theorieblog.de | Bataille reloaded: Für einen radikal aufgeklärten Souveränitätsbegriff
16. November 2022, Lieb
Weiter geht es in unserer Blogpost-Reihe zu Souveränität mit Daniel Liebs Plädoyer für einen Souveränitätsbegriff, der radikal aufgeklärt ist.
„Meine Angst ist endlich absolut und souverän. Meine tote Souveränität liegt auf der Straße“. Diese Zeilen stellt der Schriftsteller Georges Bataille (1897 – 1962) seinem Frühwerk Madame Edwarda voran. Mit dieser zunächst verwirrenden Formulierung wird das tradierte Verständnis von Souveränität, das von Bodin über Hobbes bis hin zu Batailles Zeitgenossen Carl Schmitt reicht, einer Irritation unterzogen: Bataille leitet seinen Souveränitätsbegriff augenscheinlich nicht vom Staat respektive vom Volk, sondern vom individuellen Seelenleben (Meine Angst) ab. Wie ein Blick in Batailles theoretisches Werk zeigt, ist damit eine Kultur- und Kapitalismuskritik verbunden, die an der Dichotomie von Natur versus Kultur ansetzt: er postuliert, dass infolge der Unterwerfung der Natur im Zuge der europäischen Aufklärung eine sukzessive Verdrängung vieler Aspekte einherging, die jenseits der Ratio liegen. Dieser Prozess – so die These dieses Blogposts – hat sich im Zuge des Neoliberalismus seit den 1970er Jahren noch einmal radikalisiert. Neben dem (vermeintlich) Nicht-Menschlichen betrifft diese Verdrängung auch die Felder der Emotionalität sowie kollektiver Existenzen. Ziel dieses Blogposts ist es, Batailles Kritik an der rationalen Epistemologie der Nützlichkeit und Verwertbarkeit aus ihrem diskursiven Schattendasein hervorzuholen und mit aktuellen Debatten um eine Neue radikale Aufklärung zu verknüpfen. Souveränität erscheint so einerseits als Moment einer innersubjektiven Versöhnung von Rationalität und Emotionalität, indem anstelle eines singularisierten Zwangs zur (Selbst-)Ausbeutung der Arbeitskraft eine neue kollektive Autonomie eröffnet wird. Andererseits als äußere Versöhnung des Menschen mit der Welt, indem an die Stelle einer Ausbeutung natürlicher Ressourcen eine solidarische Haltung rückt, die eine nachhaltige Koexistenz von Mensch und Natur antizipiert.
Kapitalismus versus Souveränität: Versuch einer Zeitdiagnose
Die Idee des aufgeklärten Individuums ist gemeinhin mit dem Nimbus höchster menschlicher Souveränität assoziiert – doch dieser Eindruck täuscht: in der mit der Aufklärung einhergehenden Entfaltung des kapitalistischen Weltsystems ist die Dialektik von individueller Freiheit und einer Unterwerfung unter systemimmanente Sachzwänge wie Verwertbarkeit und Profitorientierung bereits angelegt. Verstärkt wird dieser zweckrationale Zugriff auf das Individuum durch ein Phänomen, das Gesellschaftsanalysen der letzten 50 Jahre durchzieht: Das „Cockpit“ des Flugzeuges namens Kapitalismus, so hat es Zygmunt Bauman in Flüchtige Moderne einst formuliert, ist im Zuge der neoliberalen Wende seit den 1970er Jahren verlassen, während sich „die geheimnisvolle Black Box namens Autopilot beharrlich weigert, Informationen über die Flugroute, das Flugziel oder darüber, wer entscheidet, auf welchem Flughafen man landen wird, preiszugeben“ (S. 74). Dadurch ist unser aller Leben verstärkt vom Fetisch des Rationalen und der Ideologie von (Selbst-)Optimierung und Verwertbarkeit