theorieblog.de | Es geht voran? Kants Begriff des Fortschritts in der Kritik

12. September 2024, Esser

Im Rahmen unseres gemeinsam mit Praefaktisch veranstalteten Kant-Schwerpunkts schreibt Andrea Marlen Esser darüber, wie eine kritische Aneignung von Kants Fortschrittskonzept heute aussehen könnte. Eine Übersicht über alle Beiträge des Schwerpunkts findet sich hier.

Es mag vielleicht irritierend wirken, sich von einer Beschäftigung mit Kants Begriff des Fortschritts heute noch aufklärende Einsichten zu versprechen. In Anbetracht der kaum aufzuhaltenden Naturzerstörung, der gegenwärtigen Kriege, der Zunahme autoritärer Staaten und Strukturen scheint „es“ insgesamt alles andere als „voran“ zu gehen. Skepsis gegenüber dem Fortschrittsbegriff ist darüber hinaus auch angebracht, weil unter Berufung auf „Fortschritt“ so viel koloniales Unrecht, so viel Gewalt und Unterdrückung geschehen und gerechtfertigt wurde. Gerade im Rahmen der aktuellen, häufig überwiegend affirmativ gehaltenen Kant-Feierlichkeiten sollten wir uns meines Erachtens bei der Beschäftigung mit Kants Fortschrittskonzeption fragen: Können wir heute tatsächlich an das ganze Fortschrittskonzept Kants ohne weiteres anschließen? Und wenn nicht: Welche der Einsichten sind es, die wir für eine angemessene Weiterentwicklung dieses Konzeptes in unserer Gegenwart nicht verlieren sollten?

Kant hat – gemessen am Diskurs der Schulphilosophie seiner Zeit – eine kritische Neubestimmung des Fortschrittsbegriffs unternommen. Seine Leistung liegt darin, vor allem das emanzipatorische Potential des Begriffs deutlich heraustreten zu lassen. Im 17. und 18. Jahrhundert fragten eine ganze Reihe von Autoren nach der Möglichkeit eines Fortschreitens der Menschen und der Menschheit zum Besseren (vgl. Koselleck: Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe).  Begriffe wie die Vervollkommnung und die Zweckmäßigkeit der Welt bzw. der Natur, in der Vervollkommnung und Fortschreiten ja verwirklicht werden sollen, gewinnen dabei an Bedeutung. Kant nimmt Bezug auf diese Diskussionen. Die Originalität seines Beitrags und die Besonderheit seines Fortschrittsverständnisses wird besonders klar in der Absetzung etwa von Christian Wolffs Ausführungen in seiner „Philosophia rationalis sive logica“ (1728). Wolff richtet den Imperativ der Vervollkommnung an Individuen. Die Frage nach der Möglichkeit der Verwirklichung dieses Imperativs in dieser Welt wird von ihm mit der Zweckmäßigkeit der Natur und der Güte Gottes beantwortet. Außerdem versteht Wolff seine Untersuchung über die Zweckmäßigkeit der Welt, die er als „Teleologie“ bezeichnet, explizit als eine „Wissenschaft“. Der Begriff der Zweckmäßigkeit ist dabei ein objektiver Begriff, auf dessen Grundlage man entsprechend auch in einer Theorie zu objektiven Erkenntnissen gelangen kann. Mit diesen teleologischen Grundannahmen bricht Kant – spätestens, wenn er in der Kritik der Urteilskraft das Prinzip der Zweckmäßigkeit kritisch begründet und damit auch den Status aller Urteile, die auf dieser Grundlage gefällt werden, fundamental verändert.  

