theorieblog.de | Im Spiegel des Personalen und des Subjektiven – Ein Bericht zur Frühjahrstagung der DVPW-Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte an der RWTH Aachen

15. Juni 2022, Gerlach

Gegenwärtige politische Herausforderungen wie die Klima- und Umweltkrise, die Covid-19-Pandemie, aber auch gesellschaftliche Kontroversen um Identitätspolitik, Feminismus und Postkolonialismus lösen eine Befragung etablierter Verständnisse von Subjektivität und Personalität aus. Diese aktuellen politiktheoretischen Debatten mit den grundsätzlichen Fragen nach den Begriffen des Subjektes und der Person zu verbinden, war das Ziel der Frühjahrstagung Personen und Subjekte des Politischen der Sektion für Politische Theorie und Ideengeschichte in der DVPW, die – organisiert von Michel Dormal, Jürgen Förster, Emanuel Richter und Hans-Jörg Sigwart – vom 23. – 25. März 2022 an der RWTH Aachen stattfand.

Als Sinnbild für das Thema der Tagung hatten die Veranstalter ein Pariser Graffiti gewählt, das dem Straßenkünstler Banksy zugeschrieben wird. Dieses zeigt einen Reiter, dessen Sicht und Gesicht durch seinen wehenden roten Umhang verdeckt sind. Der verhüllte Reiter ruft nicht nur unmittelbar die Frage nach der Enthüllung seiner Person hervor, sondern habe, wie Hans-Jörg Sigwart in seiner Begrüßung anmerkte, in seiner imperialen und kriegerischen Haltung auch einen aktuellen Bezug zur weltpolitischen Lage des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Auch in diesem Konflikt, fügte Emanuel Richter hinzu, sei die Frage nach dem Subjekt des Geschehens, nach der Verantwortung politischen Handelns wie nach der Personalisierung des Politischen allgegenwärtig.

Dass die Organisatoren der Tagung eine lebhafte Debatte zwischen divergierenden Theorieperspektiven auf politische Subjekte und Personen anregen und über die ideengeschichtlichen, methodischen und konzeptionellen Kontrastierungen innerhalb der einzelnen Panels eine produktive Kontroverse provozieren wollten, spiegelt das Tagungsprogramm zwar wider – in den Diskussionen stellte sich die gegenseitige Bezugnahme jedoch als herausfordernd dar. Mit etwas zeitlichem Abstand und in der retrospektiven Gesamtschau lässt sich aber über die personalitäts- bzw. subjektivitätsbezogene Sortierung der Beiträge ein fruchtbarer Dialog entfalten.

 

Im Spiegel des Personalen: Das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten

Frauke Kurbacher (HSPV NRW) entwickelte ausgehend von einem interpersonalen Verständnis der Eingebundenheit des Einzelnen in Gemeinschaft eine Philosophie der Haltung, der in einem doppelten Sinn eine relationale Bestimmung des Haltungsbegriffs zugrunde liegt: In einem weiten Sinn könne Haltung als die Konstituierung menschlicher Wesen durch die Bezüglichkeit zu anderen und zu sich selbst verstanden werden (Haltung sein); in einem engen Sinn meine Haltung die spezifische Haltung einer Person oder Gesellschaft zu etwas (Haltung haben). Diese im Rekurs auf Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft ästhetisch begründete Haltungstheorie sei Voraussetzung für ein dynamisches und verantwortungsbewusstes Verständnis von Autonomie als die potentielle Fähigkeit des Haltungswechsels. Denn aus der Unmöglichkeit, sich nicht zu halten, folge die Frage: Wie halte ich mich?

Das in der anschließenden Diskussion aufgegriffene Bild Hannah Arendts von einem Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten als ein Beziehungsgeflecht, in das jeder Neuankömmling neue Fäden hineinwebt, leitet über zum Vortrag von Grit Straßenberger (Bonn) zu narrativen Konzeptionen politischer Personalität. Als ein Geschichten erzählendes (Alasdair MacInytre) bzw. ein sich selbst interpretierendes Tier (Charles Taylor) bezögen sich Menschen narrativen Ansätzen des Politischen zufolge auf die Welt und auf sich selbst vorwiegend durch das performative Erzählen von Geschichten. Erzähltheorien pointierten damit nicht nur die personale Dimension politischen Handelns, sondern auch das schöpferische, identitätsbildende und erfahrungsverarbeitende Potential von Erzählungen. Die im Zentrum des Vortrags stehende dramaturgische Handlungstheorie und das damit verknüpfte Personalitätskonzept Hannah Arendts weise der Geschichtenerzählerin wie dem rezipierenden Publikum eine besondere Verantwortung zu – denn zur Ambivalenz von Erzählungen gehöre, dass diese auch Unsinn und Desorientierung verbreiten können.

