Alles, was zählt? Über Statistik und Politik

Zum ersten Mal seit über zehn Jahren findet dieses Jahr in Deutschland wieder eine Volkszählung statt. Der Begriff mag heute altmodisch anmuten: In einer Zeit, in der Kühlschränke IP-Adressen haben, lässt der ‚Zensus‘ eher an das vierte Buch Mose denken, in dem die Stämme Israels gezählt werden. Doch sind Volkszählungen, so der Historiker Jürgen Osterhammel, die „Urform“ eines „kontinuierlichen self-monitoring von Gesellschaft“. Von dieser Feststellung ausgehend, möchte ich im Folgenden das Verhältnis von Politik und Statistik unter drei Aspekten näher diskutieren. Erstens ist die Statistik eine wesentliche Form einer Regierungskunst, die mittels Freiheitsgraden, Objektivität und Nähe funktioniert. Dem entsprechen zweitens spezifische Pathologien, die in Gestalt von ‚Gegenstatistik‘ und Datenschutz unterschiedliche demokratische Antworten hervorgerufen haben. Zuletzt argumentiere ich, dass es heute jedoch vor allem die Kategorisierungsleistung von Statistik ist, die auf Widerspruch trifft – ein Vorwurf, der politiktheoretisch ambivalent bleibt.

Statistik und moderne Regierungskunst

Die erste moderne, landesweite Volkszählung Europas fand 1755 in Schweden statt. Ab dem frühen 19. Jahrhundert begannen Regierungen, Verwaltungen sowie Forschende dann fast überall, systematisch Daten zu sammeln, die über die konkrete Zweckbindung hinausgingen, die solche Zählungen zuvor hatten. Bis dahin dienten sie meist dazu, im Interesse der Fürsten Steuern zu erheben oder das Potenzial an kriegstauglichen jungen Männern zu mustern. Mit dem Entstehen der modernen Statistik kam es hingegen, einer vielzitierten Formulierung von Ian Hacking zufolge, zu einer nie dagewesenen „Lawine gedruckter Zahlen“. Damit veränderte sich auch die politische Rolle dieser Zahlen.

Während Bevölkerungsstatistiken insbesondere in kolonialen Kontexten häufig dazu dienten, Hierarchien festzuschreiben, indem Menschen ethnischen Gruppen zugewiesen wurden – wie Benedict Anderson es in dem mit „Zensus, Landkarte und Museum“ überschriebenen Kapitel aus „Die Erfindung der Nation“ beschreibt – standen sie anderswo nun oft im Dienste sozialer Veränderung. Gerade in den USA und in Großbritannien waren die Pioniere der Sozialstatistik nicht selten auch Privatleute, wie der Philanthrop und spätere Präsident der Royal Statistical Society, Charles Booth, der Ende des 19. Jahrhunderts eine 17-bändige Studie über „Life and Labour of the People in London“ zusammentrug. Diese ‚Surveys‘ wurden von sozialreformerischen, wenn auch häufig paternalistischen Motiven getragen. Die Statistik war also, trotz der irreführenden Herkunft vom deutschen Wort ‚Staat‘, keineswegs nur eine Verfeinerung alter staatlicher Überwachungsmethoden.

In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität nennt Michel Foucault die Verselbstständigung der Statistik gegenüber der monarchischen Verwaltung vielmehr den „Hauptfaktor“, der jener neuen Form der Regierungskunst zum Erfolg verhalf, die die alten Modelle der Souveränität wie der Familie aufbrach. Zwei spezifische Aspekte sollen dabei hier besonders hervorgehoben werden.

Erstens beruht die Regierungskunst nicht auf Befehl, sondern auf der Lenkung natürlicher Bewegungen. In neueren Arbeiten zur Gouvernementalitätsforschung wird das meist auf Techniken der Selbstführung oder auf Sicherheitsdispositive bezogen. Die Statistik spielt hier aber keineswegs eine nur instrumentelle Rolle. Denn zunächst musste eine Freiheit denkbar werden, die sich lenken und deren Verteilung sich in normalisierender Absicht analysieren lässt. Auch hierzu trug die Statistik wesentlich bei. Ursprünglich im Feld der Biometrie entwickelte statistische Innovationen in der Wahrscheinlichkeitstheorie oder der Korrelationsanalyse etwa ermöglichten es, relative, abgestufte Freiheitsgrade zu denken, die an die Stelle der starren Dichotomie von „Naturkausalität“ und „Kausalität durch Freiheit“ traten, an der sich noch Kant abarbeite.

Zweitens setzte sich mit der Statistik insgesamt eine neue Art von politischem Wissen durch, das sich durch zwei Ansprüche auszeichnet: Objektivität und Nähe.

