theorieblog.de | Blogdebatte: Für eine „Artikulation“ der politischen Theorie mit der Ideengeschichte
31. Oktober 2024, Lorenz
Im Rahmen unserer Blogpost-Reihe zum Verhältnis von Politischer Theorie und Ideengeschichte plädiert Matthias Lorenz dafür, das Verhältnis zwischen Politischer Theorie und Ideengeschichte als „Artikulation“ zu verstehen, insofern kein notwendiges Verhältnis zwischen beiden besteht.
Wie steht es heute um das Verhältnis von politischer Ideengeschichte und politischer Theorie? Handelt es sich um zwei Momente einer Wissenschaft, um zwei distinkt voneinander geschiedene Forschungsfelder oder eröffnet sich zwischen beiden ein Graubereich ungeklärter Zuständig- und undifferenzierter Verantwortlichkeiten? Wenn wir die Frage nach dem heutigen Verhältnis von Theorie und Ideengeschichte aufwerfen, liegt dem bereits eine implizite Annahme zugrunde: der theoretische Bezug aufs Historische ist selbst historisch. Ihr heutiges Verhältnis unterscheidet sich von vergangenen und womöglich auch von kommenden. Aus Perspektive der Theorie bearbeitet die Ideengeschichte das Historische des politischen Denkens, mithin die eigene Geschichte. Die Ideengeschichte scheint der Theorie bei- oder nachgeordnet. Doch wenn das Verhältnis zwischen beiden selbst historisch ist, bleibt ihre Relation nicht immer dieselbe. In der Geschichte des politischen Denkens stoßen wir daher auf höchst unterschiedliche Artikulationsweisen zwischen den beiden. Ich möchte an dieser Stelle vorschlagen, das Verhältnis von politischer Theorie und Ideengeschichte als Artikulation zu verstehen. Ihre Relation als Artikulation zu fassen, hat zwei entscheidende Vorteile: Einerseits ermöglicht sie es, die wesentliche Kontingenz der Relation von Theorie und Ideengeschichte in den Blick zu nehmen wie andererseits ein starkes Argument zugunsten ihrer Verbindung zu formulieren.
Politik der historischen Vorbilder
Gewissermaßen im Moment des Anfangs einer modernen politischen Theorie formuliert Machiavelli ein entschiedenes Plädoyer für eine Verbindung der Geschichte des politischen Denkens mit dem Denken über gegenwärtige Politik. Diese Position begründet er in Abgrenzung gegen ein politisches Denken, das dem Historischen keine gegenwärtige Relevanz beimisst. So eröffnet Machiavelli die Discorsi, indem er eine tiefe Verwunderung über die Tatsache zum Ausdruck bringt, „daß Unzählige, die sich mit der Geschichte befassen, nur Vergnügen daran finden, etwas von der Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Ereignisse zu erfahren, ohne daß sie daran denken, diese nachzuahmen“ (Machiavelli 2007, 4). Diesen „Unzähligen“ erscheinen die historischen Bestände des politischen Denkens für die Erkenntnis ihrer gegenwärtigen Konjunktur unerheblich. Sie stoßen in der Geschichte nicht auf Vorbilder, deren Nachahmung sich im Hier und Jetzt nützlich erweisen könnte. Bestenfalls bietet die Geschichte ihnen Gelegenheit zur Unterhaltung.
Dem widerspricht Machiavelli. Er kritisiert eine allein historisierende Beschäftigung mit den historischen Beständen des politischen Denkens. Die Discorsi gründen so in der festen Überzeugung, dass sich die Geschichte für die gegenwärtige Politik aneignen lässt. Aus den historischen Überlieferungen können wir wichtige Erkenntnisse ableiten: etwa in Bezug auf staatstheoretische Fragen nach der Gründung politischer Gemeinwesen oder hinsichtlich der affektiven Gründe, die politisches Handeln motivieren. Machiavelli proklamiert somit eine Analogie, die sich zwischen dem Historischen und dem Gegenwärtigen auftut. Denn nur, wenn sich die historischen Konjunkturen einander ähneln (können), wird es möglich, eine historische Politik nachzuahmen – oder aber, begründet von einer Nachahmung Abstand zu nehmen, im historischen Wissen um ihre nachteiligen Konsequenzen. Machiavellis programmatisches Ziel besteht folglich darin, die Menschen „[v]on dem Irrtum [zu] befreien“ (Machiavelli 2007, 5), die Nachahmung in der Politik sei ein Ding der Unmöglichkeit.
