Dieser Tagungsbericht erscheint parallel auf dem Philosophieblog praefaktisch.
Die diskursive Aushandlung von Meinungs- und Interessenkonflikten gilt zu Recht als Lebenselixier der Demokratie. Wie öffentliche Diskussionen geführt werden sollten und ob ihre Qualität ein Indikator für die Gesundheit einer Demokratie ist, steht indessen zur Debatte. Denn die vielerorts gestellte Diagnose einer demokratischen Krise oder gar einer demokratischen Regression betrifft, neben der institutionellen Ebene, auch Sprach- und Kommunikationspraktiken.
Die Stichworte der üblichen Verfalldiagnose der Gesprächs- und Debattenkultur in den sogenannten konsolidierten europäischen Demokratien – Polarisierung der Inhalte, Desinteresse am Wahrheitsgehalt, Aggressivität, hetzerische Wortwahl – weisen auf eine Verschiebung der Grenzwerte in Richtung steigender Feindseligkeit hin, die auch deshalb viele beunruhigt, weil sie sich allmählich zum Standard öffentlicher Kommunikation etabliert.
Inwieweit ist eine solche Verrohung der Debattenkultur mit demokratischen Werten kompatibel? Wie lässt sich der Aufstieg der politischen Kategorie des Feindes, als Inhalt und Form öffentlicher Kommunikation, innerhalb demokratischer Ordnungen legitimieren? Sind grundlegende Konzepte westlicher Ideengeschichte wie politische Freundschaft und Zivilität inzwischen veraltet, oder können sie in aktualisierter Form einen brauchbaren Kompass für Theorie und Praxis der politischen Debattenkultur darstellen?
Ein Forum für die kritische, aber sicherlich freundschaftliche Diskussion gegenwärtiger (un)demokratischer Debattenkultur bot die internationale Tagung „How to dis/agree like friends. Historical insights, philosophical roots, and fresh perspectives on the current state of debate culture in liberal democracies”, die vom 12.06. bis zum 14.06.2024 in Regensburg stattfand. Das Organisationsteam mit Eva Helene Odzuck, Sarah Rebecca Strömel, Manfred Brocker, Daniel Eggers und Ricarda Wünsch brachte auf der interdisziplinär ausgerichteten Tagung Positionen aus Demokratietheorie, Ideengeschichte und politischer Philosophie in Dialog.
Verfall der Debattenkultur oder legitime demokratische Praxis?
Das Tagungskonzept setzte die gegenwärtige Brutalisierung der demokratischen Debattenkultur – mit Fokus auf Europa – als Tatsache voraus. Schon hier ließe sich einwenden, dass diese Diagnose eine Sache der Perspektive ist: denn die Bewertung der Qualität einer demokratischen Debatte dürfte davon abhängig sein, welches Demokratiekonzept man vertritt.
Oliver Hidalgo hat die ausgestellte Diagnose in seinem Beitrag in diesem Sinne relativiert, indem er eine Taxonomie möglicher demokratischer Formen aufführte, die von einer großen Spannbreite an miteinander konfligierenden, dennoch gleichermaßen legitimen Werten, Interessen und Praktiken im unterschiedlichen Maße geprägt sein können. Nach diesem Modell antinomischer Demokratie sind gegensätzliche Neigungen und Prinzipien, Ambivalenzen und Widersprüche für demokratische Ordnungen konstitutiv und daseinsberechtigt, die deliberative Vernunft genauso wie die populistische Zuspitzung von Emotionen – vorausgesetzt, dass die Möglichkeit eines Trade-Offs offenbleibt und der eine Pol einer Antinomie sich nicht derart durchsetzt, dass die gegensätzliche Tendenz gänzlich unterdrückt wird. Der gemeinsame Nenner der sich daraus ergebenden möglichen Demokratieformen, welcher zugleich die Grenze des Demokratiebegriffes nach außen hin markiert, ist ein minimaler normativer Rahmen, der die Zustimmung über die Existenz einer Pluralität von Positionen innerhalb des jeweiligen Systems gebietet. So wird Demokratie als der Ort konturiert, innerhalb dessen zwar Konflikte ausgetragen werden, Werte und Meinungen aber durchaus polarisieren und auch mal kräftig aufeinanderprallen dürfen. Es fragt sich allerdings, ob die Vorstellung eines fast uferlosen und als neutral beschriebenen Trade-Offs von gleichwertigen und gleichberechtigten Antinomien, ohne ein systeminternes richtunggebendes normatives Rückgrat als legitimes Demokratiemodell ganz überzeugen kann.