Die erste Veränderung ist der Schritt zu einem geschichtsphilosophischen Verständnis des Fortschrittsbegriffs. Kant richtet die Fortschrittsforderung nicht, wie Wolff, an das Individuum, sondern bezieht sie auf die Geschichte der Menschengattung. Die fortschreitende Verwirklichung der Moralität und die damit verbundene Humanisierung – das sind die normativen Orientierungen dieses Prozesses (und nicht etwa der technische oder ökonomische Fortschritt) – sollen als ein kooperatives Unternehmen über Generationen hinweg verstanden werden. Damit löst Kant ein Problem, das in der Debatte um Wolffs Imperativ auftrat: dass es nämlich dem einzelnen Menschen auf Grund seiner kontingenten Lebensumstände und seiner begrenzten Lebenszeit oft gar nicht möglich ist, sich zu vervollkommnen

Die zweite Veränderung liegt in der Präzisierung des Ziels des Fortschritts. Vollkommenheit wird von Kant als die vollständige Entfaltung der Vernunft bestimmt. Die aber ist nur innerhalb einer von den Menschen selbst gestalteten freiheitlichen Vereinigung aller Menschen möglich in einem – von Kant so genannten – „Weltbürgertum“, das dauerhaften Friedenszustand garantiert. Diesen Zustand zu erreichen, setzt die „Kultivierung“ und „Zivilisierung“ der Menschen voraus, aber vor allem, dass sich immer mehr Staaten bürgerlich-republikanische Verfassungen geben und sich untereinander vereinigen. Die Präzisierung des Zieles eröffnet immerhin die Möglichkeit, erreichte Fortschritte als solche zu identifizieren. Denn dieser Bestimmung entsprechend zeigt sich der Fortschritt in errungenen Gleichheits- und Freiheitsrechten, und nicht etwa in schwer zu bestimmenden Gesinnungen und Einstellungen.

Die dritte, und systematisch wichtigste Veränderung richtet sich auf die Frage, ob wir das in dieser Welt auch verwirklichen können, was wir sollen. Diese Frage zielt auf die Verfasstheit der Natur. Sie erscheint oft mindestens als gleichgültig, wenn nicht sogar hinderlich gegenüber der Verwirklichung unserer vernünftigen und moralischen Ziele. Die Kantische Lösung ist gewagt und man könnte zunächst meinen, dass sie ganz in Kontinuität mit der teleologischen Tradition steht. So liest man etwa in der späten Friedensschrift (1795) gleich zu Beginn, dass „die große Künstlerin Natur“, die Gewähr und Garantie (im Sinne eines „mächtigen Beistands“) dafür sei, dass die Menschheit sich dem angestrebten Zustand des „Weltbürgertums“ auch tatsächlich annähert. An anderen Stellen ist sogar die Rede davon, dass sich ein „Plan der Natur“ erkennen ließe und die Natur so gesehen für die Verwirklichung unserer vernünftigen und moralischen Ziele als zweckmäßig eingerichtet beurteilt werden könne. Die Rede von einem Plan einer „handelnden Natur“ unterscheidet sich allerdings fundamental von dem Verständnis der traditionellen Teleologie. Durch Kants kritische Begründung des Begriffs der Zweckmäßigkeit hat auch der Begriff der Natur verschiedene Bedeutungen mit je unterschiedlichem Status erhalten. Die Kritik der Urteilskraft unterzieht alle Urteile, die auf der Grundlage des Prinzips der Zweckmäßigkeit gefällt werden, einer Neubestimmung ihres Geltungsanspruchs: sie sind nunmehr bloß reflektierende Urteile. Sowohl das teleologische Urteil über die Natur als auch das geschichtsphilosophische Urteil über einen Fortschritt der Menschengattung in der Natur gründen sich auf das Prinzip der Zweckmäßigkeit. Letzteres vermittelt Vorstellungen davon, wie natürliche Gegebenheiten und Ereignisse in der Natur den menschlichen Fortschritt fördern und unterstützen können.