In Zeiten der Krise ist der gesellschaftliche Bedarf nach narrativer Sinn- und Orientierungssuche besonders hoch. Michѐle Lamont (Harvard) zeigte auf der Grundlage einer umfänglichen Datenbasis die Konsequenzen des in der US-amerikanischen Gesellschaft vorherrschenden Ideals eines neoliberal self auf, an dem sich die gesellschaftliche Definition, wer wieviel wert sei, bemesse. Die Stigmatisierung von Gruppen und Klassen, die die neoliberalen Kriterien an das Selbst nicht erfüllen, beeinträchtige nicht nur das individuelle Wohlbefinden, sondern habe auch materielle Konsequenzen wie Armut und Obdachlosigkeit. Auf der Suche nach neuen narratives of hope interviewte das Forschungsteam von Lamont über 160 agents of change aus verschiedenen Öffentlichkeitsbereichen (bspw. aus dem Unterhaltungs- und Comedy-Bereich, der Künstler- und Intellektuellenszene oder sozialen Bewegungen), die diversitätssensible Anerkennungskriterien entwickeln und diese mit Hilfe narrativer Strategien in die gesellschaftliche Debatte einbringen.

Die von Kurbacher, Straßenberger und Lamont zur Diskussion gestellten haltungs-, erzähl- und anerkennungstheoretischen Überlegungen lassen sich im Anschluss an Straßenberger als performative Ansätze politischer Personalität und Identität interpretieren. Jürgen Förster (Aachen) teilte diese Grundannahme, setzte aber anders an, wenn er das auf den Moment der Befreiung reduzierte Subjektverständnis der Kritischen Theorie mit Arendts weiterreichender, auf die Gründung der Freiheit bezogenen politischen Theorie konfrontierte. Förster akzentuierte, dass eine Person – ein Jemand und nicht Niemand – zu sein, den Mut voraussetze, in die Öffentlichkeit zu treten und Verantwortung zu übernehmen, wenngleich die Handelnde oder Erzählende über die Rezeption ihres Erscheinens und ihrer Geschichte selbst nicht verfüge. Fritjof Huttel (Rostock) knüpfte in seinem Beitrag hieran an: Was ist die Tugend im Erscheinen der Person? Wann sollten wir einer Person Glauben schenken? Gut beraten sind wir, so ließe sich mit Aristoteles antworten, wenn der Redner Einsicht, Tugend und Wohlwollen besitzt. Die Tugend in der Beratung sei relational – sie setzte die perspektivenreiche Anpassung an die Anliegen eines pluralistischen Publikums voraus.

Eine Nachfrage aus dem Tagungspublikum führte schließlich noch einen neuen Aspekt in die Debatte ein: Arendts performatives Verständnis politischer Praxis betreffe nicht nur das Erscheinen von Personen, sondern auch von Körpern im öffentlichen Raum. In der pandemischen Gesellschaft bewirke dagegen die Logik des Virus eine Depersonalisierung und das Erscheinen bloßer Körperlichkeit im Bereich der Öffentlichkeit. Diese These diskutierte Edgar Hirschmann (Aachen) in seinem Beitrag zur Transformation politischer Subjektivität und Personalität im Zuge der Covid-19-Pandemie. Mit Hannah Arendt ließen sich der Lockdown und die von ihm hinterlassenen kalten und stummen öffentlichen Räume als eine Ohnmachtserfahrung beschreiben, die aus dem Verlust gemeinsamen Handelns resultiere. Für eine postpandemische Theorie stelle sich die Frage nach einem neuen politischen Körper, der unser aller Verletzlichkeit und leibliche Verbundenheit anerkennt.