Dass Demokratie sich nicht im deliberativen Modell erschöpft, bekräftigte auch Marie-Luisa Frick in ihrem Beitrag. Im Fokus stand eine kritische Betrachtung der Art und Weise, wie gegenwärtige Debatten den Zivilitätsbegriff als Korrektiv der sich zuspitzenden Konflikte präsentieren. Denn in Diskursen, die den Wert von Zivilität stark machen, schlummern zuweilen strittige Annahmen: Mitunter werden Gefühle und Leidenschaften als politische Faktoren zugunsten der Auffassung einer optimalen demokratischen Kommunikation als ausgewogener Austausch rationaler Argumente herabgesetzt. Ein Zivilitätsverständnis als von Gefühlen gereinigte sprachliche und kommunikative Praxis, wie auch die Identifizierung von Zivilität mit sozialem Frieden und Harmonie, verkennt aber sowohl die intrinsisch konfliktreiche Natur, als auch weitere substanzielle Dimensionen demokratischer Politik. Dazu zählen die moralische und politische Pflicht eines diskursiven Engagements (Diskurstapferkeit), die Aufgeschlossenheit für berechtigte Ausnahmen der Zivilitätsnorm, sowie eine prudentielle Haltung, die es gebietet, Zivilität gegebenenfalls nicht als Priorität zu gewichten.
Als Kontrapunkt zu den kritischen Positionen wirkte der Vortrag von Marcus Llanque über den Wert und die Funktion von Zivilität sowohl innerhalb politischer Praxis, als auch im Kontext öffentlicher Kommunikation. Aus dem konzeptuellen Reservoir von Hannah Arendt wurde hier der Maskenbegriff, als Metapher für die öffentliche Rollenübernahme in Politik und Gesellschaft, herausgehoben: Zu tragen wie ein Kleid, das Private zugleich verdeckend und schützend, bedingt die Maske eine bestimmte Haltung und Verhaltensweise. Mit dem Anziehen einer Maske werden im Publikum Verhaltenserwartungen aktiviert, die vom Akteur, der öffentlich handelnden persona, übernommen und (individualisiert) ausgeführt werden. Die Maske als gesellschaftlich-politische Rolle weist auf eine, von sich selbst und von den anderen Akteuren geforderte Selbstdisziplin hin, die die Triebfeder der Gefühle nicht ignoriert, sie aber zum Zweck einer zielführenden, ernsthaften und respektvollen öffentlichen Interaktion zu zügeln vermag.
Neben der im Beitrag hervorgehobenen semantischen Verbindung zwischen Maske, Öffentlichkeit und Zivilität wären aber auch weitere Perspektiven zur Rolle von Masken im gegenwärtigen politischen Diskurs untersuchungswert, beispielsweise der Bezug der Maske zur Anonymität im Kontext demokratischer Partizipation – denkt man an das Maskentragen bei den Aktionen des Kollektivs Anonymous sowie an das leichte An- und Ausziehen von Masken als fiktive öffentliche Rollen in der digitalen Kommunikation.
Gerade die Diskussion der Spezifika der Online-Kommunikation dürfte aufgrund der hohen Aktualität in einer Tagung zum Thema demokratischer Debattenkultur nicht fehlen. So befasste sich Eva Marlene Hausteiner in ihrem Beitrag über die sogenannten Verschwörungstheorien mit einem sich vorzüglich durch digitale Netzwerke verbreitenden Phänomen. Bezugnehmend auf zwei gegenwärtige Stränge der Verschwörungstheorie-Forschung, wurden sowohl die Bezeichnung des Phänomens als Theorie (was ein konzeptuell zusammenhängendes Konstrukt suggeriert), als auch die alternative Interpretation als Narrativ (die eine emotionale Involvierung nahelegt) kritisiert. Vorgeschlagen wurde eine dritte Lesart: die Bezeichnung als Gerüchte (rumors) würde es erlauben, die fragmentarische Handlungstextur sowie die oft unbeteiligte Rezeption dieser epistemisch fragwürdigen Phänomene, die das Vertrauen in das Politikum unterminieren, besser zu erfassen und zu kontern. Obgleich das Projekt der Umbenennung der sogenannten Verschwörungstheorien nicht alle überzeugen konnte, zeigte die anschließende Diskussion, dass der Vortrag doch einen wichtigen Nerv getroffen hatte. Denn die Verbreitung der sogenannten Verschwörungstheorien bildet, speziell in digitaler Modalität, eine für das tradierte Verständnis ziviler und engagierter demokratischer Debatten ernstzunehmende Herausforderung. Diese lässt sich im Aufsteigen einer allgegenwärtigen Unterhaltungspolitik und -Kultur identifizieren, in der Stimmung und Ansehen, durch monetär gesteuerte digitale Mechanismen gepuscht, die Oberhand über die Ernsthaftigkeit verantwortungsvoller politischer Partizipation gewinnen.