Entscheidend ist dabei: Als reflektierendes Urteil verliert das geschichtsphilosophische Urteil den objektiven Anspruch eines Erkenntnisurteils (den es noch bei Wolff hatte). Das bedeutet: geschichtsphilosophische Urteile können in der Folge nicht als objektive Beschreibungen weder von Gegenständen noch von gesellschaftlichen oder historischen Ereignissen gelten. Ihre Aussagen sind immer nur im Rahmen einer Reflexion gültig und ermöglichen entsprechend auch keine abschließende Prädikation. Eine erschütternde Katastrophe, ein verheerender Krieg, eine blutige Revolution können in der geschichtsphilosophischen Reflexion als Anlässe beurteilt werden, die auch etwas Positives und einen Fortschritt zum Besseren ausgelöst haben; das mag der Fall sein, wenn z. B. endlich Verhandlungen geführt oder emanzipatorische Rechte etabliert oder verbessert werden. Doch die geschichtsphilosophische Reflexion darf sich dennoch nicht dazu versteigen, den Krieg und die Katastrophe selbst als etwas Gutes zu bestimmen. Sie muss ihr Urteil für weitere Reflexionen, die aufgrund sich verändernder Umstände zu einem anderen Urteil gelangen, offenhalten. Kant vollzieht mit dieser kritischen Neubestimmung des teleologischen Urteils eine grundsätzliche Kritik an der gesamten, zu seiner Zeit noch prominenten Tradition.

Doch bei aller Anerkennung für diese kritische Begründung des geschichtsphilosophischen Urteils: sie sollte meines Erachtens nur der Anfang und nicht das Ende einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsbegriff sein. Denn wir müssen bei Begriffen, auf die uns die praktische Vernunft leitet, auch die gesellschaftlichen und globalen Folgen, die ein Begriff in der sozialen Kommunikation und Praxis zeitigt, berücksichtigen. Die praktischen Folgen zeigen möglicherweise problematische Dimensionen bereits gewonnener Bestimmungen des Begriffs. Sie zur Kenntnis zu nehmen, ist unerlässlich, um den betreffenden Begriff in einer sich verändernden Lebenswelt weiterzuentwickeln. Zu fragen ist daher: Welche Bestimmungen des Fortschrittsbegriffs bergen Anknüpfungspunkte für – bis heute wirksame – Pseudorechtfertigungen von ungerechter Ungleichheit, Überheblichkeit oder ideologische Legitimationen von Macht- und Ausbeutungsinteressen?  

Ich versuche, dazu eine, wenn auch sicher nicht erschöpfende Überlegung zu formulieren. Kant hat meines Erachtens an vielen Stellen seine eigene kritische Begrenzung des geschichtsphilosophischen Urteils unterschritten. Und es sind diese Stellen, die einem problematischen Verständnis des Fortschritts Vorschub leisten, weil in ihnen die ideologische Unterscheidung von „fortgeschrittenen“ und „zurückgebliebenen“ bzw. in ihrer Entwicklung „stagnierenden“ Völkern tradiert und im Diskurs gehalten wird. Um die betreffenden Stellen kritisch zu rezipieren, ist es wichtig zu wissen, dass Kant – wie viele seiner Zeitgenossen – mit dem Fortschrittsbegriff unter Rekurs auf die oben erwähnten Prozesse der Kultivierung und Zivilisierung auch bestimmte Menschengruppen und Ethnien in konkrete Stadien der Entwicklung in der Zeit sortiert und hierarchisiert hat. Die Verbindung des Fortschrittsbegriffs mit konkreten Phänomenen ist zwar ohne Frage wichtig. Aber es ist gerade dieser Bezug auf die Lebenswelt, der es nötig macht, die Kritik auch nach der Grundlegung des Fortschrittsbegriffs noch weiter fortzusetzen.   

Nicht nur in Vorlesungsnachschriften, sondern auch in den veröffentlichten Schriften, in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht oder in der Kritik der Urteilskraft, werden Menschengruppen und Ethnien – insbesondere: sie abwertende – Eigenschaften zugeschrieben. Diese Zuschreibungen stammen in großen Teilen aus zeitgenössischen Reiseberichten und sind in den Debatten der Zeit fest etabliert: so etwa der Topos der Indolenz. Er wird in vielen Quellen aufgerufen und bezeichnet die vorgeblich „natürliche Faulheit und Trägheit“ indigener Bewohner insbesondere heißer Klimazonen, die bereits mit der Betitelung als „Wilde“ in ein frühes Stadium der Menschheit verwiesen werden. Der Topos selbst ist also keine Erfindung Kants, sondern wird von ihm aufgenommen. So ist etwa in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die Rede von „dem“ (in der zeitgenössischen Diskussion regelmäßig angeführten) „Caraiben“. Ihn kennzeichnet vorgeblich eine „angeborene Leblosigkeit“, wie es auch in zahlreichen Reiseberichten heißt. Damit wird ihm sowohl der unmittelbare Antrieb abgesprochen, sich weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen, als auch die Sensibilität für die „Stacheln der Tätigkeit“, mit denen die Natur ihn zur Erfüllung ihres Plans anzutreiben versucht. Die „Stacheln“ werden im Rahmen der geschichtsphilosophischen Reflexion als Anlässe beurteilt, um „aus dem gegenwärtigen Zustande herauszugehen“ und in Kultivierung und Zivilisierung fortzuschreiten.

