theorieblog.de | Kritische Öffentlichkeit der Vernunft: Kants Plädoyer für Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit
26. September 2024, Brecher
Im Rahmen unseres gemeinsam mit Praefaktisch veranstalteten Kant-Schwerpunkts schreibt Martin Brecher darüber, warum Kants Begründung des Fundamentalprinzips der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit von anhaltender Bedeutung ist. Eine Übersicht über alle Beiträge des Schwerpunkts findet sich hier.
Zu den besonders spannenden, weil zentralen Elementen der Politischen Philosophie Immanuel Kants gehört die Forderung und Verteidigung einer kritischen Öffentlichkeit. Gerade in einer Zeit, in der die Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit in vielen Staaten zunehmend unter Druck gerät, kann Kants Forderung eine unverminderte Aktualität beanspruchen.
Laut Kants Rechtslehre ist ein wesentlicher Teil des jedem Menschen zukommenden angeborenen Freiheitsrechts das Recht, seine Gedanken anderen frei mitteilen zu können. Eine besondere politische Bedeutung bekommt dieses Recht in Form der „Freiheit der Feder“: Wie Kant im zweiten Abschnitt des Gemeinspruchs ausführt, kann dem Volk dem Herrscher gegenüber zwar kein Recht auf Widerstand zukommen, die Bürger müssen jedoch ein Recht auf öffentliche Kritik von Gesetzgebung und Regierung haben: „da jeder Mensch doch seine unverlierbaren Rechte hat, die er nicht einmal aufgeben kann, wenn er auch wollte, und über die er selbst zu urtheilen befugt ist; […] so muß dem Staatsbürger und zwar mit Vergünstigung des Oberherrn selbst die Befugniß zustehen, seine Meinung über das, was von den Verfügungen desselben ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen“ (Gemeinspruch, AA 8:304).
In Abwesenheit eines Widerstandsrechts ist die Freiheit der Feder in allen Staaten, die nicht republikanisch (wir können sagen: die nicht demokratisch) sind, in denen mithin nicht das Volk selbst herrscht, „das einzige Palladium der Volksrechte“ (Gemeinspruch, AA 8:304). Wie die Bezeichnung „Freiheit der Feder“ bereits anzeigt, handelt es sich bei diesem Recht um das Recht auf Publikationsfreiheit. Es geht nicht darum, dass sich die Bürger zu Demonstrationen oder Protestaktionen zusammenfinden können; die Bürger sollen bloß das Recht haben, ihre Ansichten darüber, wie die Staatsgeschäfte richtig zu führen wären, öffentlich kundzutun.
Eine besondere Bedeutung schreibt Kant dabei der Publikationsfreiheit für Philosophen zu: Die Staaten sollen die Philosophen „frei und öffentlich […] reden lassen“, und zwar unabhängig davon, wer die Macht in Händen hält: „Könige“ oder die „königliche[n] (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherrschende) Völker“ selbst (Zum ewigen Frieden, AA 8:369).
Dass gerade die Philosophen ihre Ansichten unzensiert sollen äußern dürfen, hat zwei Gründe: Zum einen gehören die Prinzipien von Recht und Politik zum Gegenstandsbereich der Philosophie: Philosophen beschäftigen sich u.a. mit „Metaphysik […] der Sitten“ (Streit der Fakultäten, AA 7:28) und Experten der „systematischen Kenntniß der natürlichen Rechtslehre (Ius naturae)“ haben sie die Aufgabe, „zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelbaren Principien her[zu]geben“ (RL, AA 6:229). Die Philosophie ist es, die die Grundlagen des Rechts und damit auch der Politik als „ausübender Rechtslehre“ ermittelt.
Zum anderen sind von den Philosophen aufgrund ihrer Machtferne objektive, von eigenen Ambitionen ebenso wie von staatlichen Vorgaben unbeeinträchtigte An- und Einsichten zu erwarte. Dies kann von den Gelehrten der oberen Fakultäten: von Juristen, Theologen und Medizinern nicht geleistet werden, da ihre Lehrinhalte unmittelbar im Interesse der Regierung liegen, da diese durch sie „sich den stärksten und dauerndsten Einfluß aufs Volk verschafft“, und sie entsprechend fixiert und sanktioniert (AA 7:19, 7:22f.).
