Postkolonialität und die Methodologie normativer politischer Theorie. Ina Kerners ZPTh-Artikel in der Diskussion

Der Themenschwerpunkt „Postkolonialität und die Krise der Demokratie“ prägt die gerade neu erschiene Ausgabe der Zeitschrift für Politische Theorie. Der von Jeanette Ehrmann herausgegebenen Schwerpunkt umfasst Beiträge von Luciana Ballestrin über die Abwesenheit des Globalen Südens in der Debatte um die Krise liberaler Demokratien, von Oliver Eberl über die Herausforderung indigener Bürgerschaft für die Demokratietheorie und von Gundula Ludwig über das Verhältnis von Demokratie und die Kolonialität der Gewalt. Ina Kerners Beitrag, den wir als Gegenstand für die aktuelle ZPTh-Debatte ausgewählt haben und der damit zugleich hier open access verfügbar ist, widmet sich der Kolonialität der liberalen Demokratie. Vervollständigt wird das Heflt durch Marco Bitschnaus Diskussion sexualpolitischer Dimorphismen und Skadi Krauses Skizze der Figur des aktiven Bürgers in der politischen Ideengeschichte.
Wie immer wünschen wir eine gute Lektüre der facettenreichen Beiträge. Wir übergeben nun an Floris Biskamp, der in seinem Kommentar zu Ina Kerners Beitrag vor allem methodologische Fragen in den Fokus rückt. Auch in diesem Fall laden wir herzlich zum Mitdiskutieren in den Kommentarspalten ein. Ina Kerner wird im Anschluss antworten. Die Theorieblog-Redaktion

In ihrem Beitrag Zur Kolonialität der liberalen Demokratie nimmt Ina Kerner aktuelle Diskussionen um eine Krise der Demokratie zum Ausgangspunkt, um verschiedene Formen postkolonialer Theoriekritik zu rekonstruieren. Ich möchte ihre dabei formulierten Thesen aufnehmen, um darüber zu reflektieren, welche Implikationen diese postkolonialen Kritiken für die Methodologie normativer Theoriebildung haben: Wie sollten wir westlichen Theoretiker:innen im globalen Norden unseren Beruf in Zukunft anders betreiben, wenn wir diese Kritiken ernstnehmen? Dafür rekapituliere ich zunächst die beiden von Kerner formulierten Thesen und ordne ihnen jeweils eine Methode zu, deren Herausforderungen ich erläutere: postkoloniale Ideologiekritik und plurale theoretische Diskurse.

Postkoloniale Theoriekritik in zweimal zwei Thesen

Kerner rekonstruiert verschiedene Formen postkolonialer Theoriekritik. Sie skizziert zwei Thesen, die jeweils in zwei Unterthesen untergliedert sind.

These 1 lautet, dass Theorie und Realität liberaler Demokratie historisch und gegenwärtig eng mit (neo-)kolonialer und rassistischer Machtausübung verknüpft sind. Unterthese 1a zielt mit Achille Mbembe darauf, dass westliche Demokratie zwar die Idee der Gleichheit aller Menschen proklamierte, in der Praxis jedoch rassifizierte Gruppen aus der Menschheit ausschloss. Unterthese 1b zielt mit James Tully darauf, dass westliche Versuche, Demokratie weltweit zu verbreiten, mit einem „low intensity“-Konzept von liberaler Demokratie arbeiten, das in seiner Praxis Selbstbestimmung im globalen Süden nicht ermögliche, sondern unterminiere – zum politischen und ökonomischen Vorteil des globalen Nordens.

These 2 lautet, dass in nichtwestlichen Traditionen und Kontexten eigenständige normative Reflexionen vollzogen werden, die wir politischen Theoretiker:innen im Westen nicht ignorieren sollten. Unterthese 2a) zielt mit Iris Marion Young darauf, dass das in der westlichen Tradition gängige Demokratieverständnis auch nichtwestliche Quellen hat, die im hegemonialen Diskurs ausgeblendet bleiben oder gar systematisch unsichtbar gemacht wurden – konkret geht es um Institutionen der Haudenosaunee, von denen die ‚Gründerväter‘ der USA einiges über die Möglichkeiten von Selbstregierung lernten. These 2b zielt mit Jean und John Comaroff darauf, dass nichtwestliche Traditionen Reflexionen zu bieten haben, die über im westlichen Diskurs vorherrschende Demokratiekonzeptionen hinausweisen – konkret geht es um eine auf „der politischen Kultur der Setswana“ (S. 193) fußende Kritik an partizipativer und deliberativer Substanzlosigkeit bloß formal-prozeduraler elektoraler Demokratie.