Wissen als Objektivität und Nähe

Modernes Regierungswissen funktioniert gerade dadurch, dass es als unabhängiges, unparteiliches Wissen auftritt. Wissen und Macht, schreibt Foucault, beginnen sich „voneinander abzusetzen und zu scheiden“. Theodore Porter spricht von einer „Politics of Objectivity“ und betont, „this ideal (…) is a political as well as a scientific one. Objectivity means the rule of law, not of men”. Die Objektivität von Wissen wird dabei vor allem durch spezifisch verwissenschaftlichte Formen der Wissensgenerierung gewährleistet, deren wichtigste historische Gestalt eben die Statistik war. Nicht nur die explizit reformerische, sondern auch die amtliche Statistik verstand sich nun keineswegs mehr durchweg als Geheimwissen des Souveräns. Stattdessen sollte sie dem Gemeinwesen in all seinen Teilen einen kritischen Spiegel vorhalten: Ernst Engel, der herausragende deutsche Statistiker des 19. Jahrhunderts, war überzeugt, dass „nur durch offene, ungeschminkte Darlegung der Ergebnisse für die Regierungen wie für die Regierten“ die „richtigen Ansichten“ über die zu führende Politik entstehen könnten.

Der zweite Anspruch ist Nähe, d.h. eine möglichst genaue Kenntnis der zu regierenden Dinge. Deren je spezifische Qualitäten sollen nun in die Bestimmung der Ziele und Handlungsweisen der Regierenden einfließen. Pierre Rosanvallon zitiert in diesem Zusammenhang François Guizot, der im frühen 19. Jahrhundert schrieb: „Es ist vergebens, die Gesellschaft durch Kräfte regieren zu wollen, die ihren eigenen äußerlich sind, durch Apparate, die auf ihrer Oberfläche aufgestellt werden, aber keine Wurzeln in ihrem Inneren haben“. Rosanvallon interessiert sich für diese Traditionslinie vor allem, um an sie mit neuen Formen der Bürgernähe anzuknüpfen. Doch lässt sich auch schon die statistische Selbstbeobachtung in diesem Sinne begreifen: Sie soll eben jenes detaillierte Wissen über das Soziale sammeln, das Guizot anmahnte.

Anders als es der Quantifizierung von Nietzsche bis Marcuse oft vorgeworfen wurde, handelt es sich dabei nicht nur um ein standardisierendes, nivellierendes Wissen. Standardisierung dient zugleich der Abbildung von Differenzen. Indem homogene Blöcke in gleitende Spektren aufgelöst werden, kann eine größere Vielfalt möglicher Lagen und Positionen abgebildet werden.

Wer will, kann diesen letzten Punkt bis zur Regierung der Seelen zurückverfolgen. In seiner Soziologie der Beichte berichtet Alois Hahn, wie bereits die spätmittelalterliche Beichtpraxis zunehmend auf einer Fülle von Handbüchern beruhte, in denen nicht nur die Welt der Sünden und der Freiheitsgrade „vermessen und systematisiert“ wurde, sondern auch eine „präzise Kenntnis der beruflichen Differenzierung und der mit jedem Beruf oder Stand speziell verbundenen Versuchungen“ kompiliert wurde. Auch die Statistik, so schrieb es der schon zitierte Ernst Engel, begleite die Einzelnen aufmerksam durch die Stationen ihres jeweiligen Lebens, im Guten wie im Schlechten.

Pathologien der statistischen Regierung

Die beiden politischen Gefahren, die mit diesen Ansprüchen einhergehen, liegen auf der Hand. Eine Politik der Objektivität kann im Extremfall in eine problematische „Epistemisierung des Politischen“ münden. Und eine Politik der Nähe droht, sich einseitig als asymmetrische Beziehung zwischen Beobachtenden und Beobachteten zu verfestigen. Ich möchte hier nur auf die zweite Gefahr eingehen. Auf sie gibt es im Wesentlichen zwei demokratietheoretische Antworten.

Die erste ist relationaler Natur. Sie besteht im Versuch, die Asymmetrie der Beziehung aufzuheben, indem der Auskunftspflicht der Volkszählung spiegelbildliche Mechanismen der „Überwachungsdemokratie“ entgegengestellt werden, die die Regierenden ihrerseits zum Gegenstand eines kritischen Bürgerwissens machen. Hierzu zählt heute regelmäßig auch eine Art von Gegenstatistik – etwa über Abstimmungsverhalten, Nebeneinkünfte, CO2-Ausstoß der Dienstwägen von Politikerinnen und Politikern usw. In zeitgemäßer Form vollendet sich darin die alte Kritik Benthams, dass „to conceal from the public the conduct of its representatives, is to add inconsistency to prevarication“. Entscheidend ist aber, dass es weniger darum geht, gestaltende Partizipation zu ermöglichen, als vielmehr um ein Gleichgewicht des Beobachtens und Beobachtet-Werdens, durch das eine bestimmte Machtrelation ausgedrückt wird.