 

Im Spiegel des Subjektiven: Ermächtigung und Unterwerfung

Lag der Fokus dieses ersten Stranges an Tagungsbeiträgen also auf politischen Personalitätskonzepten, standen in den anderen Vorträgen der Tagung das politische Subjekt sowie politische Subjektivierungsprozesse im Zentrum. Als leitend für diesen zweiten Strang an Beiträgen erwies sich die Spannung zwischen Ermächtigung und Unterwerfung. Hierfür war die von Marcus Llanque (Augsburg) eingeführte ideengeschichtliche Unterscheidung zwischen einem selbstbezogenen und einem handlungsbezogenen Deutungsstrang des Subjektes grundlegend. Hegemonial geworden sei die im selbstbezogenen Strang enthaltene individualistische Deutung des Subjektes, die in der Unterwerfung unter kollektive Zwecke stets die Unterdrückung individueller Selbstbestimmung vermute, während im Mittelpunkt des handlungsbezogenen Strangs die kollektive Ermächtigung des politischen Subjektes stehe. Gegen die Entgegensetzung von Ermächtigung und Unterwerfung argumentierte Llanque, es sei nicht entscheidend, ob Unterwerfung stattfinde, sondern um welche Art der Unterwerfung es sich handle: Dass die Unterwerfung unter selbst gegebene Regeln Subjekte auch ermächtige, entspreche der Idee kollektiver Selbstregierung. Die Frage nach der Unterwerfung werde somit auch im handlungsbezogenen (und die Frage der Ermächtigung auch im selbstbezogenen) Subjektverständnis relevant. Dieser Doppelhelix in der Ideengeschichte des Subjektbegriffs sensibilisiere jedoch auch für die negativen Potentiale beider Stränge: Bedeute die radikale Verweigerung der Selbstregulierung die Unfähigkeit zu kollektivem Handeln, führe die radikale Verweigerung der individuellen Selbstbestimmung zur Freisetzung totalitärer Kräfte.

Nikita Dhawan (Dresden) eröffnete unter der Frage „What difference does difference make?“ postkoloniale und queerfeministische Perspektiven auf politische Subjektivität. Der Universalismus der europäischen Aufklärung verneine prinzipiell die Bedeutung von Unterschieden; tatsächlich aber waren für die europäischen Aufklärer Unterschiede von Bedeutung, wenn weiblichen, jüdischen oder nicht-westlichen Subjekten das Vernunftvermögen abgesprochen und politische Rechte verweigert wurden. Die Ideen der Aufklärung blieben zwar weiterhin wichtig, es brauche jedoch eine kritische und historisch informierte Reflexion des Universalismus. Im Anschluss an Dhawan betonte Peter Niesen (Hamburg), dass er das Anliegen der Aufnahme historischer Erfahrung in die normative Theoriereflexion sowie das Offenlegen rassistischer und imperialer Denkstrukturen teile. Immanuel Kants Weltbürgerrecht als das Recht eines jeden Menschen, irgendwo zu sein, werde durch Kants Zweifel an der Gleichheit aller Menschen kompromittiert; im Lichte der egalitären Ressourcen dieses auf Nicht-Intervention, globale Mobilität und Gastfreundschaft abstellenden kosmopolitischen Konzeptes zeige sich hingegen Kants antiimperiales Denken.

In den Beiträgen von Dhawan und Niesen wird die im Subjektdiskurs enthaltene Spannung zwischen Unterwerfung und Ermächtigung, Selbst- und Fremdbestimmung, Universalismus und Partikularismus oder – in den Worten von Karsten Schubert (Freiburg) – zwischen Vernunft und Macht deutlich.  Schubert plädierte für die produktive Nutzung dieser Spannungen. Dafür mobilisierte er ein radikaldemokratisches Konzept von Identitätspolitik, das Identitätskonstruktion und Standpunktentwicklung diskriminierter und unterdrückter Subjekte als zentrales Element aller Identitätspolitiken ausmache. Die Entwicklung eines kritischen Standpunktes erfordere eine Praxis des Erfahrungsaustauschs unterdrückter Gruppen in partikularen Räumen. Da es sich aber bei dem aus der besonderen Erfahrung erlernten Wissen über die eigene Unterdrückung um objektives gesellschaftstheoretisches Wissen handle, ziele Identitätspolitik auf die Verwirklichung der universellen Werte Freiheit und Gleichheit und damit auf eine Demokratisierung der Demokratie.

