Die Krise vertagen? Kommentar zu Benjamin Schmids „Paradoxien der Ausnahmezeit“

Unter der Überschrift „Temporalstrukturen des Ausnahmezustandes“ steht die gerade neu erschienene Ausgabe der Zeitschrift für Politische Theorie. Die drei Herausgeber des aktuellen Themenheftes, André Brodocz, Hagen Schölzel und Jan Christoph Suntrup, haben neben ihrem eigenen Beitrag – einer Umfrage zum Thema „Sind wir auf dem Weg in ein Zeitalter der Ausnahmezustände?“ – vier spannende Abhandlungen zum thematischen Fokus des Heftes versammelt: Der Beitrag von Benjamin Schmid, den wir als Gegenstand für die ZPTh-Debatte auf dem Theorieblog ausgewählt haben und der damit zugleich hier open access verfügbar ist, stellt ausgehend von vier Paradoxien der Ausnahmezeit Überlegungen zu einem alternativen Paradigma des Regierens und Regiert-Werdens an. Der unter der Formel „Souverän ist, wer über die Zeit verfügt“ stehende Beitrag von Tamara Ehs, Ece Göztepe und Matthias Lemke setzt sich mit der Beschleunigung der Entdemokratisierung im Ausnahmezustand auseinander. Marlon Barbehön widmet sich in seinem Aufsatz der Performativität kommunikativer Grenzziehungen zwischen politischer Ausnahme- und Normalzeit und Leo Roeperts Beitrag analysiert die Zeitstruktur rechter Krisenmythen. Unter der Rubrik „Wiedergelesen“ wird das Heft mit einer Lesenotiz von William E. Scheuerman zu Jürgen Habermas‘ Demokratietheorie in Faktizität und Geltung abgerundet.

Wir freuen uns sehr, dass Jonas Heller von der Goethe-Universität Frankfurt im Folgenden die Debatte auf dem Theorieblog mit einem Kommentar zum Beitrag „Paradoxien der Ausnahmezeit. Überlegungen zu einem alternativen Paradigma des Regierens und Regiert-Werdens“ von Benjamin Schmid eröffnen wird. In einem zweiten Blogbeitrag wird der Autor im Rahmen einer Replik hierauf antworten. Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre und übergeben nun das Wort an Jonas Heller.

 

Die Erklärung eines Ausnahmezustands impliziert, dass ohne rasches Handeln die politische Ordnung zerfallen könnte: Es wird Handlungszwang behauptet. Insofern das neuzeitliche politische Denken den Ausnahmezustand, so Benjamin Schmid anschließend an Giorgio Agamben, zum Paradigma des Regierens erhoben hat, erscheine politisches – genauer: staatliches – Handeln nicht als souverän, sondern als zwanghafter „Aktionismus“, der „nicht zu einer Ermächtigung über das Geschehen, sondern zu einem ohnmächtigen, von Augenblick zu Augenblick Getriebensein“ führe (S. 197). Schmid verweist damit in seinem Aufsatz auf eine überraschende Dialektik: Die (Zeit-)Not, die von jenen behauptet wird, die den Ausnahmezustand erklären, fällt auf sie zurück und nimmt ihrem Handeln die erforderliche Weitsicht, um die Lage zu klären. Während ein Regieren im Modus des Ausnahmezustands die Politik an die Notwendigkeit ausliefere, könnte, so Schmid, eine am Paradigma des Zögerns orientierte Regierungsweise die politischen Spielräume weiten. Besonders interessant ist, wie Schmid die beengende Hektik des Ausnahmezustands in Auseinandersetzung mit theoretischen Quellen herausarbeitet, die bis zu Thomas von Aquin reichen. Schmids bedenkenswerter Vorschlag geht auf diese Weise hinter die einflussreiche Theorie Carl Schmitts zurück – bleibt dabei aber, wie ich zeigen möchte, einigen seiner problematischen Annahmen verhaftet. Schmid liegt an einer Distanzierung von Schmitt – sowohl in der Diagnose des Problems, die er hauptsächlich anhand des frühneuzeitlichen politischen Denkens bei Machiavelli und Hobbes entwickelt, als auch im Ausblick auf eine Lösung, die er ausgehend von Walter Benjamin skizziert. Ein Problem der Argumentation besteht allerdings darin, dass sowohl Problemdiagnose als auch Lösungsstrategie fragwürdige Schmittsche Prämissen reproduzieren. Eine kritische Reflexion dieser Voraussetzungen lässt an Schmids Vorschlag, im Zögern ein gutes Paradigma des Regierens zu sehen, Zweifel aufkommen.

