The letter from Birmingham Jail – oder wie Martin Luther King Jr. dem zivilen Ungehorsam eine neue Bedeutung zuschrieb

Vor 50 Jahren, am 16. April 1963 veröffentlichte Martin Luther King Jr. seinen berühmten Letter from Birmingham Jail. Der Text gilt gemeinhin als Schlüsseltext für Kings Verständnis von zivilem Ungehorsam. King reagierte damit auf einen wenige Tage zuvor in verschiedenen Zeitungen publizierten offenen Brief von acht weißen Geistlichen, die die Protestaktionen des Civil Rights Movement kritisierten und den sozialen Frieden in der Stadt gefährdet sahen. Der Letter from Birmingham Jail gilt als einer der wichtigsten Texte Kings, da er dort in komprimierter Form sein Verständnis von politischem Protest, den Beweggründen, den Zielen, den Rechtfertigungen, der Ethik des Protests usw. erläutert. Darüber hinaus steht der Text auch exemplarisch für eine neue und intensivierte Phase des Protests, denn mit der Birmingham Campaign praktizierte das Civil Rights Movement nach eigenem Verständnis zum ersten Mal zivilen Ungehorsam.  

Im April 1963 startete die Southern Christian Leadership Conference unter Leitung von Martin Luther King Jr. die sogenannte Birmingham Campaign, mit der sie gegen die rassistische Diskriminierung in der Stadt Birmingham und im Bundesstaat Alabama vorging. Stadt und Bundesstaat galten nicht nur als jene Orte im Land, an denen die rassistische Segregation am entschiedensten betrieben wurde, sondern die Stadt Birmingham hatte mit ihrem Polizeichef Eugene „Bull“ Connor auch noch einen gefürchteten Gegner des Civil Rights Movements 

Die Birmingham Campaign beinhaltete eine Reihe von kollektiven Aktionen, mit denen der Alltag massiv gestört und der normale Betrieb zum Erliegen kommen sollte, wie sit-ins in rassistisch segregierten Restaurants und Bibliotheken, kneel-ins in den Kirchen der Weißen, dem Boykott entsprechend rassistisch segregierter Einkaufsläden sowie Demonstrationen für gleiches Wahlrecht afroamerikanischer Menschen.  

Knapp zehn Tage nach Beginn der Protestaktionen landete King bereits im Gefängnis, weil er an einer nicht genehmigten Demonstration teilgenommen hatte. Richter W.A. Jenkins vom Alabama Circuit Court hatte auf Betreiben von Polizei und Verwaltung ein vorübergehendes Pauschalverbot von Paraden, Demonstrationen, Boykotten, unbefugtem Betreten und dem Aufstellen von Streikposten für die Stadt Birmingham, den Bezirk Jefferson County sowie den ganzen Bundesstaat Alabama erlassen und dies mit dem generellen und nicht weiter spezifizierten Verweis auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung begründet. King hatte sich über diesen Gerichtsbeschluss hinweggesetzt: Trotz Verbot führte er einen Demonstrationszug an und wurde entsprechend verhaftet. Für King und das Civil Rights Movement stellte dies insofern eine Zäsur dar, da sie sich bis dato immer an Gerichtsurteile gehalten hatten und allenfalls auf rechtlichem Wege dagegen vorgegangen waren. Nicht so in diesem Fall. 

Das Urteil zu ignorieren, stellte ihn und die Bewegung jedoch vor ein Begründungsproblem. Man kritisierte die Südstaaten gerade dafür, die Entscheidungen des Supreme Courts nicht umzusetzen, und jetzt ignorierte man selbst Gerichtsentscheidungen. Wie der Name schon sagt, verstand sich das  Civil Rights Movement ja gerade als eine Rechtsdurchsetzungsbewegung, die das nationale Recht (federal law) dort zur Geltung bringen wollte, wo es bundesstaatliche Behörden ignorierten und die zentralstaatliche Ebene ihrerseits nicht Rechtdurchsetzend tätig wird. Der Montgomery Busboykott (1955-1956) wenige Jahre zuvor steht exemplarisch dafür. Hierfür muss man sich vergegenwärtigen, dass mit dem Urteil Brown v. Board of Education von 1954 der Supreme Court die bis dahin gültige separate but equal-Doktrin außer Kraft setzte und die rassistische Segregation in öffentlichen Schulen mit Blick auf die Gleichstellungsklausel der US-Verfassung für verfassungswidrig erklärte. So gesehen brach Rosa Parks mit ihrer Verweigerung 1955 in Montgomery, den Sitzplatz für eine weiße Person zu räumen, zwar ein Gesetz des Bundesstaats Alabama; das Gesetz selbst jedoch Stand aufgrund der veränderten rechtlichen Situation bereits im Fadenkreuz. Wenn man hier überhaupt vom politisch motivierten “Gesetzesbruch” sprechen will, dann bestand seine Funktion darin, die Verfassungsmäßigkeit rassistisch segregierter Busse mittels individueller Verweigerungsakte anzuzweifeln bzw. daraufhin zu testen. Die Montgomery Campaign, im Zuge dessen sich das Civil Rights Movement formierte, sollte die Aufmerksamkeit auf diesen Umstand lenken, der Boykott sollte politischen Druck erzeugen und strategische Prozessführung, die den politischen Protest begleitete, hatte die Aufgabe, dem nationalen Recht zu einer neuen Realität zu verhelfen und die Prämissen des Urteils von 1954 auch auf andere Bereiche des öffentlichen Lebens auszuweiten. Ein Versuch, der in dem von der Bewegung initiierten Fall und dem entsprechenden Urteil Browder v. Gayle des United States District Court for the Middle District of Alabama 1956 und kurze Zeit später gar durch den Supreme Court bestätigt worden war.  

