theorieblog.de | Das unabgeschlossene Projekt demokratischer Autonomie: Zum 100. Geburtstag von Cornelius Castoriadis

11. März 2022, Cohen

Als Cornelius Castoriadis in den späten 70er Jahren nach New York City kam, habe ich ihn im Rahmen einer Vortragsreihe an der New School for Social Research, in Stonybrook und an anderen Universitäten im Umkreis kennengelernt. Auf die Bitte unseres gemeinsamen Freundes und eines Mitherausgebers von Telos, Dick Howard, haben mein Partner, Andrew Arato, und ich Castoriadis für ungefähr eine Woche bei uns in der Wohnung aufgenommen. Ich war damals Doktorandin in Soziologie an der New School und, was entscheidender war, an der bereits erwähnten Zeitschrift Telos beteiligt – einem Journal der internationalen Neuen Linken, das auch Arbeiten von Castoriadis sowie persönliche Interviews mit ihm herausgab. Die Arbeit für die Zeitschrift verband junge Doktorand:innen und Akademiker:innen mit praktischer Erfahrung in verschiedenen Bewegungen der neuen Linken sowie mit einem radikal-demokratischen, sozialistischen und/oder marxistischen Hintergrund. Telos veröffentlichte die Arbeiten kritischer Theoretiker:innen auf der Linken und stand in Kontakt mit herausragenden Denker:innen auf dem europäischen Kontinent, die an einer Abkehr von orthodoxen und trotzkistischen Spielarten des Marxismus hin zum Neo- und post-Marxismus beteiligt waren. Diese Denker:innen stimmten in ihrer Kritik an Gesellschaften des sowjetischen Typus überein, aber zugleich nahmen sie auch zentrale Elemente der Marx’schen Kritik am Kapitalismus weiterhin ernst. Ihr Anliegen war es, die Fehler der westlichen Demokratie offenzulegen und dabei zugleich ein größeres demokratisches Projekt zu verteidigen. Es ging ihnen um weitere Demokratisierung, bürgerliche Rechte und soziale Gerechtigkeit, zuhause und im Ausland, im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden.

Castoriadis war, neben Claude Lefort (den ich ein paar Jahre zuvor in New York kennengelernt hatte) und Jean-François Lyotard (mit dem ich etwas später in New York ebenfalls Freundschaft schloss), eine der wichtigsten französischen Figuren in dieser Gruppe. Castoriadis und Lefort hatten, gemeinsam mit Jean LaPlanche, in den 50er Jahren die Zeitschrift Socialisme ou Barbarie begründet, an der sich Lyotard dann einige Jahre später ebenfalls beteiligte. Wie Castoriadis in einem frühen Interview für Telos (Nr. 23, März 1975) festhielt, war Socialisme ou Barbarie ein Vorläufer der Neuen Linken und ein Vehikel für jene Aktivist:innen in Frankreich, die sich vom Trotzkismus weg bewegten und zugleich auf der demokratischen Linken blieben. Dieser Ansatz passte auch zur Neuen Linken, die im Telos-Projekt verbunden war – zur kritischen Theorie und einer demokratischen Orientierung – und diese Begegnungen ebneten den Weg zu langen, tiefen Freundschaften und einem überaus fruchtbaren intellektuellen Austausch.

Neben den Werken von Lefort und Habermas (einem Gleichgesinnten in Deutschland, dessen kritische Theorie für die Telos-Gruppe von Bedeutung war) hatte Castoriadis‘ Einsatz für das demokratische Projekt – brillant dargelegt in seiner maßgebenden Arbeit Gesellschaft als imaginäre Institution (1975) – einen wichtigen Einfluss auf das Denken vieler im Kreis der Zeitschrift und auf der Linken im weiteren Sinne. Castoriadis war zu diesem Zeitpunkt sicherlich bereits einer der großen Demokratie-Theoretiker des 20. Jahrhunderts. Er verkörperte den Umbruch von der alten zur Neuen Linken und seine eigene Art des Neo- und dann Post-Marxismus war durchdrungen von einer tiefen Sorge um das Politische im Allgemeinen und die Demokratie im Besonderen. Diese Sorge hatte er mit Lefort und Habermas, dem nach wie vor herausragenden links-demokratischen kritischen Theoretiker in Deutschland, gemeinsam. In der Tat waren es diese Bemühungen, aus der linken sozialistischen und marxistischen Tradition heraus das Politische und die Demokratie neu zu denken, die den größten Einfluss auf meine eigene theoretische Laufbahn und meine Vorstellungen hatten. Was auch immer ihre Unterschiede waren, so verstanden alle drei – Castoriadis, Lefort und Habermas – die Demokratie als eine vérité à faire: als ein unabgeschlossenes Projekt, das es zu verteidigen gilt und das, im Zusammenspiel mit einer Ausweitung sozialer Gerechtigkeit und Inklusion, ständig kreativ weiterentwickelt werden muss.