Dass die Spannung zwischen Ermächtigung und Unterwerfung politischer Subjektivierung auch jenseits etablierter Modi räumlicher Vergesellschaftung bzw. jenseits erwachsener Subjekte eine Rolle spielt, zeigten die beiden Folgebeiträge. Andreas Busen (Hamburg) und Alexander Weiß (Rostock) fragten nach der besonderen Subjektivierung von Kindern. Diese bestehe einerseits in Form der Subjektivierung von Kindern als zukünftige Erwachsene, andererseits von Kindern als Kinder. Wollen Kinder jenseits der Lebenssphäre Kindheit als politische Subjekte in Erscheinung treten, stelle sie diese doppelte Subjektivierung vor das Problem, ob sie zur Berücksichtigung ihrer Forderungen auf Assimilation oder Differenz insistieren sollten – eine Grundproblematik, die auch aus anderen Emanzipationsdiskursen bekannt sei. Mit ihrem Ansatz seeing like a city fügten Marlon Barbehön und Michael Haus (Heidelberg) eine raumtheoretische Perspektive auf politische Subjektivierung hinzu, die die Stadt als besonderen Nährboden der Konstituierung kollektiven politischen Handelns (politische Subjektwerdung in der Stadt) sowie als spezifisches Produkt einer eigenen Identität (die Subjektwerdung der Stadt) auszeichnete.

Schließlich beschäftigten sich Frank Nullmeier (Bremen) sowie Rike Sinder (Freiburg) in ihren Beiträgen mit dem Subjektstatus nicht-menschlicher Entitäten. Über die Forschungsfrage, wie sich wissenschaftlich und politisch im Feld der Ontologiepolitik argumentieren lässt, gelangte Nullmeier vom politikwissenschaftlichen Verständnis individueller und kollektiver Akteure zur privatrechtlichen Differenzierung zwischen Personen und Sachen, wobei wir es hier mit einer dichotomen Ausgangslage zu tun hätten: Sachen können Eigentum von Personen sein. Für die Aufhebung dieser Dichotomie bot Nullmeier mit Subdifferenzierung, Gradualisierung oder Gleichsetzung drei Argumentationsmöglichkeiten der Zuweisung und Relationierung von Entitäten an. Entscheidend für die nicht-metaphorische Gleichwertigkeit nicht-menschlicher Entitäten sei das Aufbrechen der eigentumsrechtlichen Grundkonzeption. Sinder nahm den Impuls der Pionierklage der Robben aus der Nordsee (siehe VG Hamburg NVwZ 1988, 1058) für eine Neuvermessung der (Rechts-)Subjektivität jenseits der (Rechts-)Person zugunsten der Geltendmachung von Eigenrechten der Natur auf. Ansätze für eine neue politische Ökologie biete Bruno Latours Parlament der Dinge, das bisher politisch ignorierten ökologischen Subjekten wie Tieren, Pflanzen und dem Klima die Einbeziehung in die politische und rechtliche Repräsentation gewährleiste. Dass die Debatte um die Ermächtigung nicht-menschlicher Entitäten vor einem politisch-emotionalen Hintergrund menschlicher Angst vor Entmächtigung geführt würde, konstatierten beide Beiträger und plädierten demgegenüber für Demut in unserem Selbstverständnis.

Im Spiegel des Personalen und des Subjektiven, so lässt sich als Fazit der Tagung festhalten, werden also unterschiedliche Grundfragen der Politischen Theorie und Ideengeschichte reflektiert: Sind mit dem Personenbegriff insbesondere Fragen politischer Identitätsbildung, Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit verbunden, hebt der Subjektbegriff vornehmlich auf Macht- und Unterwerfungsstrukturen sowie Prozesse individueller und kollektiver Selbstermächtigung ab. Gleichwohl ließ die Diskussion der Bedingungen der Konstituierung individueller und kollektiver Identitäten und deren Handlungs- und Gestaltungsmacht auch die von den Veranstaltern zu Beginn der Tagung erfragten Verbindungen zwischen beiden Konzepten erkennen. Dass die Beziehung zwischen beiden Begriffen auch in den Ansätzen zur Neubestimmung des Status politischer Subjekte und Personen eine entscheidende Rolle spielt, lässt eine begriffstheoretisch forcierte Fortsetzung dieser äußerst konstruktiven Tagungsdebatte wünschenswert erscheinen.

 

Theresa Gerlach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Universität Bonn. Ihre Dissertation beschäftigt sich mit den ethisch-politischen Voraussetzungen agonaler Demokratietheorie.


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