In diesem Kommentar möchte ich nicht die Validität dieser Thesen in ihren Details diskutieren, sondern stattdessen von ihnen ausgehend über methodologische Fragen reflektieren: Was bedeuten diese postkolonialen Kritiken für unsere Praxis als politische Theoretiker:innen? Wenn die Aufgabe normativer politischer Theorie darin besteht, theoretische Kriterien für die Bewertung politischer Ordnungen, politischer Ideensysteme und politischer Praxis zu formulieren (und dagegen scheinen weder Kerner noch die von ihr rekonstruierte postkoloniale Kritik etwas zu haben), inwiefern muss sie dies auf andere Weise tun, wenn sie sich für postkoloniale Reflexion öffnet? Welche Methoden müssten wir in der Theoriearbeit verfolgen, um postkoloniale Reflexionen in unserer Praxis systematisch einzubeziehen? Um diese Fragen zu beantworten, rekonstruiere ich aus Kerners Text zwei unterschiedliche Methoden, die je einer der beiden Thesen entsprechen: der ersten entspricht die Ideologiekritik und der zweiten ein pluraler normativer Diskurs.

Methodische Folgen aus These 1:
Politische Theorie muss ideologiekritisch reflektieren, welche Dynamiken die von ihr legitimierten Normen in der gesellschaftlichen Praxis in verschiedenen Kontexten entfalten

These 1 läuft in der Praxis auf eine Methode ideologiekritischer Reflexion hinaus, wie sie auch die materialistische Tradition seit (mindestens) anderthalb Jahrhunderten einfordert. In ihren theoretisch reizvollen, nicht reduktionistischen Varianten zielt Ideologiekritik nicht darauf, normative Theorien als bloße ‚Verschleierung‘ von Herrschaft zu ‚entlarven‘; ebensowenig geht es ihr darum, den normativen Kern der liberalen Tradition, also (stark abgekürzt) die Idee der Autonomie, einfach zurückzuweisen. Vielmehr zielt Ideologiekritik auf den Nachweis, dass sich einige normative Theorien in der Praxis systematisch de-realisieren, wenn man versucht, sie zu realisieren – so bestimmt Rahel Jaeggi den Begriff. Bestimmte normative Konzeptionen von Autonomie entfalten demnach in ihrer gesellschaftlichen Realisierung normativ nicht vorgesehene Dynamiken, die Autonomie (im globalen Süden) systematisch unterminieren. Ein klassisches Beispiel für solche Ideologiekritik ist Marx‘ Kritik liberaler Theorie als „Freiheit, Gleichheit, Eigentum, und Bentham“: Wenn eine normative Konzeption von Selbstbestimmung die Institution des Privateigentums (an Produktionsmitteln) umfasse, führe das in der Praxis zu (kapitalistischen) Dynamiken, die sowohl individuelle als auch kollektive Selbstbestimmung unterminierten anstatt sie zu ermöglichen – eine Argumentation, deren Validität freilich zu belegen wäre. Postkoloniale Ideologiekritik zielt (wie die von Kerner rekapitulierten Thesen Tullys) auf globale Zusammenhänge: Welche Dynamiken entfalten normative Theorien, die in Ländern Nordens im Kontext westlicher Traditionen formuliert wurden, bei ihrer globalen Realisierung in Ländern des Südens? De-realisieren sie sich?

Solche postkoloniale Ideologiekritik steht insbesondere vor zwei Herausforderungen: Zunächst ist zu diskutieren, in welchem Maße die De-Realisierung einer normativen Theorie notwendig oder akzidentiell ist. Denn die sparsame Antwort auf die in These 1a geübte Kritik besteht zumeist darin, dass man z.B. die ‚problematischen Stellen‘ in den Werken von Locke, Hegel usw. anerkennt, aber als dem theoretischen Kern ihrer Werke äußerlich abtut. Postkoloniale Kritik wäre dann lediglich eine ideengeschichtliche Pflichtübung, in der man betroffen nickend zugesteht, dass die Geschichte irgendwie unangenehm war. Für die normative Theoriebildung im engeren Sinne hätte sie aber keine Folgen.