Die Darstellungen in den Reiseberichten, die für Kant die Quellen bilden, sind selbst aber keine objektiven Beschreibungen, auch wenn sie sprachlich so formuliert sind. Sie sind vielmehr Ergebnisse unkritisch-teleologischer Vorurteile, die sich dogmatisch auf europäischen Vorstellungen von Kultivierung und Zivilisierung gründen. Und es sind diese unkritisch-teleologischen Beurteilungen, die ungeprüft als vorgeblich empirische Beobachtungen und Beschreibungen in Kants geschichtsphilosophische Reflexion eingewandert sind. In der Folge werden sie dann – freilich unzulässig – von ihm zum Beleg einer Fortschrittsfähigkeit oder eben -unfähigkeit bestimmter Gemeinschaften herangezogen. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten trifft man, ganz losgelöst von einer geschichtsphilosophischen Reflexion, auf die sogenannten „Südsee=Bewohner“, die als weithin bekanntes Beispiel für die Indolenz indigener Ethnien angeführt werden. Sie bilden im Zusammenhang der moralphilosophischen Grundlegung eine Veranschaulichung für die Verletzung der Pflicht gegen sich selbst, seine Talente auszubilden. Kant hat es versäumt, hier die Kritik, die er an der unkritischen Teleologie selbst formuliert hat, auch auf seine Quellen anzuwenden, deren er sich bedient, um dem Fortschrittsbegriff einen Inhalt oder um Beispiele für eine vorgeblich moralische Rückständigkeit zu geben.  

Einmal mehr werden die kritischen Grenzen unterschritten, wenn die Maßstäbe, die innerhalb der kritisch-teleologischen Reflexion zur Anwendung kommen, selbst nicht kritisch reflektiert werden. Das ist dann der Fall, wenn die Schritte in Richtung auf das globale Ziel der weltbürgerlichen Gemeinschaft ausschließlich unter Bezug auf lokale (in diesem Fall europäische) Vorstellungen von Kultivierung und Zivilisierung beurteilt werden. Wenn es darum gehen soll, Einsichten, Errungenschaften oder soziale Praxen auszumachen, die dem globalen Ziel der weltbürgerlichen Gemeinschaft zuträglich sein könnten, müssen sie aber auch unter globalen (und das bedeutet: pluralen) und nicht nur unter lokalen Perspektiven gemeinschaftlich gewonnen und geprüft werden. Statt die Zielbestimmung des Fortschritts – die Idee eines rechtlich gegründeten, weltbürgerlichen Friedenszustandes zur Erweiterung und zur Dezentrierung der eigenen Wertüberzeugungen zu nutzen, werden die lokalen Errungenschaften als „global“ gesetzt und Anpassung gefordert. Auf diese Weise verwandelt sich die emanzipatorische Dimension der Idee des Weltbürgertums in Repression – und das kann nicht nur zu Kants Zeiten, sondern auch heute noch eintreten.  

Andrea Marlen Esser ist seit 2015 Professorin für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Vorher hatte sie Professuren an der Philipps-Universität Marburg, der RWTH Aachen und der Hochschule für Gestaltung Pforzheim inne. Seit 2022 ist sie Leiterin des Koselleck-Projekts der DFG „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in Klassischen Werken der Deutschen Philosophie?“. Sie ist außerdem Herausgeberin von Kants „Critik der Urtheilskraft“ im Rahmen der Neuedition von Kants Akademie-Ausgabe der BBAW.


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