Politische Ideengeschichte und aktuelle Diskurse
Neben der Auseinandersetzung mit aktuellen Herausforderungen war ein ausdrückliches Vorhaben der Tagung, durch einen historischen Rückblick das Potential fundamentaler Begriffe der europäischen Ideengeschichte als Ressource für die Interpretation der gegenwärtigen demokratischen Debattenkultur zu erkunden. Das nahm sich Annalisa Antonia Cerron in ihrem Beitrag zum Freundschaftsbegriff bei Aristoteles und Rousseau vor. Aus der vergleichenden Analyse stellte sich Freundschaft als eine facettenreiche hermeneutische Quelle für das Denken über politische Gemeinschaften heraus. Zwar liegt es nahe, zivile Freundschaft als ein Modell sozialer Bindungen zu interpretieren, das sich eher zu kommunitaristischen politischen Entwürfen fügt. Freundschaft könnte sich aber auch als eine fruchtbare Kategorie für liberale Demokratiekonzepte erweisen. Während das vorgeschlagene Verständnis von Freundschaft als Identifikation, ja Fusion mit dem anderen (Rousseau) eine etwas utopische und nicht immer demokratiefördernde Nivellierung der Konflikte suggerieren kann, ließe sich die von der zivilen Freundschaft getragene Idee der Anerkennung der Anderen als gleichberechtigte Diskussionspartner gewinnbringend beisteuern, als Paradigma der Reziprozität, die das Politische legitimiert. Aus dieser (Rawlsschen) Perspektive heraus, die Konfliktualität als konstitutiv für demokratische Systeme anerkennt, könnten die diagnostizierten Verrohungstendenzen öffentlicher Debattenkultur als Verletzung des Reziprozitätsgebots und damit als Zeichen der Erosion politischer Legitimation interpretiert werden.
Aus einem ganz anderen Blickwinkel heraus näherten sich Peter Schröder und Samuel Garrett Zeitlin der Bedeutung der Ideengeschichte für die aktuelle Debattenkultur. Die Leitfrage ihres lebhaften und teils provozierenden Vortrags stellten sie auf Metaebene: Warum sollte man sich heute überhaupt noch mit den Klassikern politischer Ideengeschichte befassen? Wohl nicht um bloß die Antworten für gegenwärtige Herausforderungen bei den klassischen Texten zu suchen, sei es auch nur weil historische und kulturelle Unterschiede im jeweiligen epistemischen Horizont die Gefahr unberechtigter Vergleiche und inhaltlicher Verzerrungen bergen. Vielmehr geht es um den Wert einer immer neu zu revidierenden, historisch gerichteten Erforschung der Klassiker, die in puncto Systematizität, Einsicht und Eleganz viele zeitgenössische Leistungen politischer Theorie übertreffen, so die Vortragenden. Dabei verrieten sie ihre Sorge, dass irgendwann angesichts neuerer Positionen und Forschungsthemen der institutionell gewährte Raum für die Klassiker der Ideengeschichte zum Schrumpfen verurteilt sein wird. Das führte in Vortrag und Diskussion dazu, dass die Verteidigung dieser Tradition zuweilen auf Kosten einer nicht sehr anerkennenden Darstellung neuerer, sowie nicht westlicher, politikwissenschaftlicher Produktion erfolgte. Dabei wäre es zu berücksichtigen, dass der Wunsch vieler Studierenden und Forschenden nach neuen Gedanken und politischen Konzepten im gegenwärtigen Kontext beträchtlicher Veränderungen entsteht, mitunter auch im Bewusstsein für die globalen Dimensionen von Geschichte und Politik. So zeigte der Beitrag auf indirekte Weise die Bedeutung bildungspolitischer Diskussionen für die gegenwärtigen Entwicklungen demokratischer Debattenkultur: Denn auch dort müssen Spannungen zwischen unterschiedlichen Überzeugungen und Interessen ausgehandelt werden, die selten rein wissenschaftlicher, öfters wohl auch politischer Natur sind und weit über die Grenzen einer demokratischen Bürgerschaft hinaus die internationale Dimension aktueller politischer Realität involvieren.
Schließlich bot der Beitrag von Erica Benner ein einleuchtendes Beispiel dafür, inwiefern die Ideengeschichte zur Deutung der Gegenwart beitragen kann. Thukydides Analyse des Peloponnesischen Krieges liefert anschlussfähige Einsichten über die Mechanismen des Verfalls öffentlicher Debattenkultur in Krisenzeiten. Damals wie heute lässt sich symptomatisch ein Phänomen feststellen, dass von ruhiger, aber durchaus gewaltigerer Natur ist als die Verrohung der Debatten: Wörter beginnen, ihre Bedeutung zu verlieren, ausschlaggebende Begriffe signifizieren plötzlich etwas ganz anderes, auf einmal klingen sie völlig sinnentleert. So wird heute beispielsweise innerhalb demokratischer Ordnungen einem durch inflationäre Verwendung zunehmend konturloseren Faschismus-Vorwurf ausgerechnet dort ausgewichen, wo er möglicherweise zutreffend wäre. Indessen werden diktatoriale Regime im Nu zu selbsternannten Demokratien. Wenn man solche Freunde hat, braucht man keine Feinde mehr.
Silvia Donzelli ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Universität Regensburg. Ihr Dissertationsprojekt untersucht die Grenzen der Verantwortung für die Unterstützung von Menschenrechtsverletzungen durch Business, Rede und Unterlassungen. Weitere Schwerpunkte sind digitale Gegenrede und Afrikanische Philosophie.