Die zweite Antwort ist eher konstitutioneller Art. Sie besteht darin, von vornherein die Bereiche und die Reichweite möglicher Nähe einzuschränken, sprich: im Datenschutz. Das deutsche Recht auf informationelle Selbstbestimmung geht bekanntlich auf das „Volkszählungsurteil“ von 1983 zurück; es entstand explizit als Gegenstück zum Fortschritt statistischer Beobachtungstechniken. Wie Daniel Schulz unlängst in der ZPTh treffend argumentiert hat, sollte dieses Recht daher nicht nur juristisch und als individuelles Grundrecht verstanden werden, sondern zugleich politisch als eine Form verfasster Gewaltenteilung, die, mit dem BVerfG gesprochen, strukturell die „Funktionsbedingung[en] eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens“ schützt.

Zählen und Erscheinen

Doch scheint diese Problematik zumindest im Kontext des Zensus längst nicht mehr so viele Menschen umzutreiben, wie das noch in den 1980er Jahren der Fall war. Man mag dies auf Gewöhnungseffekte oder auf die zumindest partiell erfolgreiche Umsetzung der beschriebenen Gegenstrategien zurückführen. Doch scheint ein weiterer Grund auch darin zu liegen, dass sich in Zeiten dessen, was als „Identitätspolitik“ zu bezeichnen sich trotz der Unschärfe dieses Begriffs eingebürgert hat, die Logik der Kritik an der Statistik verschoben hat. Der wesentliche Vorwurf lautet heute, dass sie Kategorien etabliere, die, bei aller Nähe, dennoch Fremdzuschreibungen blieben und Diskriminierungen produzierten.

In Deutschland ist es so vor allem der berühmte „Migrationshintergrund“, der seit dem Mikrozensus 2005 in der amtlichen Statistik ausgewiesen wird und ursprünglich eine im Vergleich zur binären Codierung Deutsche/Nicht-Deutsche differenziertere Beobachtung von Migrations- und Integrationsprozessen ermöglichen sollte, der umstritten ist. Weil damit Deutsche ohne Migrationshintergrund aber vermeintlich zur Norm erhoben würden, wirke die Kategorie, so der Vorwurf, letztlich stigmatisierend.

In der Tat spiegeln sich in Volkszählungen seit jeher auch jeweils dominierende politische Wahrnehmungen. Das Interesse an gesunden Arbeitskräften führte, wie Kerstin Brückweh argumentiert, im Zuge der Industrialisierung dazu, Menschen mit Behinderung als neuartige statistische Gruppe zu definieren. Fragen nach Nationalität oder Geburtsland wurden erst mit der Nationalisierung von Gesellschaften relevant. In den Vereinigten Staaten begann man unter dem Eindruck von mehreren Immigrationswellen und zunehmenden Rufen nach restriktiverer Einwanderungspolitik, auch die Herkunft immer weiter zurückgehender Generationen abzufragen. „Statistical facts and figures“ seien mithin „powerful tools in the hand of racists“, zitiert Brückweh eine Intervention von Jackie und Homi K. Bhabha im Kontext britischer Debatten über die Abfrage ethnischer Gruppenzugehörigkeit. Heute wird spiegelbildlich dazu jedoch gefordert, dass die Statistik selbst unmittelbar in den Dienst der Sichtbarmachung von „Superdiversität“ und des Kampfes gegen Benachteiligung gestellt werden und dabei den Wünschen und Selbstkategorisierungen der Betroffenen folgen müsse.

Die Kategorien der statistischen Beobachtung können in demokratischen Gesellschaften derart mit weitergehenden Kämpfen um Anerkennung und Repräsentation verknüpft und normativ aufgeladen werden. Das Ergebnis ist, was Sarah E. Igo „statistical citizenship“ nennt: Auseinandersetzungen über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verschieben sich aufs Terrain des richtigen oder falschen Zählens und Gezählt-Werdens. In solchen „proxy wars for representation in other realms“ und nicht mehr in Fragen des Datenschutzes scheint heute der wichtigere Schauplatz politischer Auseinandersetzungen rund um die Statistik zu liegen.

Soziologisch könnte man geneigt sein, dies als folgerichtige Demokratisierung einer modernen und in komplexen Gesellschaften kaum verzichtbaren Praxis der ordnenden Selbstbeobachtung zu verstehen. Politiktheoretisch darf man diese Verschiebung indes skeptisch sehen. Denn die Statistik entstand einst aus der Zählung natürlicher Vorgänge wie Geburten oder Tod; in der politischen Repräsentation geht es hingegen darum, wie wir erscheinen wollen.

 

Michel Dormal ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der RWTH Aachen. Er forscht u.a. zum Verhältnis von Demokratie und Demoskopie.

 

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