Ich werde zunächst theoriegeschichtlich daran erinnern, dass die von Schmid thematisierte, im Ausnahmezustand auftretende Spannung zwischen Zwang und Ermächtigung im Zentrum von Carl Schmitts Theorie der Souveränität steht (1). Anschließend werde ich argumentieren, dass Schmids genealogische Deutung, die in Hobbes einen Denker der Ausnahmelogik sieht, einer irreführenden Fährte folgt, die Schmitt gelegt hat (2). Auch dass ein Regieren im Modus des Ausnahmezustands diejenigen, die regieren, unter (Zeit-)Druck setzt und dadurch Handlungsspielräume verengt werden, liegt nur dann nahe, wenn ein Verständnis des Ausnahmezustands zugrunde liegt, das Schmitt exponiert hat (3). Dies führt zu meinem Zweifel am Zögern als alternativem Regierungsparadigma: Nicht im Entscheidungsdruck scheint mir das Problem zu liegen, sondern in der (von Schmitt beförderten) Annahme, dass das Entscheiden, wenn Druck aufkommt, ganz bei der Regierung liegen solle (4).

(1) Der Zusammenhang von Ausnahmezustand und Notwendigkeit berührt ein Problem, das sich mit Blick auf Carl Schmitts Theorie der Souveränität stellt: Einerseits bildet die im Ausnahmezustand erfolgende Suspension rechtlicher Normen – d.h. die nicht normierte politische Entscheidung – nach Schmitt „das Kriterium der Souveränität“ (Schmitt 2010: 107); andererseits gilt ihm diese Entscheidung als unvermeidlich, weil sie durch die geschichtliche Lage erzwungen wird (vgl. Heller 2019). Schon Luhmann hat dagegen darauf hingewiesen, dass der Begriff der Souveränität impliziere, nicht entscheiden zu müssen, sondern vielmehr „auch in der Frage Entscheidung/Nichtentscheidung souverän“ zu sein (Luhmann 1993: 418). Schmitts Definition der Souveränität enthält vor diesem Hintergrund einen „unsouveränen“, ja ohnmächtigen Aspekt. Diesen Aspekt der Ohnmacht rückt Benjamin Schmid ins Zentrum, arbeitet ihn allerdings nicht anhand von Schmitts Schriften, sondern der Theorien von Machiavelli und Hobbes heraus. Im folgenden Punkt wende ich mich Schmids Hobbes-Deutung zu.

(2) Referenzpunkt von Hobbes’ politischem Zeitverständnis sei, so Schmid, „nicht der Frieden, sondern der Krieg“; denn der Frieden bilde eine „Ausnahmezeit“, die der Souverän gegen einen ständig drohenden Krieg unablässig garantieren, d.h. „wieder und wieder erzeugen“ müsse (S. 192). Nun ist die Behauptung, der politische Zustand bestehe nur angesichts der ständigen Eventualität des Krieges, allerdings nicht das Zentrum von Hobbes’, sondern von Schmitts Theorie – der sich verschiedentlich und mithin zu Unrecht auf Hobbes beruft (vgl. etwa Schmitt 2003: 52). Während es für Schmitt das Politische, auch den Staat, nur gibt, solange Krieg ständig möglich und Prävention dauernd geboten ist, beschreibt Hobbes die Zeit des Staates gerade als weitestgehende Absenz dieser Eventualität des Krieges: Anders als im kriegerischen Naturzustand besteht im politischen Zustand nicht die Notwendigkeit einer dauernden präventiven Absicherung und Aufrüstung. Krieg erschöpft sich nach Hobbes dabei „nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann“ (Hobbes 1991: 96). Dieser Zeitraum des möglichen Krieges ist für Hobbes der unpolitische, für Schmitt hingegen der politische Zustand. Diese Differenz ist folgenreich: Denn geht es für Hobbes beim Staat von Anfang bis Ende um die Selbsterhaltung der Einzelnen, so geht es bei Schmitt um die Selbsterhaltung des Staates. Nur in einer von Schmitt geprägten Sicht kann daher die Hobbessche Theorie im Licht des – auf die Erhaltung des Staates, nicht der Einzelnen zielenden – Ausnahmezustands erscheinen.

