnung eines Konzepts oder Ereignisses zu einer historischen Periode, den es um der wissenschaftlichen Integrität willen zu vermeiden gilt. Doch ein solcher Blick übersieht das produktive Potenzial einer anachronistischen Forschungspraxis. Sie ist nicht unbedingt das Merkmal schlechter Ideengeschichte, sondern könnte ganz im Gegenteil der Schlüssel für die engere Verknüpfung von Politischer Theorie und Ideengeschichte werden. Genauer: Ein kreativer Anachronismus kann die Ideengeschichte, so mein Diskussionsangebot, von einer theoriebegleitenden in eine theoriebildende Rolle bringen.

Unsere Disziplin macht beizeiten den Eindruck, sie sei zwiegespalten. Auf der einen Seite Ideengeschichte, auf der anderen Politische Theorie. Häufig konzipiert als separate, parallel betriebene Unterfangen, sind substanzielle Überschneidungen, sowohl personeller als auch inhaltlicher Art, selten. Aus Sicht systematischer politischer Theorie erscheint Ideengeschichte oft nur als Kanon, den es im Grundstudium zwar zu meistern gilt, der danach aber als passiver Referenzpunkt sein Dasein fristet und jede aktiv theoriebildende Funktion vermissen lässt. Aus einer traditionellen ideengeschichtlichen Perspektive wirkt politiktheoretische Forschung, insbesondere ideale politische Theorie, vielfach geschichtsvergessen, kontextlos, steril. ‚Politische Theorie und Ideengeschichte‘ droht so, zu einer Aufzählung zu verkommen, und das Potenzial eines auch konflikthaften Dialogs zwischen beiden Herangehensweisen bleibt ungehoben.

Die Rückkehr des Anachronismus

Ein anachronistischer Zugang zur Theorie der Politik kann dieses Nebeneinander überwinden. In den vergangenen Jahren mehren sich die Stimmen, die dem Anachronismus bzw. dem Präsentismus, in David Armitage’s Worten schlicht der „less polite term“ (Armitage 2022, 47), insbesondere in Bezug auf die politische Ideengeschichte etwas Positives abgewinnen können. Während ein teleologischer Anachronismus, also das Be- und Verurteilen historischer Ereignisse, Personen oder Texte anhand heutiger Maßstäbe, fast durchwegs als unproduktiv abgelehnt wird, hat die Verteidigung differenzierterer Varianten der anachronistischen Forschungspraxis an Dynamik gewonnen. Statt in der Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Anliegen das Problem zu sehen, wird vielmehr vor dem Fehlen eines jeden Gegenwartsbezugs gewarnt. So meint etwa Peter Gordon, dass ein „exhaustive contextualism“ im Sinne der Cambridge School, die Ideen ausschließlich im zeitlich und räumlich eng umrissenen Zusammenhang ihrer Artikulation untersucht, eine Form des „methodological provincialism“ sei, der jede historische Zeit „as an island unto itself“ verstehe (Gordon 2014, 42, 46). Ein solch lokalistischer Zugang ersticke das kritische Potenzial (ideen)geschichtlicher Forschung, das sich gerade in dem Aufeinanderprallen von Gegenwart und Vergangenheit, das heißt in dem Moment der Irritation und Entfremdung, verwirklichen ließe.

Diese Wertschätzung der Konfrontation mit Alterität ist den verschiedenen Varianten gemein. Politische Theorie und Ideengeschichte zu betreiben, bedeutet aus dieser Sicht die ständige Verhandlung des Zeitgemäßen mit dem Unzeitgemäßen (vgl. Tampio 2016), in anderen Worten: die tatsächliche Verknüpfung und das wechselseitige Austarieren der Anliegen beider Zugänge. Dies kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen.

Varianten des Anachronismus

In Abgrenzung zum teleologischen Anachronismus, der Geschichte an den Maßstäben der Gegenwart bewertet, betont, was sich als situativer Anachronismus bezeichnen lässt, die Notwendigkeit, die eigene Position in der historischen Forschungspraxis zu reflektieren und einzubeziehen. Eine Verzerrung hin zu Themen, die heute relevant sind, zu gesellschaftlichen Normen, die unser Zusammenleben bestimmen, ist aus dieser Sicht zunächst unvermeidbar. Sie wird nur dann problematisch, wenn eben diese, jedem eigene Perspektive methodisch ausgeblendet wird. Nicole Loraux beschreibt diesen Zugang als „kontrollierten“ Anachronismus (Loraux 1993, 28) – als ein Hin und Her zwischen Damals und Jetzt, das zu jeder Zeit intentional und reflektiert sein muss. Situativer Anachronismus ist in diesem Sinne wenig mehr als die Einsicht, dass die eigene Forscher:innenposition von gegenwärtigen Anliegen und Normen beeinflusst ist und damit die Absage an jede Idee einer objektiven Wiedergabe geschichtlicher Fakten (vgl. auch Miri Rubin 2017 und David Armitage 2022).

