theorieblog.de | Herrschaft und Organisation aus Sicht der kritischen Theorie. Ein Konferenzbericht

2. August 2022, Blüml

Ist Herrschaft unabdingbar? Und was ist das Verhältnis von Herrschaft und Organisation? Mit diesen zentralen Fragen beschäftigte sich die vierte Konferenz des Peter-Bulthaup-Archivs am 25. Juni 2022 in Hannover. Leitthese der Konferenz war, dass es eine problematische Vermischung der Begriffe Herrschaft und Organisation in den Gesellschaftswissenschaften gebe. Hierdurch würde einerseits alle Organisation fälschlicherweise einer Herrschaftskritik unterzogen, während andererseits Herrschaft nicht als machtasymmetrisches Beziehungsgefüge erfasst werden könne. Ohne eine analytisch-begriffliche Differenzierung bleibe es jedoch unmöglich, insbesondere die anonymisierte Herrschaftsform der kapitalistischen Gesellschaft kritisch zu betrachten.

Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft

Der Konferenz wurde die Perspektive einer kritischen Theorie im Anschluss an Denker wie Karl Marx, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zugrunde gelegt. Eröffnend legte Michael Städtler vom Gesellschaftswissenschaftlichen Institut eine ideengeschichtliche Differenzierung vom aristotelischen, über den mittelalterlichen bis zum bürgerlichen Herrschaftsbegriff dar. Seine Ausführungen endeten mit einer Analyse der bürgerlichen Gesellschaft, in welcher unfreie Mehrarbeit durch die kapitalistische Produktionsweise erzwungen werde.

In dieser Gesellschaftsform würde Herrschaft über die Notwendigkeit einer souveränen Macht zur Kontrolle der anthropologisch interpretierten universellen Konkurrenz zwischen den Individuen legitimiert. Eine Kritik dieses bürgerlichen Herrschaftsbegriffs müsse aufzeigen, dass diese souveräne Macht nicht notwendig sei, sondern lediglich aufgrund der Irrationalität der herrschenden Interessen fortbestehe. Somit konnte Städtler überzeugend in eine Kritik bürgerlicher Herrschaftsverhältnisse einführen, welche auch von den anderen Referenten in ähnlicher Weise geäußert wurde, wie es beispielsweise Christian Iber mit Bezug auf Marx und Ulrich Ruschig mit Bezug auf Adorno tat. Eine wünschenswerte Erweiterung wären Überlegungen zu den spezifischen Charakteristika der bürgerlichen Gesellschaft im 21. Jahrhundert gewesen.

An dieser Stelle konnte der anschließende Vortrag des Rechtswissenschaftlers Andreas Fisahn eine Analyse aktueller Formen bürgerlicher Herrschaft aus rechtsphilosophischer Perspektive bieten. Fisahn erläuterte, wie Herrschaftsmechanismen in der kapitalistischen Gesellschaft durch das Recht und diejenigen, die es anwenden, reproduziert werde. Dabei argumentierte er, dass die marxsche Analyse des Staates als Herrschaftsinstrument zur Unterdrückung der arbeitenden Klasse zwar den Verhältnissen des 19. Jahrhundert entspräche, aber für die Analyse der heutigen Bedingungen ungenügend sei. Denn nach Fisahn sei die Trennung von Politik und Ökonomie ein zentrales Element der Moderne, obwohl er auch Verflechtungen der beiden Bereiche durch Korruption und Kooperation anmerkte.

Diese prinzipielle Trennung diene einer weiteren Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse, da die Aneignung von Mehrarbeit und damit die Ausbeutung des Proletariats im liberalen System als Bereich außerhalb der Befugnisse der parlamentarischen Demokratie definiert würde und Politik in seinem demokratischen Schein somit als „Puffer“ für antikapitalistische Tendenzen diene. Weiterhin erläuterte Fisahn die Notwendigkeit von gesetzlichen Regelungen für eine Marktwirtschaft, welche Berechenbarkeit bieten und gleichzeitig die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse durch die juristische Institutionalisierung verdecken würden.