Was jedoch Castoriadis von anderen Ansätzen unterschied, war sein Bekenntnis zur demokratischen Autonomie nicht nur auf der Ebene von alltäglicher Politik, sondern auch hinsichtlich der politischen Konstitution von Gesellschaft als solcher. Anders ausgedrückt versuchte Castoriadis, die Bedeutung von kollektiver Autonomie und Demokratie im Lichte dessen zu konzeptualisieren, was er als ‚die imaginäre Institution der Gesellschaft‘ bezeichnete: einer Ebene, die heute als Ausnahmepolitik (politics of the extraordinary) bekannt ist. Sie beinhaltet Verfassungspolitik sowie die Politik der konstituierenden Macht (für Castoriadis die ‚instituierende Macht‘) ist aber wiederum nicht auf sie reduzierbar. Worum es Castoriadis geht, ist unsere aktive Beteiligung am Imaginären – unser Verhältnis zum radikalen sozialen Imaginären einerseits und dem instituierten sozialen Imaginären andererseits.

Castoriadis‘ Rückgriff auf den Begriff des Imaginären und seine Betonung der Kreativität des radikalen sozialen Imaginären waren herausragende Beiträge zur politischen und demokratischen Theorie. Die imaginäre Dimension in Castoriadis‘ Sinn bezieht sich auf die Schöpfung von Bedeutungen, die den Institutionen, Gesetzen, Normen, der Kultur usw. einer Gesellschaft überhaupt erst ihre Form und ihren Sinn verleihen. Diese imaginären Bedeutungen sind sozial, da sie von einem unpersönlichen anonymen Kollektiv instituiert und geteilt werden; sie können jedoch keinesfalls einem bestimmten Makrosubjekt oder einer Gruppe von Individuen zugeschrieben werden. Das sozial-historische Feld, in dem soziale imaginäre Bedeutungen aufkommen, ist nicht auf den Willen einer Gruppe reduzierbar: Individuen und Gruppen sind selbst bereits die Produkte eines Sozialisierungsprozesses, der sie in das bereits instituierte Imaginäre der Gesellschaft einfügt. Gleichzeitig bleibt die radikale Dimension des instituierenden Imaginären in jeder Gesellschaft am Werk, unabhängig davon, wie sehr auch versucht wird, sie zu unterdrücken.

Das radikale Imaginäre betrifft die Schöpfung ‚ex nihilo‘ von neuen Bedeutungen und Formen. Ja selbst die Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit kann niemals von etwas abgeleitet werden, was diesem Schöpfungsakt vorausginge. Doch bei der Idee einer Schöpfung ‚ex nihilo‘ ist Vorsicht geboten: Was dieser Ausdruck bezeichnet, ist, dass Schöpfung niemals von etwas abgeleitet oder gefolgert werden kann, was angeblich vorausginge (die Vorstellungskraft, nicht deduktive Logik liegt ihr zugrunde). Nicht gemeint ist eine Schöpfung ohne jede Begrenzung (in sozialer, historischer, psychischer oder ökologischer Hinsicht). Laut Castoriadis ist Gesellschaft als ein Prozess der Selbstschöpfung zu verstehen: Sie ist selbstinstituiert und daher zur Selbständerung befähigt. Die instituierte Gesellschaft, in die Individuen hineingeboren werden, war selbst immer schon das Erzeugnis eines radikalen instituierenden Imaginären – das heißt unser Erzeugnis, das wir verändern können, denn Sozialisierung ist niemals abgeschlossen (weder auf der individuellen noch auf der Gruppenebene). Die Unterdrückung des kreativen radikalen Imaginären kann niemals vollständig gelingen. Das bedeutet wiederum, dass die instituierte Gesellschaft ständig einem unterirdischen Druck ausgesetzt ist, welcher der instituierenden Gesellschaft und dem radikal kreativen sozialen Imaginären entspringt.

