theorieblog.de | Warum die Reichen bewundert und die Armen verachtet werden
28. September 2023, Ronge
Im sechsten Beitrag unseres gemeinsam mit dem Politik & Ökonomie Blog veranstalteten Adam-Smith-Schwerpunkts widmet sich Bastian Ronge Smiths Analyse des affektiven Fundaments liberaler Gesellschaften – und der ihnen eingeschriebenen Notwendigkeit, ‚nach oben‘ zu bewundern und ‚nach unten‘ zu verachten.
Interessiert man sich für die bürgerliche Gesellschaft als „affective society“ (vgl. u. a. Slaby/von Scheve 2019), sprich für die Formen und Praktiken affektiver Vergesellschaftung, ohne die die liberale Gesellschaft westlicher Provenienz nicht sie selbst wäre, so kommt man an Adam Smith nicht vorbei. Wie bei kaum einem anderen Denker aus der Entstehungsphase der gegenwärtigen Gesellschaftsformation findet man bei ihm eine ausführliche Reflexion der Gefühlskultur seiner Zeit, gepaart mit kenntnisreichen ökonomischen Analysen und Politikvorschlägen. Das macht ihn zum idealen Untersuchungsgegenstand für all diejenigen, die sich für die Genealogie der Affektivität liberaler Gesellschaften interessieren. Eine Möglichkeit, diese Genealogie zu schreiben, besteht darin, Smith als Befürworter einer Synthese aus den Idealen des antiken Stoizismus und der Empfindsamkeit zu lesen. Was bei solch einer Fokussierung auf Smiths „sensitiven Stoizismus“ (vgl. Ronge 2015) aus dem Blick gerät, ist – und darum soll es mir im Folgenden gehen – der von Smith konstatierte Hang des liberalen Subjekts, ‚nach oben‘ zu bewundern und ‚nach unten‘ zu verachten. Die entscheidenden Passagen hierzu finden sich in seiner „Theorie der ethischen Gefühle“.
Der Hang, nach oben zu bewundern und nach unten zu verachten
Nachdem Smith den Grundbegriff der „sympathy“ eingeführt und erklärt hat, wie die sympathetische Interaktion zwischen beobachtender und handelnder Person die moralische Beurteilung der letzteren durch die erste bestimmt, wendet er sich im letzten Abschnitt des ersten Teils seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ demjenigen Faktor zu, der dafür sorgt, dass unsere moralische Beurteilungspraxis verzerrt und verfälscht wird. Verantwortlich hierfür ist laut Smith unser „Hang, die Reichen und Mächtigen zu bewundern […], und Personen in ärmlichen und niedrigen Verhältnissen zu verachten“ (Smith 2010, 93). Als Ideologe der bürgerlichen Gesellschaft erklärt Smith diesen Hang zu einer „natürlichen“ Disposition aller Menschen und rechtfertigt ihn mit dem Hinweis, dass diese affektive Disposition notwendig sei, „um die Standesunterscheidung und die Ordnung der Gesellschaft zu begründen und aufrechtzuerhalten“ (Smith 2010, 93f.). Zugleich gibt er zu, dass in diesem Hang „die größte und allgemeinste Ursache der Verfälschung unserer ethischen Gefühle“ (Smith 2010, 93f.) liegt. Was ist damit gemeint?