Politische Lehren der Geschichte
Machiavelli ist vielleicht nicht der erste, gewiss aber nicht der letzte, der solch einen engen Zusammenhang zwischen Ideengeschichte und politischer Theorie produktiv macht. Gut anderthalb Jahrhunderte später greift Spinoza darauf zurück und stellt sie im Theologisch-Politischen Traktat ins Zentrum seiner radikalaufklärerischen Bibel-Hermeneutik. Sein Erkenntnisinteresse gilt den verbreiteten popularen Imaginationen, die politisches Handeln motivieren. Spinoza interveniert damit in eine politische Lage, in der sich monarchische Herrschaftsansprüche auf theologische und übernatürliche Begründungsfiguren stützen. An der Figur des Wunders, die das politische Denken der frühen Neuzeit von Hobbes bis Malebranche umtreibt, und schließlich mit Carl Schmitts Begriff des Ausnahmezustands im 20. Jahrhundert ein zweifelhaftes comeback feiert, zeigt sich die argumentative Überzeugungskraft von Spinozas historisierender Deutung. Das Wunder ist demnach nicht mehr eine übernatürliche Intervention, die Herrschaft autoritativ zu begründen vermag, sondern allein eine imaginative Zuschreibung übernatürlicher Macht, die politische Bindungskräfte freisetzt. Der verbreitete Glaube ans Wunder zeigt sich daher historisch wie gegenwärtig als außerordentlich wirksames Mittel, um affektive Bindungen zwischen einem vermeintlich wunderwirkenden Anführer und einer Menge herzustellen. Darin wiederholt sich jedoch nicht eine göttliche Erwählung, sondern eine affektive Massendynamik, die wir heute soziologisch als charismatische Herrschaft oder massenpsychologisch als libidinöse Bindung beschreiben können.
Somit lassen sich aus der Analyse des biblischen Staats der Hebräer gewichtige „politische Lehren erschließen“ (Spinoza 2012, 282), die Spinoza zugunsten des frühneuzeitlichen Republikanismus und seinen demokratischen Tendenzen produktiv macht. Aus der historischen Analyse der Vorstellungen und Ideen können wir folglich relevante Schlüsse auf gegenwärtig drohende Schwierigkeiten und erfolgsversprechende Strategien ziehen.
Entscheidend an Machiavellis und Spinozas Rückgriff auf die historischen Bestände politischer Ideen und Vorstellungen ist der Begriff der Nachahmung. Er verweist nicht auf eine identische Wiederholung, sondern auf eine mögliche Ähnlichkeit. Dem trägt der Begriff der Artikulation Rechnung, denn er bezeichnet eine kontingente Verbindung. Oftmals, so können wir an Machiavelli und Spinoza anschließen, profitiert eine politische Theorie der Gegenwart, wenn sie sich gemeinsam mit der politischen Ideengeschichte artikuliert.
Artikulation und Differenz
Wenn die Verbindung von politischer Theorie und Ideengeschichte artikulatorischer Natur ist, dann bedeutet das, dass sie Wandlungen unterliegt, sich lockern oder ganz auflösen kann. Es kann auch eine politische Theorie ohne Ideengeschichte geben wie eine politische Ideengeschichte ohne gegenwärtige Theorie.
Wir können Artikulation als Begriff fassen, der auf die Moderne verweist. Verbindungen sind wesentlich kontingent und gehorchen keiner Instanz übergeordneter Notwendigkeit mehr. Mit der Artikulation tritt allerdings auch eine zweite Logik auf den Plan: die Differenzierung. Denn wo Verbindungen kontingent sind, ist Trennung immerzu möglich. Artikulation und Differenzierung bezeichnen so zwei einander komplementäre Logiken: Wo die Artikulation aus Differenz eine Einheit herstellt, dort löst die Differenzierung eine gegebene Einheit auf.
In den Sozialtheorien der Moderne hatte zumeist die Logik der Differenzierung die Oberhand. Als allgemeine Theorie moderner Gesellschaften hat insbesondere die soziologische Theorie ihre funktionalen Differenzierungen betont. Wo sich das Soziale in immer kleinteiligere Einheiten ausdifferenziert, dort bedarf es auch immer spezialisierter Wissenschaften, um ihre differenziellen Momente begrifflich zu fassen. Das fragliche ‚Und‘, das politische Theorie und Ideengeschichte miteinander verbindet, erscheint so in verschiedener Gestalt, je ob wir es aus artikulations- oder differenzierungstheoretischer Perspektive in den Blick nehmen: im ersten Fall verweist es auf eine Verbindung und ein produktives Zusammenwirken, im zweiten Fall auf eine Trennung und eine fortschreitende Spezialisierung.
Von einem frühneuzeitlichen Standpunkt, wie ich ihn an Machiavelli und Spinoza dargestellt habe, müssen die (spät)modernen Differenzierungen als unvorstellbar gelten. Doch den Zeitgenoss*innen einer späteren Moderne macht die Differenzierung das attraktive Angebot, die unrealistisch gewordene Idee eines universalen Gesamtüberblicks zugunsten einer herausragenden Expertise in einem spezifischen Wissenschaftsbereichs einzutauschen.