Neben dem konservativen Charakter des Rechts selbst, sei jedoch die Rechtsanwendung ein seines Erachtens übersehener, zentraler Faktor der Herrschaftsstabilisation durch dieses. Denn Recht als Steuerungsmedium funktioniere nicht primär in der Gesetzesformulierung der Legislativen, sondern in der Rechtsanwendung durch Jurist*innen. Diese Rechtsarbeit in Verwaltungen o. ä. sei allerdings aufgrund der allgemeinen gesellschaftlichen, aber auch spezifisch der juristischen Sozialisation hegemonial. Für Fisahn bedeutet das, dass auch progressive Steuerungsimpulse aus der Politik in der konkreten Anwendung an das hegemoniale, also herrschende System angepasst würden.

Alternative Gesellschaftsmodelle?

Nachdem Städtler und Fisahn in Herrschaftskritiken aus marxistischer Perspektive einführten, setzten sich die kommenden zwei Vorträge nicht nur mit Kritik, sondern auch mit alternativen Gesellschaftsmodellen auseinander. So stellte Christian Iber Marx‘ Analyse politischer Gewalt, das historische Revolutions-Vorbild der Pariser Kommune und dessen Alternativkonzeption zur kapitalistischen Produktionsweise. Aus der Erläuterung der marxschen Ideen resultierte bei Iber eine Analyse der aktuellen Herrschaftsform während der Bewältigung der Corona-Pandemie. U. a. in Deutschland sah er den Umgang mit Corona als wirtschaftszentriert, in dessen Relation das Gesundheitssystem lediglich als Reproduktion der Ware Arbeitskraft diene. In Ländern wie Brasilien hingegen, in denen es zu große Teile des Proletariats gebe, die aufgrund des Überangebots an Arbeitskraft nicht im Produktionsprozess verwertet werden könnten, verliere dort ein ausgebautes Gesundheitssystem seine kapitalistische Notwendigkeit.

Als gesellschaftliches Ideal, dass er an Marx anschließend dem Status Quo entgegenstellt, sprach er vom Kommunismus, bei welchem die Produktionsmittel vergesellschaftet seien und ein sozialethischer Individualismus herrschen solle, bei welchem die Freiheit des*der Einzelnen die Bedingung der Freiheit aller sein solle. Leider griff Iber hier die marx’schen Ideale auf, ohne darauf einzugehen, wie nicht nur die ökonomischen Verhältnisse, sondern auch in den Subjekten verankerte Denk- und Handlungsstrukturen zur Realisierung dieses Ideals geändert werden müssten. Ohne Wege zu diesem aufzuzeigen, bleibt der utopische Anschein solcher Überlegungen bestehen.

Kritischer betrachtete der Sozialwissenschaftler Alex Demirović alternative Gesellschaftsformen in seinem Vortrag zu marxistischen Konzeptionen von Rätedemokratien. Insbesondere seien diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland reflektiert und drei Monate lang nach der Novemberrevolution auch realisiert worden. Unter anderem spreche die kritische Theorie wiederholt von der Einrichtung einer vernünftigen Gesellschaft mithilfe von Planung, wobei jedoch die demokratische Grundlage unreflektiert bleibe.

Hier sah Demirović den Ansatzpunkt einer notwendigen Debatte um alternative Gesellschaftsformen, da es neue Austragungsweisen von Konflikten benötigen würde. Grundlegend sei eine „Rücknahme der Politik in die Gesellschaft“ erforderlich, also eine Demokratisierung aller Lebensbereiche, Selbstverwaltung und vermehrt kommunale Entscheidungsbefugnisse. In bisherigen Theoretisierungen blieben seines Erachtens viele Fragen zur Organisation einer Räterepublik noch ungeklärt: Wie werden die Betriebsräte strukturiert und führt eine Organisation durch Betriebe und Branchen nicht zu partikularistischen Sichtweisen? Wie wird das Verhältnis von Betriebsräten zum nationalen Parlament strukturiert? Wie werden Menschen berücksichtigt, die nicht am Arbeitsprozess beteiligt, also arbeitslos oder in der häuslichen Sphäre tätig sind?