Bei den Protesten in Birmingham nun stellte sich die Situation mit Blick auf die rassistische Segregation zwar ähnlich dar, aber der Widerstand der white supremacists hatte sich besser koordiniert und neu ausgerichtet. Die Strategie bestand nicht mehr vorrangig darin, die als verfassungswidrig erklärten, rassistischen Gesetze zur Gestaltung des öffentlichen Lebens juristisch zu verteidigen, sondern die öffentliche Kritik an ihrem unverfrorenen Fortbestand dadurch zu verhindern, dass man die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit massiv einschränkte. Und es waren gerade die lokalen Gerichte (Bezirksgerichte, Bundesbezirksgerichte etc.), die sich hier zu Handlangern dieser Politik aufschwangen und mit ihrer „injuction methode“ das Versammlungsrecht mit Verweis auf öffentliche Sicherheit und Ordnung massiv unterwanderten. So auch in Birmingham. King sah darin einen Fundamentalangriff auf einen Grundpfeiler der Verfassung (Art. 1) und eine massive Gefahr für die Bewegung selbst. Aus diesem Grund vertrat er den Standpunkt, dass das Civil Rights Movement den Gerichtsbeschluss ignorieren müsse, und rief zum massenhaften zivilen Ungehorsam auf. Dieser politisch motivierte Gesetzesbruch müsse jedoch “openly, lovingly, (…) and with a willingness to accept the penalty” vonstatten gehen, und seine politische Funktion bestand darin, durch die offenen, aber gewaltlose Konfrontation mit der Polizei und den Massenverhaftungen die mediale Aufmerksamkeit auf Birmingham zu lenken, um damit trotz wegbrechender Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit das Heft des Handelns nicht aus der Hand zu verlieren.   

Den Vorwurf der acht weißen Geistlichen, die politischen Störaktionen (sit-ins, Blockaden etc.) sowie die Ignoranz gegenüber Gerichtsbeschlüssen führe letzten Endes zu Chaos und Unordnung, konterte King unter anderem damit, dass zwischen gerechten und ungerechten Gesetzen unterschieden werden müsse. Gerechten Gesetzen gegenüber bestehe eine Gehorsamspflicht; ungerechten Gesetzen gegenüber hingegen nicht.  Bei ungerechten Gesetzen handelt es sich um all jene Gesetze, die „distorts the soul and damages the personality“, „(…) creates superiority and a false sense of inferiority“, „(…) ends up relegating persons to the status of things” und die all jene Maßnahmen beinhalteten, die eine Mehrheit einer Minderheit auferlege, ohne dass sie für die Mehrheit selbst bindend sei. „I submit”, schreibt er, “that an individual who breaks a law that conscience tells him is unjust, and willingly accepts the penalty by staying in jail to arouse the conscience of the community over its injustice, is in reality expressing the very highest respect for law.” In der unverhältnismäßigen Einschränkung der Versammlungsfreiheit sah King also den Versuch, ungerechte Gesetze zu erhalten. 

Nach Erscheinen ist der Text intensiv von liberalen Jurist*innen und Wissenschaftler*innen an den US-amerikanischen Universitäten rezipiert worden. Das war Fluch und Segen zugleich. Im Brief sahen sie den Beleg dafür, dass das Civil Rights Movement mit den Grundsätzen der Verfassung kompatibel war, und verteidigten die Bewegung als zivilen Ungehorsam, der im Dienst der Verfassung stünde, gegen ihre Kriminalisierung von rechts. Zentral hierfür waren nicht nur Kings explizites Bekenntnis zu den USA („the goal of America is freedom“), zur Verfassung („great walls of democracy which were dug deep by the founding fathers in the formulation of the Constitution and the Declaration of Independence“) und das Portrait der Aktivst*innen als amerikanische Freiheitskämpfer*innen („they were in reality standing up for the best in the American dream and the most sacred values in our Judeo-Christian heritage“), sondern natürlich auch sein Plädoyer für die Gewaltlosigkeit des Protests, mit dem sich King dezidiert von der Nation of Islam unter Leitung von Elijah Muhammad und Malcom X absetzte. 

