theorieblog.de | Was verwaiste Wahlkreise für die Demokratie bedeuten

30. Januar 2023, Kautz

Seit mehr als zehn Jahren werden die im Bundestag vertretenen Parteien von der ausstehenden Wahlrechtsreform heimgesucht. Die gegenwärtige Konstellation scheint für die Ampel-Koalition Erfolg versprechend: Der öffentliche Druck für eine wirksame Verkleinerung des Bundestags ist hoch, zwischen den Parteien der Koalition besteht Einigungspotential und eine Reform hätte, wenn sie verfassungsgemäß ist und sich in der Praxis beweist, auch im Falle anderer Regierungskoalitionen Aussicht auf Bestand. Denn wenigstens eine der gegenwärtig regierenden Parteien wird wahrscheinlich auch an künftigen Regierungen beteiligt sein.

Inzwischen hat die Ampel-Koalition einen Gesetzentwurf für eine Reform des Wahlrechts zum Bundestag vorgelegt. In der Debatte wird einer Implikation des Entwurfs besondere Aufmerksamkeit zuteil: Es wäre dann möglich, dass einzelne Wahlkreise durch keine:n in diesen Wahlkreisen gewählte:n Abgeordnete:n im Bundestag vertreten werden. Die demokratietheoretischen Implikationen solcher „verwaisten“ Wahlkreise müssen diskutiert werden. Hierbei sollten zwei Aspekte noch stärker als bisher Berücksichtigung finden: veränderte Anreize durch ein verändertes Wahlrecht und die Bedeutung periodisch wiederkehrender Wahlen für die Demokratie.

Worum geht es?

Dass es überhaupt zu Wahlkreisen ohne dort gewählte Abgeordnete kommen könnte, liegt daran, dass keine Überhangmandate mehr entstehen sollen. Zu Überhangmandaten kommt es nach dem geltenden Wahlrecht, wenn das Zweitstimmenergebnis einer Partei in einem Bundesland eine geringere Mandatszuteilung zur Folge hätte als dieser Partei laut Erststimmen zusteht. Die so entstehenden Disproportionalitäten ziehen wiederum Ausgleichsmandate für andere Parteien nach sich – und lassen den Bundestag wachsen.

Der Vorschlag der Ampel-Koalition sieht nun vor, dass die einer Partei zustehende Zahl an Sitzen allein durch das Zweitstimmenergebnis, nun Hauptstimmenergebnis genannt, bestimmt wird. Nach der Verteilung dieser Sitze auf die Landeslisten könnte die einer Partei in einem Bundesland zustehende Mandatszahl unter der in Wahlkreisen in diesem Land von Parteikandidierenden errungenen Zahl an Erstplatzierungen liegen. In diesem Fall zögen nur so viele erstplatzierte Parteikandidierende aus den Wahlkreisen ein, wie auf diese Partei Sitze nach dem Hauptstimmenergebnis entfallen. Die weiteren erstplatzierten Parteikandidierenden in den Wahlkreisen mit den in diesem Bundesland relativ schlechteren Ergebnissen wären hingegen nicht gewählt. Der Gesetzentwurf nennt dies die „Hauptstimmendeckung“ von gewonnenen Sitzen.

Veränderte Anreize für Kandidierende und Wählende

Wie oft dieser Fall zu erwarten ist, ist letztlich unklar, weil sich vergangene Wahlergebnisse nicht einfach auf ein neues Wahlrecht extrapolieren lassen. Denn ein geändertes Wahlrecht hätte auch andere Anreize –  sowohl für Wählende als auch für Kandidierende – zur Folge.