(3) Dass es denjenigen, die einen Ausnahmezustand erklären, tatsächlich um die Erhaltung des Staates gegen einen ihn bedrohenden Verfall geht, steht für Schmitt in seiner Theorie außer Frage. Die souveräne Entscheidung, dass ein Ausnahmezustand vorliegt, erscheint bei ihm nie als bloßer Vorwand zur Erweiterung der Machtbefugnisse, sondern allein als Feststellung faktischer politischer Notwendigkeit. Nur im Lichte dieser Schmittschen Prämisse führt der Ausnahmezustand zu Handlungszwang und schürt eine Dynamik von Zeitdruck, Dringlichkeit, womöglich gar Zwang. Mit Blick auf Ausnahmezustände, wie wir sie im letzten Jahrzehnt etwa in Frankreich und in der Türkei kennengelernt haben, liegt es hingegen näher, von einer Ausweitung (und Ausnutzung) exekutiver Handlungsspielräume auf Kosten der Parlamente und in jüngerer Zeit auch vermehrt der Gerichte auszugehen. Benjamin Schmid argumentiert hingegen, dass ein Regieren im Paradigma des Ausnahmezustands eine Ohnmacht „gegenüber der Zeit“ mit sich bringe (S. 200). Hier ist einzuwenden, dass der Ausnahmezustand nicht zwingend eine Beschleunigung unter dem Druck des Bestehenden bedeutet; er vermag vielmehr von gesetzlich geregelten Fristen (etwa hinsichtlich des Festhaltens Verdächtiger) und dem Lauf von Verfahren zu entbinden. Die den Ausnahmezustand kennzeichnende Suspension der Rechtsnormen kommt von lateinisch suspendere – „schwebend halten“; in suspenso bedeutet „unentschieden“. In der Schwebe gehalten, souverän aufgeschoben, ist dabei die Entscheidung, ob überhaupt zum normierten Zustand zurückgekehrt oder, ganz allmählich, zögernden Schrittes und dadurch den kritischen Aufschrei meidend, ein neues Recht gegründet wird (vgl. dazu Derrida 1991: 78) – eines, in dem die exekutiven, mitunter präsidialen Machtbefugnisse weitaus lässiger sind. Es ist deshalb keineswegs ausgemacht, ob das Zögern, wie Benjamin Schmid nahelegt, tatsächlich eine Antithese zum Paradigma des Ausnahmezustands darstellt oder diesem nicht vielmehr in problematischer Weise zugehört.

(4) Das von Schmid vorgeschlagene „am Zögern orientierte[] Paradigma des Regierens“ soll „das Strategiedefizit des Ausnahmezustands“ adressieren, denn „[d]er Zögernde gewinnt […] Macht über Zeit. Er unterwirft das Geschehen seinem Willen und seinem Tempo, oktroyiert den anderen am Geschehen Beteiligten dadurch seine Zeittaktung auf beziehungsweise bemächtigt sich der Zeit anderer.“ (S. 200) Auch wenn das Anliegen Schmids, deutlich zu machen, dass eine Entscheidung nie alternativlos ist (vgl. S. 199), wichtig ist, erscheint mir fragwürdig, ob das Zögern tatsächlich eine geeignete Strategie ist, „eine Entscheidung nach eigenen Bedingungen herbeiführen zu können“ (S. 200). Zumal: Um wessen eigene Bedingungen handelt es sich denn? Der Zögernde, der „[i]m „Machtpoker […] sein Blatt bedeckt“ hält und „den letzten Zug für sich“ beansprucht (ebd.), wirkt insofern als souveränes Subjekt im Schmittschen Sinn, als es um die Durchsetzung einer personalen Entscheidung zu gehen scheint (vgl. dazu Schmitt 2009: 13-15). Der Zögernde erscheint hier zwar als nüchtern abwägend (vgl. S. 201), doch auch das Vorbild weise Regierender hat einen (Schmittschen) Hang zur Überprivilegierung der Exekutive. Gegenüber der vorgeschlagenen Gelassenheit der Regierung wäre auch in Betracht zu ziehen, ob es nicht angesichts von Klimakatastrophen, Pandemien und anderen Krisen in der Tat zuweilen schnell gehen müsste, schneller als es häufig geht, was aber – gegen Schmitt – nicht bedeutet, dass deswegen die Befugnisse an die Exekutive fallen müssen. Gerade die letzte Pandemie hat gezeigt, dass das Regierungshandeln keine höhere Geschwindigkeit erreicht, die eine Entmächtigung der Parlamente rechtfertigen könnte (vgl. Möllers 2020: 273). Parlamente können schnell handeln (die Behauptung des Gegenteils war bekanntlich ein Kernanliegen Schmitts). Dass der Schlüssel zur richtigen Politik überhaupt in der Geschwindigkeit liegt – ob eilig oder zögernd – ist indes ein Vorurteil, das dem Ausnahmedenken inhärent ist und von diesem nicht vorschnell übernommen werden sollte. Besonders deshalb, weil der Ausnahmezustand nicht einfach eine Politik der Eile ist, sondern Eile und Weile als Mittel einer undemokratischen Regierungsstrategie verbindet.

 

Jonas Heller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Praktische Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt. Seine Dissertation „Mensch und Maßnahme. Zur Dialektik von Ausnahmezustand und Menschenrechten“ erschien 2018 im Velbrück Verlag. Derzeit arbeitet er an seiner Habilitation zu unterschiedlichen Modellen geschichtlichen Wandels nach Hegel. 

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