Wie können wir aus dieser Perspektive über die Demokratie nachdenken? Wie ich an anderer Stelle argumentiert habe, ist es Castoriadis hoch anzurechnen, dass er die Dynamiken der imaginären Institution von Gesellschaft für das Verständnis von Demokratie und politischer Autonomie hervorgehoben hat, ohne dabei Illusionen von Voluntarismus, Transparenz, Rationalismus oder einem historischen bzw. strukturalistischen Determinismus zu verfallen. Seine zentralen Begriffe (Autonomie, Selbstinstitution, Politik und das Politische, Demokratie) betonen allesamt, dass wir die Quelle all unserer Bedeutungen, Institutionen, Sinnzusammenhänge, Normen, etc. sind, die das Leben der Gesellschaft und der sie konstituierenden konkreten Individuen durchdringen und ordnen. Gegenüber den gegebenen sozialen imaginären Institutionen, Normen und Werten können wir dabei allerdings entweder eine heteronome oder eine autonome Beziehung unterhalten: Entweder versuchen wir den Schöpfungsakt des radikalen sozialen Imaginäre zu verbergen und zu verleugnen, indem wir den Ursprung der Gesetze und Institutionen einer externen, meta-sozialen Quelle zuschreiben und ihnen damit eine vermeintlich transzendente Gültigkeit unterstellen, die ihren Sinn abschließend festschreiben und ihre Befragung zum Erliegen bringen will. Oder wir entwickeln eine ‚andere Beziehung‘ zu unseren politischen und sozialen Institutionen – eine autonome Beziehung. Wenn wir der besten Interpretation von Castoriadis Autonomie-Begriff folgen, dann meint Autonomie die explizite und unbegrenzte Befragung des Gegebenen und die reflektierende bzw. reflexive Beziehung der Gesellschaft zu ihren Institutionen, Gesetzen und ihrem instituierten Imaginären. Autonomie beinhaltet somit das Infragestellen ererbter Schöpfungen und sozialer imaginärer Bedeutungen und den Versuch, sie zu verbessern, indem wir ihnen neue oder zusätzliche Formen und Bedeutungen zur Seite stellen – jedoch ohne Transparenz-Illusionen was das instituierte Imaginäre angeht oder Voluntarismus-Illusionen bezüglich der instituierenden Aktivität.

Kurz gesagt ist eine autonome Beziehung zur Institution von Gesellschaft jene Beziehung, die dem Abschluss von Sinngebung im Namen von Offenheit und Reflexivität widersteht. Eine autonome Gesellschaft erlaubt die Freiheit der Infragestellung, der Innovation, der Veränderung und zugleich ein Bewusstsein, dass Veränderung auch möglich ist. Eine demokratische autonome Gesellschaft erlaubt ihren Mitgliedern freie und gleiche Beteiligung im Prozess der Selbstinstitution und zwar sowohl in alltäglicher Politik als auch in Momenten des Ausnahmezustands (ordinary und extraordinary politics). Meiner Meinung nach pocht die beste Interpretation von Castoriadis Autonomie-Begriff auf die bewusste Schöpfung und Transformation des politischen Lebens, ohne dabei der Hybris anheim zu fallen, alles immer für verfügbar oder möglich zu halten oder zu glauben, dass wir von unserer Lebenswelt und unserer historischen Situiertheit abstrahieren könnten, wenn wir neue imaginäre Bedeutungen und neue politische Formen in die Welt setzen. Wie bereits gesagt, ist es deshalb wichtig, dass Castoriadis die soziale oder politische Autonomie keineswegs als vollständige Transparenz oder einen bloßen Willensakt versteht. Genauso wichtig ist es, dass er es vermeidet, eine solche Kreativität einem kollektiven Makrosubjet oder gar einem individuellen Führer zuzuschreiben. Eine Gesellschaft ist autonom, wenn sie in der Lage ist, die zentralen Dimensionen ihrer sozialen imaginären Institution in Frage zu stellen und wenn sie sich zugleich reflexiv darüber bewusst ist, dass sie es selbst war – und nicht Gott, die Natur oder Geister – die ihre Gesetze gemacht hat. 