Wenn die Partei-Präferenz und die / der bevorzugte Wahlkreiskandidierende auseinanderfallen, stünden Wählende vor der Entscheidung, ob sie ihre Einschätzung der / des Wahlkreiskandidierenden so stark gewichten, dass sie womöglich die Hauptstimme nach der Wahlkreisstimme ausrichten, weil der / die ausgewählte Wahlkreiskandidierende nur ins Parlament einziehen kann, wenn seine / ihre Partei auch ausreichend Hauptstimmen bekommt. Andersherum könnte für die Wählenden letztlich die Partei-Präferenz überwiegen, sodass sich die Wahlkreisstimme auch dann nach der Hauptstimme richtet, wenn Wahlkreiskandidierende anderer Parteien allein wegen ihrer Person bevorzugt würden. Die Alternative bleibt, dass Wählende bewusst (oder aus bisheriger Gewohnheit) ihre beiden Stimmen auf unterschiedliche Parteien und ihre Kandidierenden verteilen, wie fast ein Viertel der Wählenden bei der Bundestagswahl 2021. Mit dem Vorschlag verändern sich jedoch die Anreize so stark, dass vom Stimmensplitting in der Vergangenheit nicht einfach auf das Stimmensplitting in der Zukunft geschlossen werden kann.

Für Kandidierende würden sich die Anreize so verändern: Die Landeslisten wären noch stärker umkämpft als bisher, weil zusätzliche Chancen, durch Ausgleichsmandate in den Bundestag einzuziehen, wegfielen. Zudem könnte für einige Kandidierende das Risiko steigen, ihre Wahlkreiskandidatur bei einem Misserfolg nicht mit einem aussichtsreichen Listenplatz absichern zu können. Parteiintern würden auch deshalb komfortabel gewinnbare Wahlkreise noch attraktiver, weil Erstplatzierte in Wahlkreisen mit den relativ schlechtesten Ergebnissen gegenüber Erstplatzierten in anderen Wahlkreisen aus der eigenen Partei das Nachsehen haben könnten.

Wahlkreisbewerber:innen von Parteien, die mit diesem Szenario rechnen, könnten dies zum Anlass nehmen, als formell parteiunabhängige Kandidierende anzutreten (Michl/Mittrop 2023). Laut dem Gesetzentwurf soll das Prinzip der „Hauptstimmendeckung“ von Mandaten, die in Wahlkreisen errungen werden, auf unabhängige Kandidaturen keine Anwendung finden. Unabhängige Kandidierende, die die relative Mehrheit in ihrem Wahlkreis gewinnen, wären also weiterhin gewählt. So könnten erfolgreiche, formell unabhängige Kandidierende letztlich doch die Fraktionsstärke ihrer eigentlichen Partei im Bundestag erhöhen.

Allerdings begrenzt der Gesetzentwurf die Anreize für dieses Wahl- und Parteienverhalten auch: Der Anreiz für Wählende wird dadurch begrenzt, dass ihre Hauptstimme im Falle des Erfolgs einer unabhängigen Kandidatur im Wahlkreis nicht gezählt würde. Neben der Fünf-Prozent- und der Grundmandatsklausel schränkt diese Regelung die Erfolgswertgleichheit der Hauptstimmen ein. Im Falle des Misserfolgs der unabhängigen Kandidatur würde die Hauptstimme dieser Wählenden in der Auszählung aber berücksichtigt werden.

Für die Parteien wird der Anreiz strategisch unabhängiger Kandidaturen dadurch begrenzt, dass sie nicht von den Hauptstimmen der Wählenden profitieren würden, die eine erfolgreiche unabhängige Kandidatur unterstützen. Für die Möglichkeit verwaister Wahlkreise bedeuten diese Anreizstrukturen, dass nur im Rahmen des kalkulierten Vorteils für die Parteien damit gerechnet werden kann, dass diese formell unabhängige Kandidierende aufstellen, um Wahlkreise ohne dort gewählte Abgeordnete zu vermeiden.