durchzogen. Sofern dieser Fetisch die Entscheidung für das Zweckrationale präferiert, kommt er einem Gesetz gleich. Ein solches ungeschriebenes Gesetz, so fasst es der französische Philosoph Michel Foucault in seiner Subversion des Wissens, ist omnipräsent, es „durchgeistert souverän die Gesellschaften, die Institutionen, die Verhaltensweisen und die Gesten“ (S. 56). Das in einer solchen Gesellschaft subjektivierte Individuum kann sich kaum dem an ihn gestellten Anspruch nach Selbstausbeutung und -vermarktung entziehen, will es sich nicht in seiner Gänze von ihr abwenden. Souverän ist damit der beschriebene Fetisch, nicht jedoch der an ihn gebundene Mensch. Unter der Prämisse, dass die Erlangung menschlicher Souveränität ein erstrebenswertes Ziel darstellt, ergibt sich aus dieser Diagnose folgende Frage: Wie lässt sich der souveräne Universalismus der kapitalistischen Verwertungslogik eingrenzen, um Entscheidungen abseits seiner Determinanten denkbar werden zu lassen? In Anlehnung an die katalanische Philosophin Marina Garcés und ihre Forderung nach einer Neuen radikalen Aufklärung kann der Weg dorthin nur über die unaufhörliche Kritik führen: „Kritik ist eine Kunst der Grenzen, die uns die Autonomie und Kontrolle zurückerstattet“ (S. 60). Darum also muss es in einem zeitgemäßen, radikal aufgeklärten Souveränitätsdiskurs gehen: um die Erlangung von Autonomie und Kontrolle als Emanzipation von jenem Universalismus kapitalistischer (Selbst-)Ausbeutung. Damit ist die negative Dimension dieser Emanzipation bestimmt. Doch in welche positiven Richtungen kann sich diese Emanzipation erstrecken?
Menschliche Souveränität gegen die Diktatur der Nützlichkeit
Um ein Leben jenseits der Rationalität kapitalistischer Verwertbarkeit denkbar werden zu lassen, möchte ich mich einem Denker zuzuwenden, den Foucault im besten Sinne einen „wahnsinnigen Philosophen“ (Foucault 1991, S. 38) nannte: dem Surrealisten und Schriftsteller Georges Bataille. Dieser unterscheidet in Die Aufhebung der Ökonomie zwei Aggregatzustände des Ökonomischen: eine partikulare Ökonomie, die Wachstum, Fortschritt und Kapitalakkumulation forciert, sowie eine allgemeine Ökonomie, deren Analysefeld die zweckfreie Verausgabung ist. Der kapitalistische Fokus auf die partikulare Ökonomie kommt für Bataille einer Beschneidung der menschlichen Autonomie gleich; diese Beschneidung verhält sich gegenläufig zum allgemeinen menschlichen Drang nach Souveränität, denn „Souveränität kommt allein demjenigen zu, der prinzipiell alles negiert, was die Autonomie seiner Entscheidungen einschränkt“ (S. 48). Eine solche souveräne Negation kann erfolgen, indem sich Menschen gegen die zwanghafte Rationalität des Nützlichen stemmen: „Der nützliche Mensch ist derjenige, der sich vor allem mit Bedingungen beschäftigt, die im Grenzfall der souveräne Mensch negiert“ (ebd., S. 54; Herv. i. O.). Der wirkmächtigste Umgang mit jener ‚Kunst der Grenzen‘, wie Garcés es formuliert, ist also ihre Überschreitung in Form einer fundamentalen Kritik an den vermeintlich festgeschriebenen Denkräumen. Erst im Zuge der Überschreitung des Gewohnten – des Gesetzes, wie Foucault sagt – hin zum Neuen wird das Leben „zu einer inneren und souveränen Erfahrung“ (Foucault 1991, S. 30; Herv. i. O.).