Castoriadis‘ mehrdeutige Formulierungen sind sicher mit dafür verantwortlich, dass einige Leser:innen seine Begriffe und besonders sein Verständnis von Demokratie auf weniger großzügige Weise interpretiert haben. Ich nenne hier nur ein Beispiel: Anstatt den Schluss zu ziehen, dass keine einzige Institutionalisierung von Demokratie als sakrosankt zu verstehen sei und eine Pluralität von institutionellen und nicht-institutionellen Formen der politischen Partizipation und des Handelns als Instanzen demokratischer Demokratie zu gelten haben, so lange sie revidierbar bleiben und größere Inklusion erzeugen, so verstand Castoriadis (wie Rousseau vor ihm) die repräsentative Regierungsform als notwendigerweise anti-demokratisch und der Volkssouveränität und der Selbstregierung entgegengesetzt. Mit dieser Sichtweise ist er in die Falle getappt, den Gedanken der direkten Volksherrschaft, aufbauend auf dem idealisierten griechischen Modell der Versammlungsherrschaft durch das gesamte Volk, zu wörtlich zu nehmen. Er vergisst so die notwendigen Vermittlungsinstanzen, ohne die keine Demokratie auskommen kann. Es ist eine Sache, existierende Formen der repräsentativen Demokratie durch eine Vielzahl an zusätzlichen Partizipationsmöglichkeiten zu ergänzen und zu verbessern. Es ist allerdings eine ganz andere Sache, die repräsentative Demokratie als zwangsläufig heteronom zu verwerfen. Diese zweite Lesart von Demokratie entstammt vielleicht Castoriadis‘ Vorliebe für die Politik der Ausnahmezustände, für die ‚Revolution‘ und die Aktivität der instituierenden Macht. Aber zum einen würde ich selbst auf dieser Ebene behaupten, dass Vermittlung und Repräsentation immer notwendig und wünschenswert bleiben. Zum anderen kann die instituierende Macht sehr wohl auf der Ebene von alltäglicher Politik (ordinary politics) ihren Platz finden, wie innovative, jedoch nicht-revolutionäre soziale Bewegungen deutlich machen.

Anlässlich von Castoriadis‘ 100. Geburtstag möchte ich diesen Beitrag gerne auf persönliche Weise abschließen. Wir waren und blieben bis zum Ende seines Lebens gute Freunde. Ich werde die herrlichen Abende in seinen verschiedenen Wohnungen in Paris (am Quai Anatole France, später dann im 16. Arrondissement) nie vergessen: Seine Frau und er servierten erst ein wunderbares Abendessen und wir zogen uns dann in den Salon zurück, um Billie Holiday und Cool Jazz zu hören und seinen Lieblings-Scotch (Chivas Regal) zu trinken. Castoriadis war eine riesige Persönlichkeit mit einem ganz wunderbaren Sinn für Humor und einem sprühenden Geist: Er stach auf Parties heraus, spielte oft selbst Jazz-Piano, liebte das Leben und genoss es in vollen Zügen. Für mich wird Paris ohne ihn niemals mehr so sein wie zuvor.

(aus dem Englischen übersetzt von Niklas Plätzer)

Jean Louise Cohen ist Nell and Herbert Singer Professor of Political Theory and Contemporary Civilization an der Columbia University, Department of Political Science. Sie ist die Autorin zahlreicher Bücher und Artikel; zuletzt erschienen ist von ihr Populism and Civil Society: The Challenge to Constitutional Democracy (Oxford, 2022), gemeinsam verfasst mit Andrew Arato. Zudem ist sie die Mitherausgeberin der Zeitschrift Constellations. Zurzeit arbeitet Jean Cohen an einer Theorie hybrider Regime im Verhältnis zur Demokratie.


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