theorieblog.de | Nachruf auf Georg Lohmann (1948-2021)

17. Dezember 2021, Ladwig

Der Philosoph Georg Lohmann ist am 4. Dezember 2021 nach langer Krankheit gestorben. Er lehrte und forschte seit 1996 als Professor für Praktische Philosophie an der Otto-von-Guericke Universität in Magdeburg. Vier Jahre lang, von 2000 bis 2004, durfte ich dort als wissenschaftlicher Assistent mit ihm zusammenarbeiten. Einen besseren, faireren, freundlicheren Chef hätte ich mir nicht wünschen können. Er begegnete mir immer auf Augenhöhe, hielt mir den Rücken für meine eigene Forschung frei und nahm mir selbst lautstark ausgetragene Auffassungsunterschiede nicht übel, weil für ihn das Herz der Philosophie im argumentativen Streit schlug.

Lohmann forschte zu Marx, zu Moral, zu Menschenrechten und zu Gefühlen. Vier Philosophen haben ihn auf seinem Weg besonders beeindruckt: Michael Theunissen, Ernst Tugendhat, Jürgen Habermas und Wilhelm Busch. Bei Theunissen wurde er mit einer Arbeit zu Marx promoviert. Lange arbeitete er mit seinem Mentor als Assistent und später als Oberassistent am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin zusammen. Mein Eindruck ist, dass ihm Theunissen den Sinn für hermeneutische Sorgfalt, die phänomenologische Eindringlichkeit und die Freude an einem disziplinär ungezähmten spekulativen Denken mitgegeben hat. Tugendhat hingegen beindruckte ihn durch begriffliche Genauigkeit und die jedem Begründungsfundamentalismus abholde Herangehensweise an die praktische Philosophie.

Für Tugendhat wie für Lohmann ist eine Philosophie praktisch nur insofern, als sie auch die Motivationsfrage zu beantworten vermag: Was sollte mich dazu bewegen, moralisch zu urteilen und zu handeln? Absolute Gründe, die mit einer zwingend gerechtfertigten Konzeption der Moral zugleich auch alle Akteure auf deren Befolgung festlegen, stehen uns nicht zur Verfügung. Zur modernen Moral gehört ein irreduzibles Wollen, ohne das ihr Sollen ohnmächtig bliebe. Moralisch ist dieses Wollen, wenn es in der Bereitschaft zu unparteiischem Urteilen besteht. Lohmann verstand darunter das immer fehlbare Bemühen, für Entscheidungen, die mehrere Parteien betreffen, rechtfertigende Gründe zu geben, die alle akzeptieren können.

Zweierlei zeichnet nach Lohmann die moderne Moral aus: ihr Universalismus einer gleichberechtigen Einbeziehung aller Menschen (von einer Ausweitung auch auf Tiere konnte ich ihn leider nicht überzeugen) und ihre Wertschätzung individueller Selbstbestimmung. Diese nur der Genese nach „westliche“ Moral einer gleichen Achtung aller verteidigte Lohmann auch in Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen aus nichtwestlichen Gesellschaften wie China und dem Iran. Dabei leitete ihn die Überzeugung, dass moderne Gesellschaften ihre inneren wie äußeren Verhältnisse nur mehr im Medium eines Rechts legitim regeln können, dessen Kern die völkerrechtlich kodifizierten Menschenrechte bilden.

Tief beeindruckt und anhaltend beschäftigt hat ihn die Habermassche These einer Gleichursprünglichkeit von Menschenrechten und Demokratie. Er sah freilich die Gefahr, dass Habermas die Menschenrechte einzig als juridische Rechte verstehe und ihren auch moralischen Charakter verkenne. Dieser Gefahr wollte er entgegenwirken, ohne in einen moralischen Begründungsfundamentalismus zurückzufallen. Aus der universalistischen Moral gleicher Achtung und der Wertschätzung individueller Autonomie geht demnach zwar hervor, warum wir einander gleiche Rechte einräumen sollten. Aber dieser moralische Ausgangspunkt verweist von sich aus auf positives Recht und demokratische Politik. Die nur moralisch begründeten Rechte blieben praktisch schwach und inhaltlich unterbestimmt. Sie müssen daher durch Positivierung zur Geltung gebracht und im demokratischen Prozess konkretisiert werden.

Diese Überzeugung prägte auch den Kurs „The Diversity of Human Rights“, den Georg am Inter-University Centre Dubrovnik ins Leben rief. Er wollte damit wohl auch die Erfahrung diskursiven Philosophierens unter sonnigem Himmel, die er als junger Mann mit Habermas an eben diesem Ort machen durfte, an Jüngere wie mich weitergeben. Mit „Diversity“ war mindestens zweierlei gemeint: die irreduzible Mehrzahl fachlicher Perspektiven auf Menschenrechte und die Existenz mehrerer Typen oder Generationen von Rechten, von den bürgerlichen über die politischen bis zu den sozialen und kulturellen Rechten. Lohmann legte daher als Gastgeber des Kurses größten Wert auf Interdisziplinarität und insbesondere auf die Mitwirkung hervorragender Juristinnen und Juristen wie Anne Peters, Tatjana Hörnle und Stefan Huster.

Inhaltlich blieben für ihn die von Habermas gestellten Fragen maßgeblich: Setzen sich Menschenrechte und Demokratie wirklich wechselseitig voraus? Wie ist die Stellung der Rechte zwischen Moral und Recht zu bestimmen? Erfährt das Völkerrecht eine Konstitutionalisierung? Auch später, als der Kreis der Direktoren sich veränderte und erweiterte – auch mich machte er zum Co-Direktor, um meine Bewerbungschancen zu verbessern –, blieb Lohmann der Spiritus Rector und gute Geist des Kurses. Er hat ihn mit seiner Wissbegierde, seiner Diskussionsfreudigkeit und seiner Menschlichkeit beseelt und die gemeinsame Zeit in der schönen, alten Stadt für mich unvergesslich gemacht.

Vor allem aber erinnere ich mich an ihn als schalkhaften Menschen voller Lebensfreude. Hier kommt Wilhelm Busch ins Spiel. Dessen bisweilen ins Bösartige spielender Humor kam zwar aus den Tiefen eines Schopenhauerschen Pessimismus, in die ihm Lohmann nicht folgen mochte. Aber den philosophischen Wert des Witzes hielt er hoch. Zu Streichen war er immer aufgelegt, auch wenn sie Gott sei Dank weit diesseits des Sadismus blieben, in den sich Buschs Bilderbuchhelden hineinzusteigern pflegten. Lohmanns Humor war die humane Grundierung seines Philosophierens, das er ernsthaft und manchmal stur, aber nie verbissen und gegen Andersdenkende unversöhnlich betrieb.

Georg Lohmann blieb jungenhaft, auch als sein alternder Körper ihn zunehmend im Stich ließ. Jetzt ist er viel zu früh gegangen. Ich trauere um einen wunderbaren Menschen, der mich freundschaftlich gefördert hat und mir ein Vorbild bleiben wird.

 

Bernd Ladwig ist Professor für Politische Theorie und Philosophie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.


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