Eigentlich sollten sich die Gefühle der Bewunderung und der Verachtung ausschließlich auf die moralische Qualität von Handlungen beziehen: Tugendhaftes Verhalten sollte bewundert, lasterhaftes Verhalten verachtet werden. In der gesellschaftlichen Realität „unserer“ moralischen Beurteilungspraxis kommt es jedoch, so Smith, zu einer folgenreichen Verschiebung: Es sind „keineswegs Weisheit und Tugend die einzigen Gegenstände der Achtung, noch Laster und Torheit die einzigen Gegenstände der Verachtung“ (Smith 2010, 94). Vielmehr richtet sich unsere Bewunderung „auf die Reichen und Vornehmen“ (als auf die Tugendhaften und Weisen) und unsere Verachtung auf die „Armut und Schwäche des Unschuldigen“ (statt auf die Lasterhaften) (Smith 2010, 94). Das bürgerliche Subjekt bewundert ‚nach oben‘ und verachtet ‚nach unten‘. Es ist fasziniert von dem „Mann von Rang und Distinktion“ (Smith 2010, 79) und „begierig, nach ihm zu schauen“, um mittels Sympathie „jene Freude und jene Heiterkeit nachzuempfinden“ (Smith 2010, 79), welche die Reichen und Mächtigen angesichts ihres Lebensstils fühlen. Ihm erscheint ihr Leben so nah an seiner „Vorstellung eines vollkommenen und glücklichen Zustandes“, dass er den Reichen und Mächtigen bereitwillig „in all ihren Neigungen“ unterstützt und ihnen bei „all ihre[n] Wünsche[n]“ (Smith 2010, 80) zu Diensten ist.
Aus demselben Grund sind wir gegenüber den Reichen und Mächtigen besonders mitfühlend und nachsichtig. „Jedes Unglück, das sie befällt, jede Beleidigung, die ihnen zugefügt wird, erregt […] zehnmal mehr Mitleid und Vergeltungsgefühl“ in uns, so Smith, als wir „empfinden würde[n], wenn dieselben Dinge anderen Menschen widerfahren“ (Smith 2010, 80). Zugleich halten wir ihre „Laster und Torheiten“ für „weit weniger“ (Smith 2010, 94) moralisch problematisch, als wenn die gleichen Fehler von jemand anderem begangen worden wären – zum Beispiel von jemandem, der gesellschaftlich unter uns steht. Hier verkehren sich die Vorzeichen der bürgerlichen Affektivität und an die Stelle der Nachsichtigkeit tritt besondere Strenge:
„Die Verworfenheit eines Mannes von Welt wird mit weit weniger Verachtung und Abneigung betrachtet, als die eines Mannes aus niedrigerem Stande. Dem letzteren wird gemeinhin eine einzige Übertretung der Regeln der Mäßigkeit und Schicklichkeit weit mehr übel genommen, als dem ersteren die beständige und eingestandene Mißachtung dieser Regeln.“ (Smith 2010, 96)
Und an die Stelle des überbordenden Mitgefühls tritt eine Form der Gleichgültigkeit, die jederzeit in offene Aggressivität umschlagen kann, wie zwischen den Zeilen deutlich wird:
„Unbeachtet kommt und geht der arme Mann und inmitten einer Menschenmenge befindet er sich in der gleichen Verborgenheit, wie wenn er in seiner Hütte eingeschlossen wäre. Jene niedrigen Sorgen und jene kümmerlichen Interessen, welche einen Menschen in seiner Lage beschäftigen, gewähren liederlichen und fröhlich gestimmten Menschen keine Unterhaltung. Sie wenden ihre Augen von ihm ab oder, wenn das Übermaß seines Elends sie zwingt, nach ihm zu blicken, dann geschieht es nur, um einen so unangenehmen Gegenstand aus ihrer Mitte hinwegzustoßen.“ (Smith 2010, 79)
Mit anderen Worten: Der vermeintlich natürliche Hang ‚nach oben‘ zu bewundern und ‚nach unten‘ zu verachten, führt dazu, dass die bürgerliche Urteilspraxis verzerrt und verfälscht wird. Dieser systematisch verzerrte Blick auf die Gesellschaft ist jedoch der Preis, der für die Einrichtung und Bewahrung der bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung zu zahlen ist. Denn: Wenngleich Smith mit seiner Analyse des bürgerlichen Affekthaushalts als einer Mischbatterie aus Bewunderung und Verachtung in erster Linie darauf abzielt, das Phänomen der „Verfälschung unserer ethischen Gefühle“ zu erklären, so machen seine Überlegungen zugleich deutlich, dass diese falsche Beurteilungspraxis integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Reproduktion ist.
