Utopie trifft Realismus: Rawls’ Konzeption idealer und nicht-idealer Theorie

John Rawls’ Theory of Justice avancierte nicht nur aufgrund von mittlerweile weithin bekannten theoretischen Innovationen, wie etwa dem Urzustand oder dem Schleier des Nichtwissens, zu einem der einflussreichsten Werke der politischen Theorie und Philosophie der letzten Jahrzehnte. Es enthält auch etliche weitere Ideen, die das normative politische Denken geprägt haben. Eine dieser Ideen ist die Unterteilung in ideale und nicht-ideale Theorie, die Rawls eher beiläufig in seinem Buch einführt. Insbesondere seine Vorstellung von idealer Theorie hat sich nach der Veröffentlichung der Theory of Justice zu einem dominanten Ansatz der normativen politischen Theorie und Philosophie entwickelt. Eine inhaltliche Debatte um die Unterteilung und ihre Implikationen setzte jedoch erst Anfang der 2000er-Jahre insbesondere mit der Kritik an der idealtheoretischen Ausrichtung der politischen Theorie und Philosophie ein. Diese Debatte berührt Grundfragen bezüglich der Art und Weise, wie politische Theorie und Philosophie betrieben werden sollten, insbesondere im Hinblick auf die Erörterung und normative Beurteilung politisch-praktischer Fragen. In meinem Beitrag will ich diese Debatte etwas näher beleuchten und einen Ausblick auf Möglichkeiten einer stärker praktisch beziehungsweise kritisch orientierten Ausrichtung des normativen politischen Denkens geben, die sich jedoch nach wie vor in dem von Rawls gesetzten Rahmen bewegen.

Mit der Unterteilung in ideale und nicht-ideale Theorie formuliert Rawls einen neuen Ansatz zur Bearbeitung eines alten Problems der praktischen Philosophie: Sollen normative Prinzipien und/oder Handlungsempfehlungen ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Motive von Akteur*innen formuliert werden oder sollen sie so formuliert werden, dass ihre Befolgung möglichst wahrscheinlich wird?[1] Im letzteren Fall müssen inhaltliche Kompromisse mit dem gesellschaftlichen Status quo eingegangen werden, indem moralische Prinzipien an bestehende Überzeugungen und Motivlagen angepasst werden. Hieraus entsteht ein Dilemma für normative Theoretiker*innen: Sollen sie Kompromisse mit den herrschenden Ansichten und Einstellungen eingehen, um die praktische Relevanz der Grundsätze zu erhöhen, oder sollen sie eher darauf achten, moralische Prinzipien nicht zu verwässern? Die Frage der Relevanz von motivationalen Restriktionen stellt sich etwa, wenn man überlegt, ob aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht große materielle Opfer von wohlhabenden Menschen verlangt werden dürfen, um hungernden Menschen zu helfen, und wurde unter anderem im Hinblick auf anspruchsvolle utilitaristische Moralkonzeptionen diskutiert.[2]

Mit der Zweiteilung in ideale und nicht-ideale Theorie führt Rawls eine Unterscheidung in das politische Denken ein, die als Versuch einer Antwort auf das oben beschriebene Dilemma normativer Theorie gelesen werden kann – auch wenn Rawls selbst nicht explizit hieran anknüpft. Durch die Unterteilung in zwei sich ergänzende Theorieebenen wird das Dilemma zumindest entschärft: Ideale Theorie formuliert ambitionierte normative Ideale, wie etwa Rawls’ eigene Gerechtigkeitsprinzipien, die Kriterien für eine gerechte Gesellschaft bereitstellen, und entwirft ideale Gesellschaftsordnungen, die diese Prinzipien so weit wie möglich erfüllen. Nicht-ideale Theorie hingegen gibt Antworten auf die Frage, was getan werden sollte, wenn sich das Ideal als nicht realisierbar erweist, etwa weil es von zu wenigen Individuen unterstützt wird. Bei der Beantwortung dieser Frage orientiert sich nicht-ideale Theorie im Sinne von Rawls an Prinzipien idealer Theorie. Auch zur Beantwortung der Frage, wie sich unter Bedingungen der Ungerechtigkeit möglichst gerecht handeln lässt, dient uns das Ideal einer gerechten Gesellschaft als Maßstab. Ideale Theorie kann moralische Ideale ohne Kompromisse mit einem ungerechten Status quo formulieren, während nicht-ideale Theorie die Restriktionen des ungerechten Status quo berücksichtigt – allerdings aus der Perspektive eines bestimmten normativen Ideals. Auf diese Weise werden moralische Ideale weder verwässert noch muss auf Praxiswirksamkeit verzichtet werden. Indem wir uns bei unseren praktischen, kontextsensiblen Überlegungen von ambitionierten moralischen Idealen anleiten lassen, können wir nach den besten Strategien zur Herstellung eines gerechten Zustands suchen.