Was folgt daraus für unsere Frage nach dem Verhältnis von Ideengeschichte und Theorie? Es ist gewiss kaum realistisch, sich die Einheit der Wissenschaften wieder unter dem schützenden Mantel einer universalen Philosophie vorzustellen. Oftmals jedoch bewahrt sich die politische Theorie einen unzeitgemäß anmutenden Zug, indem sie ihre Begriffe und ihr Material nicht allein den Beständen einer bereits funktional differenzierten Gesellschaft entnimmt, sondern historisch weiter ausholt. Daran sollten wir festhalten.
Vom Nutzen der Ideengeschichte für die Theorie
Die Beschreibung der Verbindung von Theorie und Ideengeschichte als Artikulation ermöglicht es, die Kontingenz ihrer Verbindung in den Fokus zu rücken. Was folgt nun also aus der Differenzierung zwischen beiden? Ich möchte die These vertreten, dass die Konsequenzen ihrer Differenzierung für die Theorie langfristig unvorteilhafter ausfallen als für die Ideengeschichte. Gewiss, angesichts gegenwärtiger akademischer Konjunkturen steht sie ohnehin schon unter einem noch höheren Rechtfertigungsdruck als die politische Theorie. Vielen gilt sie als verzichtbar oder als etwas, das sich an andere Fakultäten auslagern ließe. Eine institutionell von der Theorie abgetrennte Ideengeschichte wird an Relevanz für die politische Gegenwart einbüßen. Doch es besteht Grund zur Hoffnung, dass sie als spezialisiertes Forschungsfeld weiterhin produktiv ist. Für die Theorie hingegen scheinen mir die Konsequenzen noch nachteiliger. Sie droht, wie wir das an weiten Teilen der analytischen Philosophie bereits trefflich beobachten können, nicht nur maßlos langweilig zu werden, sondern auch kaum noch profunde Beiträge zu einem theoretisch gesättigten Verständnis unserer politischen Gegenwart beitragen zu können. In immer kürzeren Intervallen wird sie weitere bahnbrechende Innovationen hervorbringen, die sich allein daher als innovativ ausgeben können, weil sich niemand mehr so recht daran erinnern mag, dass wesentlich Dasselbe bereits vor zwanzig, zweihundert oder zweitausend Jahren gedacht wurde.
Doch noch ein weiteres schwerwiegendes Argument spricht von Standpunkt der Theorie dafür, eine enge Verbindung mit der Ideengeschichte zu bewahren (oder gar wiederherzustellen). So neigt die politische und politikwissenschaftliche Zeitdiagnostik gegenwärtig zu Ideen fundamentaler Erschütterung und historischer Umbrüche. Der Bremer Theoriekongress 2023 hat sich diesem Umstand mit dem Begriff der Ungewissheit, der diesjährige DVPW-Kongress mit dem Begriff der Polykrise genähert. Zwei Aspekte haben diese Krisenerfahrungen miteinander gemein: erstens begreifen sie die Gegenwart als Phase eines Umbruchs, wie sie zweitens Wiederholung und Rückkehr abgeschlossen geglaubter Phänomene beschreiben: Die Covid-19-Pandemie wiederholt so wahlweise die Influenza-Pandemie zwischen 1918 und 1920 oder die Pest-Epidemien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine rückt der militärische Konflikt mit seinem Wechsel zwischen Bewegungs- und Stellungskrieg wieder ans europäische Zentrum heran. Mit den besorgniserregenden globalen Machtgewinnen der extremen Rechten stellt sich die Frage nach einem erneuten Niedergang demokratischer Ordnungen und eines womöglich neuen Faschismus und mit den Pogromen des 7. Oktobers 2023 zeigt sich der antisemitische Vernichtungswille wieder als massenhaftes Gewalthandeln.
Wenn die Gegenwart die Wiederkehr des Historischen konstatiert, wie kann eine politische Theorie der Gegenwart ohne Rekurs auf ein historisches Wissen um das politische Denken auskommen? Wenn die politische Theorie angesichts dessen auf eine Artikulation mit der Ideengeschichte Verzicht tut, dann drohen zwei gleichermaßen falsche Schlüsse: Entweder wird sie nämlich in unmittelbare Gleichsetzungen verfallen und das historisch Spezifische der gegenwärtigen Konjunktur aus den Augen verlieren. Oder aber sie wird die eigene Gegenwart und ihr politisches Denken als absolut singulär missverstehen. In beiden Fällen jedoch wird es ihr nicht gelingen, einen substanziellen Beitrag zu einer Theorie der politischen Gegenwart zu entwickeln. Was historisch gilt, gilt auch heute: die politische Theorie bedarf einer Artikulation mit der Ideengeschichte.
Matthias Lorenz promoviert im Bereich der politischen Theorie an der Universität Wien mit einer Arbeit zum Verhältnis der Begriffe Kausalität und Handlungsmacht. Sein besonderes Interesse gilt darin den vielfältigen postmarxistischen Rekursen auf ontologische und politiktheoretische Bestände der frühen Neuzeit.
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