Bewunderung und Verachtung als Reproduktionsmechanismus
Smith lässt keinen Zweifel daran, dass die moralische Beurteilungspraxis des bürgerlichen Subjekts politische Revolutionen sehr unwahrscheinlich macht. Die Verachtung für die ‚da unten‘ sorgt dafür, dass ihr Leid ignoriert, ihr politisch geäußerter Unmut überhört, und ihre Wut, wenn sie sich Bahn bricht, moralisch verurteilt wird, während die daraufhin ins Werk gesetzten Repressionen aufgrund des übertriebenen Mitgefühls mit den Mächtigen auf übertriebenes Verständnis in der „Mitte“ der Gesellschaft trifft. Selbst „wenn die Ordnung der Gesellschaft es zu fordern scheint, daß wir ihnen [den Mächtigen, B.R.] Widerstand leisten“, so „vermögen wir es doch kaum über uns zu bringen, dies zu tun.“ (Smith 2010, 92) Selbst die „stärksten Triebfedern, die wütendsten Affekte“ reichen nicht aus, um unseren „natürlichen Hang, ihnen Ehre zu erweisen“ (Smith 2010, 82) zu überwinden. Wir, die Bürger, bringen es einfach nicht übers Herz, jenen entgegenzutreten, die wir bewundern – egal, wie toxisch ihr Verhalten für Natur und Gesellschaft ist.
Der bürgerliche Affekthaushalt sichert nicht nur den Bestand der liberalen Gesellschaftsordnung, sondern versorgt sie auch mit der notwendigen ökonomischen Energie. Das Streben des bürgerlichen Subjekts nach der materiellen Verbesserung seiner Lebenslage verdankt sich laut Smith nämlich nicht seinem natürlichen Egoismus (wie neoklassische Ökonom*innen gerne unter Hinweis auf Smith behaupten), sondern seinem Verlangen danach, die „Bewunderung der Menschen zu verdienen […] und zu genießen“ (Smith 2010, 94) bzw. seiner Angst davor, zum Gegenstand der Verachtung seiner Mitbürger zu werden.
„Weil die Menschen geneigt sind, aufrichtiger mit unserer Freude zu sympathisieren als mit unserem Leid, pflegen wir gewöhnlich mit unserem Reichtum zu prunken und unsere Armut zu verbergen. […] Ja, es kommt hauptsächlich von dieser Rücksicht auf die Gefühle der Menschen, daß wir den Reichtum anstreben und daß wir der Armut zu entrinnen trachten.“ (Smith 2010, 77)
Wenn das Streben nach Bewunderung und die Vermeidung von Verachtung die affektiven Gründe für unser ökonomisches Verhalten ausmachen, dann drängt sich der Verdacht auf, dass das bürgerliche Subjekt eine starke Präferenz für ‚ehrbare Berufe‘ hat und eine starke Aversion gegenüber ‚liederlichen Tätigkeiten‘. Tatsächlich kommt Smith in seinem „Wohlstand der Nationen“ auf dieses Thema zu sprechen. Im Kontext seines Versuches, die Lohndifferenzen in den unterschiedlichen Sektoren des Arbeitsmarktes zu erklären, räumt er dem Faktor „Ehre“ bzw. „Ehrlosigkeit“ (Smith 2012, 171) eine entscheidende Rolle ein. Allerdings mit einer überraschenden Pointe: Laut Smith sorgen Mühseligkeit, Schmutzigkeit oder Unbeständigkeit einer Tätigkeit dafür, dass diese „überdurchschnittlich“ entlohnt wird im Vergleich zu Tätigkeiten, die leicht, sauber und beständig sind. Dass letztere „unterdurchschnittlich“ bezahlt werden, liegt wiederum daran, dass die Ehre „einen großen Teil des Entgelts“ (Smith 2012, 171) ausmacht. Auch wenn Smith an dieser Stelle nicht ausdrücklich auf seine Überlegungen in der „Theorie der ethischen Gefühle“ zurückgreift, so scheint der Zusammenhang klar: Die „ehrbaren“ Tätigkeiten können deswegen niedriger entlohnt werden, weil sie dem Arbeitnehmer garantieren, dass er für seine Tätigkeit nicht verachtet wird. Ein Mechanismus, der auch in der Gegenwartsökonomie zu beobachten ist, wenn schlecht bezahlte Tätigkeiten durch die Bemäntelung mit „Titeln“ wie Manager oder Assistent symbolisch aufgewertet werden.