Angst als innere und souveräne Erfahrung
Worauf aber kann eine solche souveräne, innere Erfahrung heute beruhen? Es mag zunächst paradox erscheinen, doch Bataille nähert sich dieser Erfahrung über ein Gefühl an, das gegenwärtig eher als lähmend verstanden wird: die Angst. In einer Zeit der Ressourcenknappheit, möglichen Engpässen bei Gas und Strom und anhaltender Dürren erscheint Angst als das zentrale Gefühl unserer Zeit. Bataille schreibt ihr einen emanzipativen Charakter zu: „Die Angst ist nicht weniger als die Intelligenz ein Mittel des Erkennens“ (S. 58). Anders als die Ratio der Intelligenz eröffnet Angst einen neuen Denkraum, den Bataille „das Extrem des Möglichen“ (ebd.) nennt. Dazu muss die Angst, die uns zunächst lähmend erscheint, zugänglich und erfahrbar werden. Eine tiefe Auseinandersetzung mit, gefolgt von einer Emanzipation von den angstbesetzten Aspekten des Lebens ist es, was Menschen ihre Souveränität zurückerstattet: „Das Extrem des Möglichen“ – aka: die Souveränität – „setzt Lachen, Ekstase, erschreckte Annäherung an den Tod voraus“ (ebd.). Ein solcher Prozess ist voraussetzungsvoll und ähnelt in seinem Anspruch der vollständigen Durchdringung von Ängsten nicht zufällig der psychoanalytischen Methode. Bataille fasst ihn als eine „Reise ans Ende des dem Menschen Möglichen“ (S. 18) auf, die verlangt, „daß die bestehenden Autoritäten und Werte negiert sind, die das Mögliche begrenzen. Aufgrund dessen, dass sie die Negation anderer Werte, anderer Autoritäten ist, wird die Erfahrung in ihrer positiven Existenz rechtsgültig selbst zum Wert und zur Autorität“ (ebd.; Herv. i. O.). Indem Menschen nicht vor ihren Ängsten fliehen, sondern sich ihnen aktiv hingeben, sie durcharbeiten und sich dadurch in eine Konfrontation mit ihren eigenen Denkgewohnheiten begeben, wird eine Emanzipation von der andrängenden Außenwelt und ihren Zwängen möglich. Dieser Prozess kann für Bataille niemals ein singulärer sein, sondern verläuft notwendig kollektiv und kommunikativ, da das Extrem des Möglichen „nur dann ganz erreicht [ist], wenn es kommuniziert wird (der Mensch ist mehrere, die Einsamkeit ist die Leere, die Nichtigkeit, die Lüge)“ (S. 74). Das Resultat jener kollektiven Praxis ist die Aufrichtung einer je individuell wirksamen inneren Autorität, die auf der Versöhnung von Emotionalität und Rationalität fußt und in der die menschlichen Bedürfnisse den äußeren Sachzwängen vorgezogen werden: hierin liegt in einem ersten Schritt ein radikal aufgeklärtes Verständnis von Souveränität, das sich der individuellen Verwertungslogik versagt und auf das Menschliche als Kollektives zielt.
Der souveräne Mensch steht jenseits der Mensch-Welt-Dichotomie
Aus dieser tiefen Auseinandersetzung mit sich selbst als Negation der andrängenden Sachzwänge kann in einem zweiten Schritt eine radikale Kritik an den autoritären Dogmen von Verwertbarkeit und Produktivität resultieren, die nicht nur individuell, sondern strukturell transformativ wirkt. Hierzu muss neben der Schwelle von Ratio und Emotion auch jener Dualismus von Mensch und Welt, dem die vermeintliche Herrschaft des Menschen über die Natur und ihre Ausbeutung entspringen, hinterfragt werden. Für Bataille ist es der sich in Opposition zur Natur begreifende Mensch, der durch die Naturbeherrschung mitnichten Souveränität erlangt, sondern sich selbst seiner Souveränität beraubt: Denn nicht erst im Neoliberalismus, sondern bereits in der Abgrenzung einer vermeintlich natürlichen Welt vom Kulturwesen Mensch im Zuge der Aufklärung steckt ein Akt der Verdrängung all dessen, was als nicht-menschlich und irrational identifiziert wurde. In Anlehnung an Freud sind es für Bataille diese verdrängten Fragmente der Existenz, die nun im kollektiven Unbewussten wüten. An dieses Unbewusste führen wiederum die souveränen Momente der Angsterfahrung; sie leiten einen Schwebezustand