theorieblog.de | Liberal-demokratisches Staats- und Rechtsdenken: machtlos gegen Alexander Dugin und Carl Schmitt? Ukraine-Krieg und das Ende des Souveränitätsdenkens

25. April 2023, Ekardt

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine weist vielerlei Verbindungen auf zu Vorstellungen über Staat und internationale Beziehungen des russischen Philosophen Alexander Dugin, der dem Vernehmen nach von Präsident Wladimir Putin sehr geschätzt wird. Dugin-Formulierungen finden sich teils fast wörtlich in Statements russischer Regierungsvertreter zum Ukraine-Krieg bzw. zur Weltlage im Allgemeinen. Ein Beispiel ist das angeblich den Krieg motivierende Streben nach einem freien Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok – so formulierte es der frühere Präsident und jetzige stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats Dmitri Medwedew in leichter Abwandlung des Dugin-Statements, Russland müsse ein freies Eurasien von Dublin bis Wladiwostok erkämpfen. Dugin folgt weithin Vorstellungen, wie sie Mitte des 20. Jahrhunderts Carl Schmitt vertreten hat. Dies analysiert der vorliegende Blogpost, vor allem um aufzuzeigen: Verharrt das liberal-demokratische Staatsdenken bei einem bestimmten Verständnis von Souveränität, hat es Schmitt und Dugin wenig entgegenzusetzen. Denn die beiden denken jenes klassische Souveränitätsdenken, das für universale liberal-demokratische Gerechtigkeit letztlich keinen Raum lässt, einfach konsequent zu Ende, wie man im Folgenden sehen wird.

Schmitt und Dugin: Staat, Homogenität, Feindschaft

Dugins Denken in seinen Werken „Grundlagen der Geopolitik“ von 1997, „Die vierte politische Theorie“ von 2013 und „Das große Erwachen gegen den Great Reset“ von 2021, kürzlich noch einmal in einem Interview zusammengefasst, kreist im Kern um einen vorgeblich bevorstehenden „Endkampf der Eurasier gegen die Atlantiker“. Dabei stehen erstere für traditionelle, kulturessenzialistisch – also nicht pluralistisch – gedachte Werte  (u.a. Familienwerte, Ablehnung von Homosexualität und Gender-Vielfalt, Wertschätzung von Autoritäten) und letztere für Liberalismus, Pluralismus, repräsentative gewaltenteilige Demokratie, Universalismus und Freihandel. Autoritäre Regierungen der Gegenwart lassen immer wieder Sympathien für diese Weltsicht erkennen. Sie beruht in Kernpunkten auf der Staatslehre und Völkerrechtstheorie Carl Schmitts, weil hier wie dort angestrebt wird, die „raumfremden (angelsächsischen) Mächte“ (die „Seefahrer“ im Sinne von Carl Schmitt) aus „Eurasien“ – eben Lissabon bis Wladiwostok – zu vertreiben. Dugins Rede von einem existenziellen Gegensatz von Eurasiern und Atlantikern spiegelt im Kern den Ausgangspunkt der von ihm immer wieder lobend erwähnten Schmittschen Lehre, wie jener sie im „Nomos der Welt“ von 1950, „Raum und Großraum im Völkerrecht“ von 1940 und in „Land und Meer“ von 1942 entfaltet hat, basierend auf früheren rechtstheoretischen Schriften wie „Der Begriff des Politischen“ von 1932, „Politische Theologie“ von 1922 und „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ von 1926.

Land und Meer sind für Schmitt in jenen Texten spätestens seit Englands frühneuzeitlicher Wendung zur Seemacht und zum Liberalismus „wesensmäßig“ verschieden, wobei die Entscheidung für die eine Seite notwendig ist und eine existenzielle Dezision darstellt. Das „Meer“ repräsentiere Fortschrittsdenken, ewiges Wachstum, Freihandel und aufgrund seiner Uferlosigkeit eine universalistische, menschenrechtliche Perspektive – und letztlich eine Entwicklungstendenz weg von der Staatengebundenheit der Politik. Land respektive Boden stehen dagegen für Tradition, Heimat und Katholizismus, gegen den protestantischen, in der Tat eng mit der Liberalismus-Genese verbundenen Calvinismus (und vorgeblich auch gegen das „Jüdische“).

Land – also das Analogon zu Dugins Eurasien – repräsentiert dabei zugleich das Schmittsche Staatskonzept, welches er in den 1920er Jahre rechtstheoretisch und verfassungsinterpretativ als Kritik am Liberalismus entwickelt hat. Der Staat als Entität hat dabei eine Art Vorrang gegenüber der von Schmitt vielfach intensiv kritisierten liberalen Demokratie mit Pluralismus, Parteien und Menschenrechten, da er sonst nicht souverän sein und die menschliche Schlechtigkeit nur mit harter Hand beherrscht werden könne. Wahrhaft souveräne Staaten, also Staaten, die im umfänglichen Sinne selbst über ihre Geschicke bestimmen könnten, seien auch Freunde des Krieges. Der Liberalismus – auch diese Invektive findet sich bei Dugin wie auch in der russischen Tagespolitik – geriere sich demgegenüber als friedliebend, kämpfe in Wirklichkeit aber mit ökonomischen Druckmitteln wie Sanktionen, weswegen der Liberalismus der „Seevölker“ respektive „Atlantiker“ letztlich grundlos illiberale Staatsformen abwerte.