Die „entgegengesetzte Wirkung“ (Smith 2012, 171) lässt sich laut Smith bei der Entlohnung von ehrlosen Tätigkeiten beobachten: „Das Gewerbe eines Metzgers ist ein blutiges und widerwärtiges Geschäft; aber an den meisten Orten ist es einträglicher als die Mehrzahl der anderen gewöhnlichen Gewerbe.“ (Smith 2012, 171) Warum? Weil mit dem Geld der Ehrverlust kompensiert werden muss, der mit dem Ausüben der Tätigkeit einhergeht. Ähnlich erklärt Smith die „maßlos hohen Entgelte“ für „Schauspieler, Opernsänger, Balletttänzer usw.“ (Smith 2012, 176). Smith scheint hier nicht sehen zu wollen oder nicht sehen zu können, dass sich die Ausübung von ehrbaren bzw. ehrlosen Berufen nicht gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt, sondern in hohem Maße mit der „Standesunterscheidung“ korreliert, deren Konstitution und Reproduktion er mit Rückgriff auf unseren Hang zur Bewunderung bzw. zur Verachtung analysiert hat. Die Markierung von Tätigkeiten als „ehrlos“ und ihre Zuordnung zu unterschiedlichen Personengruppen wie z. B. Migrant*innen ist ein, wenn nicht das zentrale Medium der bürgerlichen Gesellschaft, um den Affekt der Verachtung mobilisieren und somit ihre Stimmen überhören und ihre Anwesenheit übersehen zu können. Denn: Jemanden zu verachten, bedeutet nicht nur, ihm oder ihr die Würde abzusprechen (wie man mit Kant sagen könnte) oder ihm oder ihr Anerkennung vorzuenthalten (wie man mit Hegel und der von ihm inspirierten Anerkennungstheorie argumentieren könnte), sondern auch und vor allem ihn oder sie zu ignorieren. Der Affekt der Verachtung umfasst auch – wie man von frühneuzeitlichen Denkern wie Hobbes oder Spinoza lernen kann – kühle Gleichgültigkeit.
Jemanden zu verachten bedeutet, ihn oder sie zum Nicht-Gegenstand der eigenen Wahrnehmung zu machen. Dass solch eine Nicht-Wahrnehmung mit einem Nicht-Wissen einhergeht, das politisch höchst relevant ist, haben anti-rassistische Theoretiker*innen wie Linda Alcoff, Shannon Sullivan oder Charles Mills gezeigt und auf den Begriff der white ignorance gebracht (vgl. exemplarisch: Sullivan/Tuana 2007). Vor dem Hintergrund der smithschen Analyse ließe sich fragen, ob diese Analysen (weißen) Nicht-Wissens noch durch eine Analyse (weißer) Bewunderung ergänzt werden können und sollten. Vielleicht lässt sich das Erfolgsgeheimnis von rassistisch, sexistisch oder klassistisch agierenden Populisten wie Silvio Berlusconi oder Donald Trump erst dann richtig verstehen, wenn man sieht, dass sie ihren Wähler*innen nicht nur erlauben, ihrer Verachtung ‚nach unten‘ freien Lauf zu lassen, sondern sich ihnen zugleich als Projektionsfläche anbieten, damit sie ihr Bedürfnis ‚nach oben‘ zu bewundern befriedigen können.
Dr. Bastian Ronge wurde 2012 mit einer Arbeit über Adam Smith und Michel Foucault promoviert. Seit 2020 ist er als Mentor für das Fach Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal tätig und forscht und lehrt dort aus sozialphilosophischer Perspektive zu Fragen rund um das Thema Bildung und Diversität. In seinem aktuellen Projekt widmet er sich dem Zusammenhang von „Verachtung und Arbeitsteilung“.
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