Kant unterfüttert seine Forderung für Publikationsfreiheit für Philosophen – wir können auch sagen: für Wissenschaftsfreiheit – dabei nicht nur mit einem rechtsmoralischen Argument. Nach diesem liegt es „schon in der Verpflichtung durch allgemeine (moralisch-gesetzgebende) Menschenvernunft“, die Philosophen über politische Fragen, zumal solche von Krieg und Frieden öffentlich räsonnieren zu lassen). Vielmehr hält er dies auch für prudentiell geboten: Es ist nicht nur „sehr rathsam“ für die Herrschenden, die Überlegung der Philosophen zu berücksichtigen, sondern es ist ihnen „zu Beleuchtung ihres Geschäfts“ gar „unentbehrlich“ (ZeF, AA 8:368f.) – und zwar deshalb, „weil ohne eine solche die Wahrheit (zum Schaden der Regierung selbst) nicht an den Tag kommen würde“ (Streit, AA 7:19f.).
Vor dem Hintergrund seiner Argumente für die Freiheit der Wissenschaft könnte es scheinen, dass Kant die Freiheit der Feder auf eine bestimmte privilegierte Gruppe von Gelehrten einschränke. Doch sowohl Kants Ausführungen in der Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? als auch im Streit der Fakultäten zeigen, dass sich grundsätzlich jeder Bürger am wissenschaftlichen wie am politischen Diskurs beteiligen können solle.
So betont Kant im Aufklärungsaufsatz, dass prinzipiell jeder einen öffentlichen Gebrauch seiner Vernunft zu machen befugt sein solle: „der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein“ (AA 8:37). Im Unterschied zum Privatgebrauch, den man „in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft“ macht und der durchaus „öfters sehr enge eingeschränkt sein“ kann, ist der öffentliche Gebrauch der Vernunft derjenige, „den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publicum der Leserwelt macht“ (AA 8:37).
Die Bezeichnung des Gelehrten verwendet Kant hier, um eine bestimmte Rolle, eine Sprechhaltung zum Ausdruck zu bringen, die alle Bürger, nicht nur Gelehrte von Beruf, einnehmen können. Während man beim Privatgebrauch der Vernunft in einer bestimmten amtlichen oder beruflichen Funktion handelt – oder auch schlicht als Bürger in seiner Rolle als Untertan, der den Gesetzen und den Verordnungen der Regierung zu gehorchen hat –, sieht man sich man beim öffentlichen Gebrauch der Vernunft „als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft“ an (AA 8:37). Durch die Einnahme dieser von Privatem losgelösten Haltung nimmt man die „Qualität eines Gelehrten“ an, „der sich an ein Publicum im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet“, und in dieser Rolle „kann er allerdings räsonniren, ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Theile als passives Glied angesetzt ist“ (AA 8:37).
Dass in Kants Augen nicht nur Gelehrte von Beruf, also Wissenschaftler, oder gar nur Philosophen als Gelehrte im genannten Sinne auftreten und sich öffentlich äußern können sollen, zeigt sich an den von ihm vorgebrachten Beispielen. Während der im Aufklärungsaufsatz als zentrales Beispiel fungierende Geistliche (der einerseits zwar den Dogmen seiner Kirche verpflichtet ist und sich in seinen Predigten an diese halten muss, jedoch andererseits als Gelehrter öffentlich darüber zu räsonieren befugt sein müsse)als Hochschulabsolvent noch am ehesten zu ,den Gelehrten von Beruf‘ gezählt werden kann, gilt dies nicht unbedingt für den Offizier.
Schließlich spricht Kant allgemein auch von den Bürgern, die sich öffentlich sollen äußeren können: „Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten […] Eben derselbe handelt demungeachtet der Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert.“ (AA 8:37f.) Alle Bürger sollen sich also generell in der Rolle als Gelehrte am öffentlichen Diskurs beteiligen können.