Der Staat wiederum basiert für Schmitt – empirisch und normativ – darauf, dass es eine Bevölkerung mit homogenen, also kulturessenzialistischen Werten gibt, im Gegensatz zur liberalen Demokratie, die sich in partikularen Interessen verliere. Diese Homogenität von „Freunden“ impliziere zugleich den Kampf gegen die nicht-homogenen „Feinde“, letztlich abzielend auf die Vernichtung der letzteren. Das spiegelt zugleich aus Schmitts politisch-theologischer Sicht den Gegensatz von Gott und Satan. Auch diese religiöse und existenzialistische, letztlich vorrationale Grundierung der Staatslehre übernimmt Dugin von Schmitt, wobei bei Dugin das orthodoxe an die Stelle des Schmittschen katholischen Christentums tritt.

Feindschaft der homogenen Gruppe gegenüber anderen bedeutet für Schmitt dabei, dass letztlich Kriege unvermeidbar sind, um eine „konkrete Ordnung“ hervorzubringen, denn der Feind ist ein „in einem besonders intensiven Sinne etwas existenziell anderes und Fremdes“ (Schmitt 1932). Auf diese Weise könne dann international ein Pluriversum von Großräumen entstehen. Regeln folgt dieses rechtliche Pluriversum nicht, außer dass eben gerade keine Regeln gelten und keine universalistischen Vorwürfe mit pazifistischer bzw. menschenrechtlicher Stoßrichtung gemacht werden.

Universalismus durch Souveränitätsdenken?

Für die heute dominierende Vorstellung, Staaten und internationale Beziehungen müssten festen Regeln folgen, haben Schmitt und Dugin nur Spott übrig. In der Tat muss man beiden zugestehen, dass sie mit ihrer Konsequenz den Verfassungs- und Völkerrechts-Mainstream herausfordern. Wenn man die internationalen Beziehungen und das Völkerrecht weitestgehend in der Souveränität der Staaten fundiert, wie es auch der heutige Mainstream im Rechtsdenken tut, passt dies letztlich zu Schmitts normativer Theorie des Staates, welcher sowohl Vorrang vor der Demokratie als auch vor jedweder inhaltlichen Gerechtigkeitsidee genießt. Damit wird das Verhältnis zwischen den Staaten quasi zur freien Wildbahn erklärt. Schmitt/ Dugin denken damit den staatstheoretischen und völkerrechtlichen Realismus konsequent zu Ende. Dieser sieht die internationalen Beziehungen allein durch zwischenstaatliche Völkerrechtsverträge und Völkergewohnheitsrecht – also eine bestimmte Staatenpraxis, getragen von einer entsprechenden Rechtsmeinung – geregelt. Beides passt gut zu einem Fokus auf die staatliche Souveränität. Völkerrechtsverträge kann man auch kündigen oder nicht abschließen – die universalen Normen stünden damit im Belieben der Staaten, wenn sie beispielsweise doch einen Angriffskrieg führen möchten.

Auch beim Völkergewohnheitsrecht können die Staaten durch ihr Handeln und ihre verbalen Erklärungen frei entscheiden, welche Gehalte letztlich verbindlich werden. Besonders universale Menschenrechte passen denkbar schlecht zum Konzept des Gewohnheitsrechts. Werden jene Rechte doch trotz aller wohlklingenden Reden in der Mehrzahl der Staaten fortwährend konterkariert – selbst elementare Gehalte wie das Folterverbot in Friedens- und Kriegszeiten, die in der Mainstream-Völkerrechtsliteratur heute dennoch als typisches Völkergewohnheitsrecht präsentiert werden. Man kann einen autoritären, expansionistischen Staat wie Russland daher kaum über gewohnheitsrechtliche Argumente auf universale Gerechtigkeitsstandards verpflichten.

Verstünde man das transnationale öffentliche Recht demgegenüber stärker konstitutionalistisch, ergäbe sich eine echte Alternative zum Realismus, den Schmitt und Dugin letztlich nur konsequent zu Ende denken. Die relevante Rechtsquelle dafür könnten die allgemeinen Rechtsgrundsätze sein, die offiziell als dritte Quelle des Völkerrechts und somit zusätzlicher Rahmen der internationalen Beziehungen anerkannt sind. Denn es gibt Argumente dafür, sich hierunter mehr als – wie es meist behauptet wird – weitgehend gehaltlose Normen wie den Grundsatz von Treu und Glauben vorzustellen:

Alternative: globaler vernunftrechtlicher Konstitutionalismus?

