theorieblog.de | Die begriffliche Beliebigkeit digitaler Souveränität

22. November 2022, Lambach

In die zweite Woche unserer Blogpost-Reihe zu „Souveränität“ starten wir mit einem Text von Daniel Lambach, der das ‚Label digitale Souveränität‘ kritisch hinterfragt.

In digitalpolitischen Debatten in Deutschland, Europa und der Welt ist der Begriff der „digitalen Souveränität“ seit etwa 2014 populär geworden. Gemeint ist damit in deutschsprachigen Diskursen – im groben – Handlungsfähigkeit, Resilienz, Selbstbestimmtheit und/oder Autonomie des Staates, der Gesellschaft, von Unternehmen oder von Bürger:innen in digitalen Kontexten. Das kann im konkreten dann alles mögliche bedeuten: Deutschland brauche digitale Souveränität, um seine Bürger:innen vor datenhungrigen US-Plattformunternehmen zu schützen, Unternehmen bräuchten digitale Souveränität, um ihre Geschäftsmodelle im digitalen Kapitalismus weiterzuentwickeln und an der Speerspitze der technologischen Entwicklung zu bleiben oder aber Europa schütze seine digitale Souveränität durch die Ansiedlung von Chipfabriken. Man müsse die digitale Souveränität von Nutzer:innen durch Medienbildung verbessern und Open Source-Software sei quasi inhärent souverän, aller Widersprüche zwischen dem hierarchischen Kern der Souveränität und der dezentralen Natur von Open Source-Projekten zum Trotz. Kurz gesagt: weder ist klar, was genau Souveränität bedeutet, noch um wessen Souveränität es geht. „Digitale Souveränität“ ist ein Label, keine Aussage.

Die deutsche Debatte ist also von einem hohen Maß an begrifflicher Beliebigkeit charakterisiert, wie ich in einem Aufsatz mit Kai Oppermann herausgearbeitet habe. Wir konnten aus dem Vergleich von 63 Policy-Dokumenten sieben Narrative digitaler Souveränität identifizieren, die unterschiedlich stark im digitalpolitischen Diskurs vertreten sind, vom wirtschaftlichen Prosperitätsnarrativ bis hin zur Verwaltungsdigitalisierung als Akt der digitalen Souveränität. Unser Fazit: It’s not a bug, it’s a feature! Die begriffliche Leere digitaler Souveränität macht es zur idealen Projektionsfläche, an die sich Policy-Unternehmer:innen unterschiedlicher Communities problemlos anschließen können. Ebenfalls auffällig: so gut wie niemand (von einigen wenigen Kritiker:innen aus der Zivilgesellschaft abgesehen) war gegen digitale Souveränität. Wie könnte man auch? „Souveränität“ hat im Übergang zur Post-Globalisierung über das letzte Jahrzehnt eine breite Renaissance erlebt. Digitale Souveränität „funktioniert“, aber nicht in substanzieller Weise sondern vor allem als diskursives Symbol zur Organisation politischer Koalitionen. Als Leitlinie für die Policy-Formulierung bleibt es zu schwammig und Strategien zur Verfolgung digitaler Souveränität bleiben zumeist unkonkret.

Akademische Texte, vor allem aus der politischen Theorie und den Rechtswissenschaften, sind sich dieses Problems bewusst und haben viel zur Dekonstruktion der politischen Rhetorik beigetragen. Aber aus meiner Sicht nimmt auch die Forschungsliteratur die Behauptung, dass es denjenigen, die von digitaler Souveränität sprechen, auch wirklich um Souveränität geht, noch viel zu sehr für bare Münze. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass in vielen einschlägigen Texten Verweise auf Jean Bodin nicht fehlen dürfen. Dieses Verständnis von Souveränität im Sinne von legaler Autorität ist natürlich ein sehr klassisches und für manche Problemlagen des Digitalen durchaus relevant. Wenn es beispielsweise um die Verfolgung von Rechtsverletzungen (Bedrohungen, hate speech, verfassungsfeindliche Äußerungen, Pornografie) auf Internetplattformen geht, ist die Frage, welcher Staat darüber Jurisdiktion hat, von zentraler Bedeutung. Gleiches gilt für die Besteuerung von E-Commerce oder den Schutz kritischer Infrastrukturen vor Cyberangriffen. In solchen Fällen von Souveränität in digitalen Netzen zu sprechen, ist zumindest nicht abwegig, auch wenn dabei wegen der territorialen Form des Digitalen gewisse konzeptionelle Schwierigkeiten entstehen.