Surrogate, anticipatory und promissory representation

Inwiefern würde nun ein repräsentationstheoretisches Problem vorliegen, wenn ein Wahlkreis durch keine:n in diesem Wahlkreis gewählte:n Abgeordnete:n im Bundestag vertreten, der Wahlkreis also verwaist ist? Im politischen Alltag ist zunächst festzustellen, dass sich bereits unter dem bestehenden Wahlrecht auch Abgeordnete, die über die Parteiliste in den Bundestag gelangt sind, als Abgeordnete eines bestimmten Wahlkreises inszenieren, Wahlkreisbüros unterhalten und Termine vor Ort wahrnehmen. Es ist wahrscheinlich, dass bei verwaisten Wahlkreisen über die Parteiliste oder in einem anderen Wahlkreis gewählte Abgeordnete sich als surrogate representatives (Mansbridge 2003, S. 522) anbieten, die den Anspruch erheben, diesen Wahlkreis sozusagen ersatzweise im Bundestag zu vertreten (Saward 2006).

Diese bestehende und zu erwartende Praxis hängt auch mit einem Aspekt von Wahlen in der Demokratie zusammen, der allgegenwärtig ist, aber in der gegenwärtigen Debatte leicht übersehen wird: dem Charakter von periodisch wiederkehrenden Wahlen. Auch der Sieg im Wahlkreis wird nur temporär davongetragen und steht bei der nächsten Wahl wieder zur Disposition. Sind die Stimmen erst ausgezählt, versuchen die Repräsentierenden bereits, ihr Handeln an den abgeschätzten Präferenzen der Wählenden für die nächste Wahl auszurichten und diese Präferenzen in für sie vorteilhafte Bahnen zu lenken (Manin 1997, S. 178 ff.; Mansbridge 2003, S. 516 ff.). Durch die Parteiendominanz dürfte dies vor allem bedeuten, die Wählenden auf die Vorschläge und Forderungen der eigenen Partei einzustimmen.

Dieser antizipative Mechanismus dürfte auch funktionieren, wenn es vorübergehend gar keine:n siegreiche:n Abgeordnete:n gibt. In gewisser Hinsicht ließe sich sogar erwarten, dass der alltägliche Wahlkampf ebenso wie der außerordentliche Wahlkampf unmittelbar vor der Wahl um verwaiste Wahlkreis intensiviert wird, weil es in der politischen Kultur der Bundesrepublik eben doch (noch) eine Anomalie wäre, wenn ein Wahlkreis keine:n direkt gewählte:n Abgeordnete:n hätte. Ohnehin überlässt man einen Wahlkreis ungern kampflos den anderen Parteien.

Problematisch bleibt dennoch, dass der rückwirkende Mechanismus aus Wahlversprechen und Sanktionierung dieser Versprechen bei der nächsten Wahl für die nicht gewählten Kandidierenden außer Kraft gesetzt wird. Sie hatten ja keine Chance, ihre Versprechen in der Bundespolitik umzusetzen. Aber wie gut dieser Mechanismus bezogen auf einzelne Kandidierende in einem politischen System mit eindeutiger Dominanz der Parteien tatsächlich funktioniert, ist zumindest fraglich (vgl. aber Klingemann/Wessels 2001, S. 293 ff.; kritisch Behnke 2007, S. 209 f., 221; als Überblick und zur Einordnung Zittel 2018, S. 794 ff.).

Wiederholt und strukturell verwaiste Wahlkreise

Die Implikationen der Periodizität von Wahlen für den Reformvorschlag müssen zusätzlich noch über einzelne Wahlkreise zwischen zwei Wahlen hinaus diskutiert werden. Dann wird deutlich, dass verwaiste Wahlkreise zum Problem werden, wenn sie nicht nur vorübergehend durch keine:n Abgeordnete:n im Bundestag vertreten sind, sondern bei mehreren aufeinanderfolgenden Wahlen kein:e Kandidierende:r gewählt wird. Über die Zeit könnten solche Wahlkreise tatsächlich vernachlässigt werden, weil die Parteien ihre Versuche, diese Wahlkreise zu gewinnen, zurückfahren könnten und wiederholt verwaiste Wahlkreise immer weniger Aufmerksamkeit erfahren würden.