Beispielsweise können ideale Prinzipien zur Identifikation von Gerechtigkeitsdefiziten unter nicht-idealen Bedingungen herangezogen werden, indem man die bestehenden Zustände mit dem Ideal vergleicht. Allerdings können sich bei der Umsetzung der Gerechtigkeitsprinzipien unter nicht-idealen Bedingungen abweichende Prioritäten ergeben. Rawls’ Beispiel hierfür ist der von ihm postulierte Vorrang der Grundfreiheiten in seinen idealen Gerechtigkeitsprinzipien. Dieser gilt unter nicht-idealen Bedingungen jedoch nur, sofern die ökonomischen Umstände dergestalt sind, dass die materiellen Grundbedürfnisse aller Individuen erfüllt sind.[3]

Dennoch ist in den meisten Fällen eine Orientierung am Ideal sinnvoll: Unter nicht-idealen Bedingungen soll neben der unmittelbaren Verbesserung von Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen versucht werden, langfristig das Ideal zu realisieren. Aus diesem Grund ist eine Beschäftigung mit idealer Theorie notwendig – auch wenn nicht-ideale Theorie die scheinbar drängenderen Fragen aufwirft.[4]

Die Relevanz idealer Theorie für die Beantwortung praktischer Fragen nicht-idealer Theorie lässt sich gut anhand einer Analogie veranschaulichen:[5] Man kann sich eine ideale Theorie als eine Art Bauplan für ein optimales Gebäude vorstellen, der sämtliche Informationen darüber enthält, wie das Gebäude aussehen soll, aus welchen Komponenten es sich zusammensetzen soll und wie diese Komponenten zusammen ein stabiles und funktionales Ganzes ergeben. Wie oben bereits gesagt, geht ideale Theorie allerdings nicht davon aus, dass das von ihr formulierte Ideal einer gerechten Gesellschaft unmittelbar realisierbar sein muss. Es handelt sich also um einen Bauplan für ein Gebäude, für dessen Errichtung wir bei Baubeginn noch nicht über genügend Ressourcen verfügen oder über dessen konkrete Ausgestaltung es noch keinen Konsens unter den Eigentümer*innen gibt. Trotzdem – so zumindest sieht es Rawls’ Vorstellung nicht-idealer Theorie vor – sollte der ideale Bauplan, von dem wir überzeugt sind, dass er das bestmögliche Gebäude für unsere Zwecke darstellt, von Beginn an den Bau anleiten.

 

Die Diskussion um die praktisch-politische Relevanz idealer Theorie für nicht-ideale Theorie

Nach der Veröffentlichung der Theory of Justice entwickelte sich Rawls’ Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie mit der Zeit zu einer Art unhinterfragtem Referenzpunkt für die politische Theorie und Philosophie. Das änderte sich jedoch Anfang des neuen Jahrtausends. Seitdem wird insbesondere Rawls’ Konzeption idealer Theorie zunehmend kritisch diskutiert. Die Kritik speist sich nicht zuletzt aus einer generellen Unzufriedenheit mit der Art und Weise, wie politische Philosophie und Theorie betrieben werden. Für Unmut sorgen insbesondere die vorherrschende Konzentration auf abstrakte Fragen der Gerechtigkeit und die Vernachlässigung drängender praktischer Fragen, wie etwa die Bekämpfung von Rassismus oder sozialer Ungleichheit. Nicht wenige Kritiker*innen führen diese Verengung des politischen Denkens auf die Dominanz von Rawls’ Konzeption idealer Theoriebildung zurück.