Das sähe anders aus, wenn es der Kritik gelänge, eine notwendige oder zumindest systematische Verbindung zwischen einer normativen Theorie und kolonialer Praxis aufzuzeigen. Wenn man z.B. darlegen könnte, dass ein Lockeanischer Liberalismus in der Realität auf gar nichts anderes als koloniale Ausbeutung hinauslaufen kann, hülfe es nichts, Lockes Äußerungen über die Amerikas zu historisieren; die Theorie selbst wäre infrage gestellt. Eine entsprechende Methode ist in Tullys Kritik liberaler Demokratie angelegt.

Will sich postkoloniale Ideologiekritik dieser Herausforderung stellen, muss sie insbesondere diskutieren, welche gesellschaftlichen Bedingungen die Realisierung bestimmter normativer Theorien hat und welche Dynamiken sie entfacht – sowohl im spezifischen lokalen als auch im globalen Rahmen. So verweisen die von Kerner wiedergegebenen Kritiken von Ileana Rodriguez und Tully darauf, dass bestimmte normative Konzeptionen von liberaler Demokratie, die in den kapitalistischen Zentren trotz aller Krisen einigermaßen funktionieren, dies in anderen Ländern womöglich nicht können – weil die materiellen und soziokulturellen Bedingungen dort (nicht zuletzt aufgrund kolonialer Gewaltgeschichte und postkolonialer Dominanz) andere seien. Um solche Reflexionen zu ermöglichen, müsste politische Theorie immer auch Gesellschaftstheorie und politische Ökonomie betreiben.

Die zweite Herausforderung dieser Ideologiekritik besteht darin, darzulegen, welche normativen Konzeptionen man anstelle der kritisierten Theorien vertritt. Zwar muss sich Kritik nicht darauf festlegen lassen, ‚bessere Vorschläge‘ zu machen. Aber es täte ihrer Überzeugungskraft gut, wenn sie es könnte: Wie also müsste man Autonomie konzipieren, damit sie sich in ihrer Realisierung nicht de-realisiert (und dies in einer von kolonialer Geschichte, globaler Ungleichheit und differenten Traditionen geprägten Welt)?

Methodische Folgen aus These 2:
Es braucht plurale theoretische Diskurse über plurale normative Ordnungen – für die aber auch ein demokratischer Rahmen definiert werden muss

Fragt man, wie wir methodisch auf die in These 2 aufgezeigten theoretischen Beiträge nichtwestlicher Traditionen reagieren sollen, scheint im Falle von These 2a auf den ersten Blick wiederum eine relativ sparsame Antwort auszureichen: Wenn zentrale demokratietheoretische Ideen von nichtwestlichen Traditionen adaptiert wurden, müssen wir diese Quellen ebenso benennen wie alle anderen. Auf den zweiten Blick erweist sich dieses korrekte Setzen von Fußnoten jedoch als unzureichend: Wenn nicht nur zufällig hier und da eine Quelle ‚vergessen‘, sondern der Beitrag nichtwestlicher Quellen in der westlichen Theorieproduktion systematisch unsichtbar gemacht wurde, sollte dies Folgen haben. Dann müssen wir die strukturellen, institutionellen und kulturellen Bedingungen dieser Ausblendung sichtbar machen und überwinden, um analoge Prozesse zukünftig unwahrscheinlicher zu machen.

Eine angemessene Reaktion auf These 2b ist noch herausfordernder. Denn hier geht es nicht nur darum, dass die theoretischen Reflexionen, die wir ohnehin vornehmen, nichtwestliche Quellen haben. Es geht auch darum, dass die in anderen Traditionen angestrengten Reflexionen über unsere hinausweisen, deren Probleme aufzeigen und andere, potenziell bessere Konzeptionen von Demokratie entwerfen – wie es Kerner mit den Comaroffs am Beispiel von Botswana darlegt. Eine erste Folgerung ist relativ offensichtlich: Wenn wir normative Theorie betreiben, sollten wir uns von keiner Quelle möglicher Argumente und Ideen abschneiden. Also ist das Ziel, wie von der interkulturellen politischen Theorie schon lange angestrebt, Routinen globaler politisch-theoretischer Diskurse und daraus hervorgehende Lernprozesse zu entwickeln. Dabei misst die postkoloniale Perspektive der Reflexion von Machtasymmetrien und historischer Gewalt besondere Bedeutung bei, sodass Interkulturalität nicht voreilig als symmetrisch und harmonisch vorgestellt werden dürfte.