Darüber hinaus lässt sich das Argument, dass Wahlkreise ohne direkt in diesen Wahlkreisen gewählte Abgeordnete dann zum Problem werden, wenn sie für die Parteien und ihre Kandidierenden aufgrund von Aussichtslosigkeit unattraktiv werden, auch noch in räumlicher Hinsicht entfalten. Sollten sich regionale Ballungen oder räumliche Muster von verwaisten Wahlkreisen über mehrere Wahlen einstellen, wäre das für den Vorschlag der Ampel-Koalition ebenfalls problematisch. Falls etwa städtische Wahlkreise im Vergleich zu ländlichen deutlich stärker umkämpft sein sollten, reichen zwar weniger Stimmen für den bedingten Erfolg im Wahlkreis aus, doch geraten diese Erstplatzierten dann gegenüber der Konkurrenz aus der eigenen Partei ins Hintertreffen, sobald die Partei zu wenig Hauptstimmen für all ihre siegreichen Kandidierenden erreicht. In der Folge wäre dann im Bundestag etwa der ländliche Raum stärker repräsentiert als die Städte.

Verwaiste Wahlkreise im Spiegel von Mehrheits- und Verhältniswahl

Wahlrechtsregeln entfalten ihre Wirkung im Kontext. Die Probleme des bestehenden Wahlrechts haben sich erst mit dem Anwachsen der Differenz zwischen Erst- und Zweitstimmenergebnis ergeben. Die Plausibilität von Wahlrechtsregeln hängt damit ein Stück weit von ihren tatsächlichen Konsequenzen ab. Für den Reformvorschlag der Ampel-Koalition bedeutet dies in Bezug auf verwaiste Wahlkreise, dass diese nur vorübergehend und zufällig auftreten dürften. In diesem Fall würden verwaiste Wahlkreise nur darauf hinweisen, dass sich die Wählenden in einem Wahlkreis im Vergleich zu anderen Wahlkreisen im selben Bundesland am wenigsten darüber einig waren, wer diesen Wahlkreis in der nächsten Legislaturperiode vertreten sollte und dass diese relative Uneinigkeit auch im Hauptstimmenergebnis der Partei über den Wahlkreis hinaus eine Entsprechung findet.

Im Sinne der Mehrheitswahl mag es einerseits zwar unüblich sein, Wahlkreisergebnisse in Relation zueinander zu setzen (vgl. aber best-loser-Regeln in anderen mixed-member systems; Shugart/Wattenberg 2001, S. 12 f.). Andererseits passt es zur Mehrheitswahl, dass Kandidierende, die kein Mandat erhalten, und Kandidierende, die zu Abgeordneten werden, eine Schwelle von Wahlergebnissen trennen könnte, die nur marginal auseinanderliegen. Dass die Schwelle, welche Wahlkreise dieses Ergebnis ereilen könnte, relativ zu anderen Wahlkreisen mit Erstplatzierten der selben Partei und bei jeder Wahl neu bestimmt wird, ist zumindest konsequent im Hinblick auf den Charakter der Verhältniswahl, den der Gesetzentwurf betont.

An Claude Lefort (1999, S. 49 f.) anschließend bliebe nach dem Vorschlag der Ampel-Koalition der Ort Macht in der Demokratie nicht nur symbolisch leer. Er könnte auch (vorübergehend) in formeller Hinsicht leer, aber faktisch doch umkämpft bleiben. Sollte der Gesetzentwurf der Ampel-Koalition geltendes Wahlrecht werden, gibt es dafür jedoch keine institutionelle Vorkehrung.

 

Manuel Kautz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Professur für Politische Theorie der Universität Erfurt. In seinem Dissertationsprojekt forscht er zu historischen und zeitgenössischen Theorien politischer Repräsentation und zu den Herausforderungen ihrer Systematisierung.


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