Im Streit der Fakultäten stellt Kant mit Blick auf den wissenschaftlichen Diskurs zudem heraus, dass nicht nur Universitätslehrer als Gelehrte anzusehen sind: Neben „zünftigen kann es noch zunftfreie Gelehrte geben, die nicht zur Universität gehören“ (AA 7:18). Neben solchen Gelehrten, die in Akademien oder gelehrten Gesellschaften tätig sind, zählen zur Gruppe der Gelehrten auch diejenigen, die ganz ohne offizielle Einbindung in das staatliche Wissenschaftssystem arbeiten, die mithin „gleichsam im Naturzustande der Gelehrsamkeit leben und jeder für sich ohne öffentliche Vorschrift und Regel sich mit Erweiterung oder Verbreitung derselben als Liebhaber beschäftigen“ (AA 7:18).
Gemeinsam mit der Forderung nach der Freiheit des öffentlichen Vernunftgebrauchs heißt das, dass sich alle Bürger auch spezifisch am philosophischen Diskurs beteiligen können, in dem es um die Prinzipien von Recht und Politik geht. Kants Staat ist somit wesentlich eine Republik öffentlich räsonierender, potentiell auch philosophierender Bürger.
Der Staat muss damit aber die Äußerung auch und gerade solcher Meinungen zulassen, die ihm oder der Mehrheit der Bevölkerung übel aufstoßen, und zwar auch dann, wenn sie erwiesenermaßen falsch sind. Aus Sicht der kantischen Ethik ist zwar jede Äußerung falscher Tatsachenbehauptungen oder falscher Versprechen eine Lüge und konstituiert als „Widerspiel der Wahrhaftigkeit“ „[d]ie größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, blos als moralisches Wesen betrachtet“ (Tugendlehre, AA 6:429). Doch die Lüge verletzt als solche keine Rechtspflicht. Es gibt kein Recht auf Wahrheit.
Das jedem Menschen zukommende ursprüngliche Recht auf Freiheit umfasst auch das Recht, anderen „seine Gedanken mitzutheilen, ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen“, und zwar unabhängig davon, ob es „wahr und aufrichtig, oder unwahr und unaufrichtig“ ist. Denn es beruht Kant zufolge „bloß auf ihnen [den Rezipienten] […], ob sie ihm [dem Sprecher] glauben wollen oder nicht“ (RL, AA 6:238). Zur Annahme von Überzeugungen ist niemand gezwungen, vielmehr hat ein jeder aufgrund seiner Vernunft das Vermögen, den Äußerungen anderer zu widerstehen und sich selbst ein Urteil zu bilden.
Rechtliche Grenzen sind der Mitteilung allerdings dort gesetzt, wo sie die Rechte anderer verletzt oder gar die Existenz des Staates gefährdet. Volksverhetzung und Widerstand gegen die Rechtsordnung haben keinen Platz im kantischen Staat, und dort, wo Recht und Staat selbst in Gefahr sind, wo die freiheitlich demokratische Grundordnung in Bedrängnis gerät, sind zu deren Schutz alle Mittel zu ergreifen, die dem liberalen Rechtsstaat zu Gebote stehen.
Es ist jedoch nicht Aufgabe des Staates, die Verbreitung irriger Meinungen zu unterbinden, weder im Alltag noch in Wissenschaft und Politik. Im Gegenteil hat er Sorge dafür zu tragen, dass alle Bürger*innen ihre Ansichten frei äußern können. Es ist somit Aufgabe der Zivilgesellschaft, Unwahrheiten, fake news und sog. ‚alternativen Fakten‘ durch den Vortrag der Wahrheit und mit der Kraft des besseren Arguments entgegenzutreten.
Martin Brecher ist Akademischer Mitarbeiter am Philosophischen Seminar
der Universität Mannheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie Immanuel Kants, die praktische Philosophie der Neuzeit und das Naturrecht der Aufklärung. Er interessiert sich zudem für Fragen der praktischen Philosophie der Gegenwart.
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