Etwas voraussetzungsvoller dagegen ist der kritische Anachronismus. Geschichte ist hier nicht nur von der Gegenwart beeinflusst, sondern dient als Ressource für ihre Kritik. Die Andersartigkeit der Vergangenheit wird also mehr als nur beobachtet, sie wird für die Infragestellung der Selbstverständlichkeiten der Gegenwart nutzbar gemacht. Wie Loraux versteht sich dieser Zugang ebenfalls als dialogisch, als Wechselbewegung zwischen gestern und heute, allerdings mit dem ausdrücklichen Ziel der gegenseitigen Korrektur. Der Wissenschaftshistoriker Laurent Loison beispielsweise sieht die Gegenwart als “yardstick for judging the past“ und die Vergangenheit als „privileged tool for criticizing the dogmatist temptation of present science” (Loison 2016, 36). Damit übernimmt Geschichte eine kritische und entlarvende Funktion. Essentialismen, Fundamentalismen, Dogmen erscheinen im Moment der Konfrontation mit einer radikal anderen Vergangenheit als kontingent, veränderlich und eben nicht mehr unanfechtbar (vgl. auch Peter Coss 2017).

Ein kreativer Anachronismus, für den ich hier plädieren möchte und dessen Details es noch zu entwickeln gilt, erkennt nicht nur kritisches, sondern auch konstruktives Potenzial in einer anachronistischen Forschungspraxis. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat Massimiliano Tomba mit der Idee von Geschichte als „arsenal of possibilities“ (Tomba 2019, 219) gemacht. Danach kann die Andersartigkeit der Vergangenheit nicht nur die Kontingenz des Status quo offenbaren, wie im kritischen Anachronismus, sondern der kreative Anachronismus weist darüber hinaus auf Alternativen zur gegenwärtigen Konstellation hin. Die Konfrontation von Gestern und Heute irritiert nicht nur, sondern dient auch als Ressource für alternative Ordnungsmuster. Ideengeschichte wird damit ein spezifisch politisches Unterfangen. Mehr als die Varianten zuvor schlägt diese Form des Anachronismus den Bogen über die Gegenwart hinaus zu möglichen Zukünften, zur Gestaltung politischer Verhältnisse.

Von Theoriebegleitung zu Theoriebildung

Dabei ist zentral, dass sich der kreative Anachronismus nicht mit dem Aufzeigen von Alternativen zufriedengeben kann. Diese Funktion, die man mit Nikolas Kompridis als „possibility-disclosing“ (Kompridis 2006, 254) bezeichnen könnte, ist zwar essenziell, aber nicht ausreichend, um politiktheoretische und ideengeschichtliche Forschung wieder stärker zu verknüpfen. Über das Offenbaren der unendlichen Möglichkeiten der Vergangenheit hinaus, muss die konstruktive, gestalterische, eben die kreative Arbeit an konkreten Alternativen für Gegenwart und Zukunft hinzukommen. Um die politische Ideengeschichte aus ihrer theoriebegleitenden Rolle herauszulösen, als Unterstützung eines Arguments, und sie zu einem konstitutiven Teil in der Entwicklung eines Arguments zu erheben, muss sie nicht nur situativ, kritisch und möglichkeits-eröffnend forschen, sondern in Form eines kreativen Anachronismus aktiv und selbstbewusst zur Theoriebildung beitragen.

Nicole Loraux (1993, 23) hat die Angst vor dem Anachronismus einmal als Blockade bezeichnet, die schlussendlich verhindert, überhaupt Neues zu denken. Die Entfremdung im Jetzt, die sowohl Gegner als auch Befürworter des Anachronismus als zentrales Qualitätsmerkmal (ideen)historischer Forschung ausmachen, entsteht durch die unzeitgemäße Konfrontation von Gegenwart und Vergangenheit, durch das anachronistische Missverhältnis von heutigen Fragen und historischen Quellen. Es ist gerade diese Friktion, die nicht mehr als methodologisches Defizit, sondern als Triebfeder für eine engere Verschränkung von Ideengeschichte und Politischer Theorie verstanden werden sollte.

Sara Gebh ist Postdoktorandin im ERC-Projekt „Prefiguring Democratic Futures“ (PREDEF) an der Universität Wien. Sie forscht an der Schnittstelle von Politischer Ideengeschichte und Demokratietheorie, insbesondere zum theoriebildenden Potenzial ‚vergessener‘ Institutionen, zur Geschichte antidemokratischen Denkens sowie zur Tradition des Plebejanismus.


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