Für Demirović brauche es bei einer rätedemokratischen Strukturierung einen Fokus auf das Verständnis des gesamten Produktionsprozesses und eine Koordination unterschiedlicher Bedürfnisse. Ihm zufolge sei ein immanenter Bestandteil einer alternativen, vernünftigen Gesellschaft eine universelle Qualifikation der Mitglieder auf dem höchsten gesellschaftlichen Niveau. Exemplarisch handele es sich im bestehenden System um ein abgeschlossenes Studium. Die anschließend ausgeführten Tätigkeiten müssten dann auch in einer bestimmten Mischung ausbildungsinadäquat sein. Oder wie Adorno es einmal ausgedrückt habe: in einer befreiten Gesellschaft wäre er bereit, auch als Liftboy zu arbeiten. Demirović zeigte somit im Gegensatz zu Iber eine reflektiertere Auseinandersetzung mit den marxistischen Idealvorstellungen und deren Umsetzung, wobei die praktischen Handlungsanweisungen auch bei ihm tendenziell unklar blieben.

Herrschaftskritik und Politische Theorie im 20. Jahrhundert

Die beiden letzten Vorträge der Konferenz behandelten neuere Herrschaftskritiken und ihr Verhältnis zu politischen Theorien des 20. Jahrhunderts. Zunächst erläuterte der Chemiker und Philosoph Ulrich Ruschig in positiver Bezugnahme den Herrschaftsbegriff der kritischen Theorie mit Fokus auf Adornos Analysen. Diesen wollte er als dialektisches Verhältnis, wie das Herr-Knecht-Verhältnis bei Hegel, verstanden wissen. Die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft finde dabei als „prozessierender Widerspruch“ statt, in welchem sowohl Arbeitskraft als auch Natur auf stets höherer Stufenleiter der Produktion ausgebeutet werden. Dabei steigere sich das Destruktionspotential stetig. Gleichzeitig werde jedoch Protest durch die Anonymisierung dieses Herrschaftsverhältnisses erschwert. Denn nach Adorno würden die Klassengegensätze im Spätkapitalismus immer schwerer erkennbar.

Kritisch bezog sich André Kistner auf die politischen Theorien von Hannah Arendt, John Rawls und Jürgen Habermas. Bei diesen Autor*innen wies er auf, wie sie den ökonomischen Bereich aus ihrer Theorie des Politischen ausgrenzen würden. Stattdessen würden sie ein Ideal der Öffentlichkeit entwickeln, welches den Status Quo der bürgerlichen Gesellschaft als machtloses Diskussionsmedium ohne Einfluss auf die Sphäre der Ökonomie reproduziere.

Durch diese politischen Theoretiker*innen würden somit normative Ideale produziert, welche die von Marx analysierten Herrschaftsverhältnisse im Produktionsprozess ignorieren würden. Damit würde Kistner zufolge die Öffentlichkeit ideologisch von den Mitteln der Intervention oder Überschreitung kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse frei gesprochen. Das hin diesen Theorien enthaltene Ideal von Öffentlichkeit bezeichnete er als „enteignete Öffentlichkeit“. Für Kistner selbst könnten die Herrschaftsverhältnisse nur durch eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel und einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft überwunden werden.

Fazit

In Rückblick auf die Leitfragen der Konferenz lässt sich sagen, dass Einigkeit zwischen den Vortragenden wie auch Diskussionsteilnehmenden bestand, dass Herrschaft keine politische Notwendigkeit darstelle. Weniger eindeutig wurde die Frage nach der Relation von Herrschaft und Organisation beantwortet, da sich nur Städtlers einführender Vortrag aus ideengeschichtlicher Perspektive direkt mit dieser Frage beschäftigte. Jedoch konnten die verschiedenen Perspektiven der anderen Vorträge – sowohl zu marxistischer Herrschaftskritik, als auch alternativer, nicht kapitalistisch strukturierter Organisationsformen – wichtige Einblicke in den Fragenkomplex bieten.

Marc Blüml ist Student der Politik- und Sozialwissenschaften an der Leibniz Universität Hannover. Sein Studiums- und Forschungsschwerpunkt liegt auf psychoanalytisch geschulten materialistischen Gesellschaftstheorien.

 

 

 


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