Doch leider hört die Verwendung des Begriffs damit nicht auf, denn die Klärung legaler Autorität ist nicht die einzige Motivation von digitaler Souveränität. Mindestens ebenso wichtig sind drei andere Zwecke und Ziele. Erstens wird digitale Souveränität als Mittel zur Stärkung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit gesehen. Man sieht die europäische Wirtschaft in einer bedrohlichen Abhängigkeit von technologisch führenden Oligopolen aus den USA und China. Durch Innovationsförderung und Industriepolitik sollen wirtschaftliche Impulse zur Stärkung der europäischen Digitalwirtschaft, aber auch zur digitalen Transformation anderer Wirtschaftszweige („Industrie 4.0“) gesetzt werden. Zweitens gilt digitale Souveränität als unabdingbar nicht nur für die europäische Wirtschaft, sondern auch für ein wie auch immer geartetes europäisches Gesellschaftsmodell, welches durch den ungezügelten Silicon Valley-Kapitalismus, durch Desinformationskampagnen und Populismus gefährdet werde. Digitale Souveränität bezeichnet hier den Versuch, Bürger:innen und Staaten gegen solche Einflüsse resilienter zu machen. Und drittens gibt es auch eine geopolitische Stoßrichtung in der Debatte. Mit Sorge beobachten die EU und Deutschland die Konzentration digitaler Macht in US-Konzernen und chinesischen Unternehmen, die mehr oder weniger direkt mit den jeweiligen Regierungen gleichgesetzt werden. Gerade vor dem Erfahrungshintergrund der volatilen transatlantischen Beziehungen während der Trump-Präsidentschaft fürchtet man in Europa, zwischen diesen beiden rivalisierenden Großmächten zerrieben zu werden. Digitale Souveränität bedeutet hier die Artikulation eines eigenen, dritten Weges. Diese vier Anliegen – rechtliche Autorität, Wirtschaft, Gesellschaft und Geopolitik – werden von Befürworter:innen digitaler Souveränität synergetisch miteinander verwoben, so dass digitale Souveränität in letzter Konsequenz wie ein Allheilmittel wirkt.

Ist es jedoch angesichts dieses konzeptionellen Durcheinanders überhaupt ratsam von Souveränität zu sprechen? Thorsten Thiel hat hierzu berechtigte Bedenken angemeldet:

„Der Versuch, Souveränität zum gemeinsamen Nenner staatspolitischer, wirtschaftspolitischer und zivilgesellschaftlicher Anliegen zu machen und stets vom großen Ganzen – der Gefahr für die Demokratie und ‚unsere‘ Werte – her zu denken, befördert letztlich vor allem die Errichtung von Kontrollstrukturen und konterkariert den Demokratiegedanken“ (S. 71).

Tatsächlich wecken Souveränitätsdiskurse – ganz gleich, wie sehr man den Begriff auch umdefiniert – stets Geister zentralisierter, hierarchischer Steuerung. Auch in konzeptioneller Hinsicht würde ich Begriffe wie „digitale Autonomie“ oder „Kapazität“ dem der Souveränität vorziehen. So würde der Autonomiebegriff die Vermeidung bzw. das bewusste Management von Abhängigkeitsverhältnissen stärker in den Fokus rücken. Mit „Kapazität“ würde der Schwerpunkt auf Handlungsfähigkeit gelegt. Beides wäre spezifischer als der umfassendere und durch seinen Begriffskern als rechtliche Autorität gleichzeitig etwas irreführende Souveränitätsbegriff. Dies könnte helfen das komplexe Geflecht „digitaler Souveränität“ zu entwirren und vom Staatsbezug des Souveränitätsbegriffs zu befreien.

Ich mache mir aber wenig Hoffnung, dass sich der Souveränitätsdiskurs noch zu einer rationaleren Auseinandersetzung über Abhängigkeiten und Kapazitäten im digitalen Wandel transformieren lässt. „Digitale Souveränität“ ist ein politischer Diskurs, kein akademischer, der für viele Akteure sehr funktional ist – als Projektionsfläche und als diskursives Symbol, um das sich politische Koalitionen konstruieren lassen. Für Versuche der Umdefinition von wissenschaftlicher Seite ist es zu spät. Gleichwohl ist es möglich und sinnvoll, den Begriff und seine Verwendung zu kritisieren. In öffentlichen und sozialmedialen Diskussionen gibt es insbesondere von zivilgesellschaftlicher Seite ein Interesse an wissenschaftlichem Input. Während offizielle und wirtschaftliche Akteure zu sehr vom Erfolg des „Projekts digitale Souveränität“ abhängig sind, besteht in dieser Hinsicht ein kritisches Potenzial, für das wissenschaftliche Expertise eine konstruktive Rolle spielen kann.

 

Daniel Lambach hat eine DFG-geförderte Heisenberg-Stelle am Forschungsbereich Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt inne. Außerdem ist er Privatdozent für Politikwissenschaft an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. In seiner Forschung befasst er sich mit Digitalpolitik, Territorialität und der internationalen Governance von Technologie.


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