ein, der für einen Moment die Grenze von Mensch und Welt aufhebt und den Blick freigibt auf das Irrationale – auf das, was der Mensch in der Eingrenzung der Sphäre der Rationalität ausgesondert hat: das unbekannte Terrain einer gemeinsamen Grundlage von Mensch und Natur, dem sich der Mensch über ein Eingeständnis seines stets nur beschränkten Blicks auf die Welt annähern kann: Wiederum eine angstvolle Erfahrung, in der Episteme jenseits des Menschen als Zentrum der und Herrscher über die Welt zu entdecken sind. „Die Erfahrung erreicht schließlich die Verschmelzung von Objekt und Subjekt, indem sie als Subjekt Nichtwissen ist, als Objekt das Unbekannte“ (Bataille 1999, S. 21). Die russische Philosophin Oxana Timofeeva hat in ihrem jüngsten Essay Solar Politics eben diese Natur-inkludierende Perspektive Batailles radikalisiert: in seiner Beschreibung einer allgemeinen Ökonomie, die von den Grenzen der Partikularität befreit ist, eröffnet Bataille eine utopische Dimension: „What reason does is a constant operation of limitation: thought creates a sphere of things that are thinkable, that is, reducible to the categories of reason. In this operation, something is necessarily excluded, and it is precisely this something that creates the domain of violence, or, as Bataille otherwise calls it, the sacred“ (S. 49). Das Verdrängte als Heiliges, das mit solcher Gewalt in der menschlichen Seele wütet, bezieht sich auf unterdrückte Emotionen und das Nicht-Menschliche. Ein entsprechender Prozess des Bewusstwerdens würde eine Kritik an den überkommenen Dualismen von Natur und Kultur, Mensch und Welt etc. bedeuten. Damit antizipiert ist eine Überschreitung der nur vermeintlich souveränen Perspektive des Menschen auf die Welt hin zu einem versöhnten Modus der Solidarität des Menschen mit der Natur als eine geteilte Form der Souveränität.
Ein radikal aufgeklärter Souveränitätsbegriff
Gewonnen ist damit ein insofern radikal aufgeklärtes Verständnis von Souveränität, als es jene Aspekte der Aufklärung von Individualität, Naturbeherrschung und dem Fetisch des Rationalen überschreitet, die die ausweglos erscheinende Gegenwart hervorgebracht haben. Es begreift den Menschen nicht länger als Herrscher über die Welt, sondern als in inniger Beziehung zu ihr. Menschliches Handeln, das sich der Diktatur der Zweckrationalität versagt und den eigenen unter- und unbewussten Ängsten zuwendet, vermag es vielleicht, neben dem Fortschritt auch den Müßiggang, die Verschwendung oder – wie Bataille es nennt – die Verausgabung in das Leben zu integrieren. Damit ist eine fundamentalkritische Haltung gegenüber der Welt, wie sie ist, antizipiert, die sich im Fahrwasser einer Neuen radikalen Aufklärung bewegt und im Sinne Marina Garcés den „Plural zum Ausgangspunkt des sozialen Lebens mach[t] und nicht das Individuum“ (Garcés 2016). Über diesen Weg der fortwährenden Kritik an der rationalen Einrichtung der Gesellschaft erreicht der Mensch seine Souveränität als Selbstvertrauen im Sinne einer „generous self-consciousness“ (Timofeeva 2022, S. 65), die den Menschen als kollektives Wesen und weder ihn noch die Natur als ausbeutbare Objekte begreift, sondern sie als solidarische Entitäten auf einem versöhnten Planeten verortet, auf dem alles Lebendige eine gleichberechtigte Existenz teilt. „Becoming self-conscious means“, so Timofeeva im Anschluss an Bataille, „learning to share“ (ebd., S. 88).
Daniel Lieb studierte Erziehungswissenschaft und Ethnologie an der Universität zu Köln sowie den Master ‚Bildung & Erziehung: Kultur-Politik-Gesellschaft‘ an der Universität Tübingen. Ab Dezember 2022 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt ‚THInKI – Thüringer Hochschulinitiative für KI im Studium‘ am Lehrstuhl für Historische Pädagogik und Globale Bildung an der Universität Jena.
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