Denkt man die Praxis eines solchen Theoretisierens weiter, zeigen sich noch größere Herausforderungen. Denn im politisch-theoretischen Diskurs reicht es nicht, dass viele Stimmen gehört werden. Politische Theoretiker:innen müssen auch Kriterien haben, nach denen sie über die Geltung der von diesen Stimmen formulierten Argumente entscheiden. Dies gilt auch im postkolonialen Rahmen. Die von Kerner skizzierte postkoloniale Kritik zielt nicht auf einen Relativismus, in dem in jeder Gesellschaft nur die normativen Maßstäbe der je ‚eigenen‘ Tradition gelten. Die Indigenität einer normativen Konzeption kann schon deshalb kein Ausweis ihrer Validität sein, weil es in fast allen Gesellschaften konkurrierende und einander widersprechende Normen gibt, die nicht zugleich richtig sein können – und zudem Konflikte und kritikwürdige Dominanzverhältnisse. Vielmehr ist der normative Zielhorizont aller von Kerner aufgenommenen Kritiken durch Demokratie und Autonomie bestimmt. Alle im Text benannten Kritiken liberaler Demokratie erfolgen im Namen von Demokratie. Jedoch wird man auch nicht jede im Namen von ‚Demokratie‘ formulierte Kritik liberaler Demokratie akzeptieren wollen (Carl Schmitts Parlamentarismuskritik ja hoffentlich nicht). Entsprechend wird man auch jenseits des Bekenntnisses zu ‚Demokratie‘ Geltungskriterien anlegen müssen.

Und nun wird es kompliziert: Denn wenn ein theoretischer Diskurs daraus werden soll, müssten diese Kriterien (wie vorläufig und fallibilistisch auch immer) begründet und systematisiert werden. Und wie würde man dies tun, wenn nicht in einer Weise, die einem kantischen oder habermasianischen Projekt sehr ähnlich sähe (ohne sich freilich auf diese Quellen berufen zu müssen)? Etwas Besseres als normativer Pluralismus in den Grenzen von universalistischer (kommunikativer) Vernunft fällt mir jedenfalls nicht ein.

Aber auch wenn der Rahmen des Theoretisierens am Ende kantisch oder habermasianisch anmuten könnte, geben die von Kerner vorgebrachten postkolonialen Kritiken gute Gründe, die real existierenden kantischen oder habermasianischen Demokratietheorien zu überdenken: Dies müsste überall da geschehen, wo sie die konkreten Bedingungen und Dynamiken ihrer Realisierung in einer von kolonialer Geschichte, globaler Ungleichheit und differenten Traditionen geprägten Welt nicht hinreichend reflektieren. Wie Kerner deutlich macht, müsste politische Ordnung durch ein erhebliches Maß an regionalem Pluralismus geprägt sein. Ihre Bedingung wäre aber wohl auch eine Abschwächung globaler Ungleichheit. Und bei all dem wäre noch in einer klimapolitisch nachhaltigen Weise die materielle Versorgung von acht Milliarden Menschen zu gewährleisten – wie diese enorme Leistung zu vollbringen sein soll, müssten auch postkoloniale Verfechter:innen einer neuen Weltordnung, „die souveräne Einheiten wie Nationalstaaten transzendiert, so lokal wie möglich ansetzt und primär die je Betroffenen involviert“ (S. 198), reflektieren. Denn auch diese Theorie sollte darauf achten, dass ihre Realisierung keine De-Realisierung wäre.

 

Floris Biskamp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholischen Universität Eichstätt Ingolstadt sowie Postdoc im Promotionskolleg Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität an der Universität Tübingen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen politische Theorie, politische Ökonomie, Populismusforschung und Rassismusforschung.

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