Schon begrifflich weckt die Rede von allgemeinen Rechtsgrundsätzen die Vorstellung eines universalen Rechts, das bestimmte grundsätzliche Dinge vorschreibt, unabhängig davon, ob die jeweilige politische Staatsordnung sie zu respektieren bereit ist oder nicht. Im Gegensatz dazu verstehen Völkerrechtler unter allgemeinen Rechtsgrundsätzen oft allein einige weitgehend aussagelose Prinzipien, die von den Staaten – oder einer repräsentativen Auswahl von Staaten – rein faktisch anerkannt werden. Doch wären Rechtsgrundsätze dann fast gleichbedeutend mit Gewohnheitsrecht und damit inhaltslos. Dazu kommt die Frage, wie der ganze Gedanke, Staaten, die vielleicht anders handeln als die „repräsentative Auswahl“, gegen ihren fehlenden völkervertrags- und völkergewohnheitsrechtlichen Willen zu binden, mit dem traditionellen Souveränitätsbegriff zusammenpasst.

Außerdem ist das Problem unlösbar, wie man diese Auswahl der Staaten trifft, deren Auffassung etwa über Menschenrechte repräsentativ sein und dementsprechend die Anerkennung bestimmter Prinzipien belegen soll (dürfte man etwa die Menschenrechtspraxis von Russland, Belarus, Ungarn und Aserbaidschan als „repräsentativ“ für Europa werten?). Durch diese völlige Vagheit erhält ein Gericht, das auf der Basis allgemeiner Rechtsgrundsätze ein Urteil sprechen will, zudem sehr große Macht, was schlecht zum Souveränitätsdenken passen würde.

Wenn die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Rechtsquelle eine Bedeutung haben sollen, drängt dies ergo dazu, Rechtsgrundsätze nicht davon abhängig zu machen, ob sie der selbstgewählten, willkürlichen Ausrichtung eines Staates entsprechen. In einer freiheitlich-demokratischen Rechtstheorie wären Kandidaten für solche universalen Rechtsgrundsätze im Kern Menschenwürde, Unparteilichkeit, menschenrechtlicher Schutz von Freiheit und elementaren Freiheitsvoraussetzungen und die Grundlagen der gewaltenteiligen Demokratie. Weitere Anhaltspunkte in dieser Richtung ergeben sich, wenn man die Benennung der Rechtsgrundsätze als „von den Kulturvölkern anerkannt“ in Artikel 38 des IGH-Statuts (der die völkerrechtlichen Rechtsquellen aufzählt) ernst nimmt. Löst man ihn von seinen kolonialistischen Untertönen, die dem Artikel 38 bei seiner Schaffung vor 100 Jahren innewohnten, könnte er verdeutlichen: Es kommt nicht auf die faktische Anerkennung durch jeden Staat an, sondern auf das, was Menschen, die in gerechten Ordnungen leben, aus normativer Sicht anerkennen müssen.

Für all dies müsste ein universalistisches Nachdenken über die internationalen Beziehungen sich allerdings philosophisch auf die Höhe der heutigen Zeit begeben: weg von alten naturrechtlichen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts hin zu modernen vernunftrechtlichen Vorstellungen. Diese versuchen beispielsweise mit modernen sprachpragmatischen Methoden im Kontrast etwa zu Schmitt zu zeigen, dass die liberalen Grundprinzipien Würde, Unparteilichkeit und Freiheit und damit eine autonomiezentrierte statt einer staatszentrierten Rechtskonzeption logisch zwingend vorausgesetzt wird, sobald man überhaupt über die Frage nach der gerechten Ordnung zu streiten beginnt. Dies dürfte zwar großen Spielraum im Abwägen der verschiedenen Freiheitssphären für die einzelnen Rechtsordnungen belassen und vielleicht auch gerade nicht zu dem sehr stark durch ökonomische Belange, Konsum und Selbstentfaltung geprägten Freiheitsverständnis zwingen, wie es heute häufig dominiert (und bereits von Schmitt und eben heute von Dugin als dekadent kritisiert wurde und wird).

Mit einer so skizzierten vernunftrechtlichen, global-konstitutionalistischen Grundlage wäre dann deutlich, dass der russische, von Dugin (und letztlich Schmitt) vorausgedachte Expansionismus nicht einfach eine gleichberechtigte Politikoption unter vielen ist. Es ist kein – wie es die russische Politik neuerdings gern nennt – westlicher Imperialismus, wenn den Staaten kein beliebiges Agieren in der internationalen Arena (und im Inland, etwa gegen Oppositionelle) gestattet wird. Stellt man sich dagegen weiterhin gegen allzu starke Kritik am Souveränitätsdenken, wird es herausfordernd bleiben, die oben dargestellten völkerrechtszerstörenden politischen Programme zurückzuweisen, die Dugin mit Schmitt aus jenem Denken ableitet.

 

Prof. Dr. Dr. Felix Ekardt, LL.M., M.A. (Jurist, Philosoph und Soziologe) ist Gründer und Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik (Leipzig/Berlin) und lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Rostock.


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