Auf diesem Weg wurden King und das Civil Rights Movement schrittweise jedoch ideologisch vereinnahmt. Der Protest wurde im Paradigma der Deliberation gedeutet, d.h. King wurde so interpretiert, als appelliere er vorrangig an das moralische Gewissen der Nation und habe letztlich mittels der Kraft seiner Argumente für einen Politikwechsel gesorgt. Dabei blieben jedoch die materiellen Zwangsmomente seines Protests unerwähnt (Streik, Boykott, Rechtsklagen, Blockaden von Behörden, Restaurants, Gefängnissen, etc), die er notwendigerweise entfalten musste, um überhaupt wirksam zu sein. King dagegen hatte im Letter from Birmingham Jail unzweifelhaft klar gemacht, dass “history is the long and tragic story of the fact that privileged groups seldom give up their privileges voluntarily. (…) I must say to you that we have not made a single gain in civil rights without determined legal and nonviolent pressure.“ Indem man vom Zwangsmoment des Protests absah und King darauf reduzierte, mit Worten überzeugen zu wollen, vereinnahmte man ihn nicht nur für die eigene Fortschrittserzählung westlicher Demokratien, sondern aus dem Protest wurde auch ein vermeintlich ehernes Kriterium gewonnen, wonach Regelverletzungen infolge von politischem Protest allenfalls „symbolischen Charakter“ haben dürften, um damit „an die Einsichtsfähigkeit und den Gerechtigkeitssinn der jeweiligen Mehrheit zu appellieren“ (Jürgen Habermas). Mit diesem Kriterium an der Hand wird gerne auch heute noch von offiziösen Stellen her zwischen legitimen und illegitimen Protest differenziert.  

Hinzu kommt noch ein anderer Sachverhalt. Die liberale Rezeption, so gut sie auch gemeint war, abstrahierte in ihrem Versuch zur theoretischen Modellbildung einer Konzeption von zivilem Ungehorsam von dem ganz konkreten Beweggrund des Civil Rights Movement, der Bekämpfung des strukturellen Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft. In klassisch liberaler Manier und John Rawls folgend wähnte diese Rezeption das Problem in ungleich verteilten Rechten und ging davon aus, dass sich die Anliegen der Bewegungen mit der „abstract and formal extension of perviously color-coded principles to the nonwhite population“ (Charles Mills) erfüllen ließen. Auch King dachte das eine Zeit lang und der Civil Rights Act von 1964 schien diese Hoffnung zu befeuern. Doch struktureller Rassismus und white supremacy sind mehr als rassistische Diskriminierung. Der Rassismus war in die Tiefenstruktur der Gesellschaft eingeschrieben und durchzog und strukturierte alle Bereiche des sozialen Lebens, von der Arbeit über Wohnen bis zu Schule und Bildung. Mit einer formalen Ausweitung von Rechten war dem nicht beizukommen.  

Kings Nachdenken über Protest trat daher ab ca. 1965 in eine neue Phase ein. Das hängt insbesondere mit seiner Hinwendung zur unverändert desaströsen Lage der Afroamerikaner*innen in den Großstädten des Nordens zusammen, dem Umstand, dass hierauf die Strategie des Civil Rights Movement nicht mehr so recht zu passen schien sowie dem Erstarken des Black Power Movements. In seinem Buch Where do we go from here: Chaos or Community von 1967 schreibt King, dass keine Kosten entstehen und keine Steuerausgaben nötig seien, wenn Afroamerikaner*innen Kantinen, Bibliotheken, Parks, Hotels und andere Einrichtungen mit Weißen teilen wollten. Im Fall des Nordens jedoch sähen die Probleme anders aus und „the real cost lies ahead.” Die „discount education“, die Afroamerikaner*innen bis dato gewährt wurde, müsse ersetzt werden durch eine qualitativ hochwertige Bildung. „Jobs are harder and costlier to create than voting rolls. The eradication of slums housing millions is complex far beyond integrating buses and lunch counters.” Mitte der 1960er Jahre bezifferte er die Investitionssumme, die hier nötig wäre, um soziale Veränderungen einzuleiten, auf über 50 Milliarden Dollar. Derartige Reformen waren weder von der Verfassung gedeckt, vom Supreme Court unterstützt noch fanden sie großartig Fürsprecher innerhalb der liberalen politischen Elite in Washington oder gar eine Mehrheit innerhalb der weißen Bevölkerung der USA. In dieser Konstellation denkt King den zivilen Ungehorsam daher auch nicht mehr in enger Tuchfühlung zur Rechtsordnung bzw. als ein Mittel zur Rechtsdurchsetzung. Vielmehr wird der zivile Ungehorsam – nun vorrangig von King in Form großer Streiks imaginiert – zu einem von vielen Mitteln, um politischen Druck für die Gestaltung neuer sozialer Realitäten zu erzeugen.  

 

Christian Volk ist Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht zum politischen Protest und arbeitet derzeit an einem Buch zum zivilen Ungehorsam