Dementsprechend werden in der Diskussion um ideale und nicht-ideale Theorie auch disziplinstrategische Aspekte erörtert. So fürchten einige Theoretiker*innen, dass eine zu starke Fokussierung auf ideale Theorie dazu führt, dass drängende gesellschaftliche Probleme nicht adäquat im Rahmen der politischen Theorie thematisiert werden. Sie fordern deshalb eine stärkere Fokussierung auf nicht-ideale Theorie, die Lösungen für politische Herausforderungen erörtert und diese nicht zugunsten der Auseinandersetzung mit normativen Idealvorstellungen ausblendet.[6] Diese Argumentation unterschätzt allerdings das kritische Potenzial idealer Theoriebildung. Drängende gesellschaftliche Probleme, wie etwa Rassismus oder soziale Ungleichheit, können durchaus auch auf der Ebene idealer Theorie bearbeitet werden. Viele der Idealisierungen, die bei der Konstruktion idealer Theorien angenommen werden, können bei deren praktischer Anwendung wieder zurückgenommen werden.[7] Auch wenn ideale Theorie manche der praktisch-politischen Probleme nicht-idealer Theorie nur indirekt zum Gegenstand hat, können idealtheoretische Überlegungen dennoch Anlass für Gesellschaftskritik liefern. Beispielsweise können Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipien oder die Perspektive des Urzustands zur Identifikation von Gerechtigkeitsproblemen in nicht-idealen Kontexten herangezogen werden. Ideale Theorie kann außerdem dazu motivieren, für Veränderungen einzutreten, etwa, indem Ungerechtigkeiten durch den Vergleich mit einem realistischen Ideal als veränderbar aufgedeckt werden. Durch die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität entsteht dann ein Einfallstor für Kritik an den existierenden gesellschaftlichen Verhältnissen.[8]

Allerdings werden bestimmte Aspekte gesellschaftlicher Probleme in idealer Theorie nicht bearbeitet: Ideale Theorie präsentiert Lösungsvorschläge – und zwar unter der Annahme, dass der politische Wille besteht, diese Vorschläge ernst zu nehmen und zu implementieren. Sie liefert normative Maßstäbe (ideale Prinzipien) und Modelle für konkrete institutionelle Arrangements (ideale Institutionen). Das bedeutet, dass ideale Theorie prinzipielle und institutionelle Lösungen für gesellschaftliche Probleme präsentiert, aber keine politischen Strategien zu deren Implementierung unter nicht-idealen Bedingungen mitliefert. Ideale Theorie fragt nämlich durchaus, mit Hilfe welcher Einrichtungen oder Regelungen sich Missstände wie Rassismus oder exzessive soziale Ungleichheit in einer idealen Gesellschaft unterbinden lassen;[9] sie gibt jedoch keine Antwort auf die Frage, welche politischen Strategien in verschiedenen Kontexten zur (näherungsweisen) Realisierung der idealen Gesellschaftsordnung vonnöten wären. Rawls sieht beispielsweise die Aufgabe idealer Institutionen darin, nicht nur eine faire Ausgangsverteilung zu realisieren, sondern auch sicherzustellen, dass diese über die Zeit hinweg aufrechterhalten werden kann. Allerdings liefert seine ideale Theorie keine Anleitung zur Realisierung einer solchen Gesellschaft.

Die fehlende Praxisrelevanz politischen Denkens ist jedoch insgesamt weder auf Rawls’ Konzeption politischen Denkens noch auf die von ihm vorgeschlagene Aufspaltung in ideale und nicht-ideale Theorie zurückzuführen. Idealtheoretische Überlegungen können für praktische Fragen nicht-idealer Theorie nutzbar gemacht werden. Der konstatierte Mangel an der Erörterung praktischer Fragen könnte vielmehr damit zusammenhängen, dass deren Beantwortung häufig nach einer Verknüpfung abstrakter gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen mit empirischen Befunden aus unterschiedlichen Disziplinen verlangt, was einen hohen Forschungsaufwand erfordert.

 

Die komparative Kritik an idealer Theorie

Es gibt jedoch auch grundlegendere Kritik an Rawls’ Idee der Zweiteilung politischer Theorie und Philosophie in ideale und nicht-ideale Theorie. Diese Kritik kann grob in zwei Lager unterteilt werden, auch wenn sich die Kritikpunkte teilweise überschneiden. Auf der einen Seite kommt Kritik aus dem realistischen Lager, für das hier exemplarisch Raymond Geuss stehen soll.[10] Die Vertreter*innen dieser Richtung unterstellen idealer Theorie einen ideologischen Charakter und infolgedessen eine mangelnde Eignung zur Identifikation oder Lösung konkreter politischer Probleme. Geuss zielt mit seiner Ideologiekritik auf den Kern von Rawls’ Konzeption politischen Denkens: Wenn sich in die Prämissen idealer Theorie ideologische Annahmen einschlichen, könne es leicht passieren, dass idealtheoretische Gesellschaftsentwürfe Ungerechtigkeiten reproduzieren, statt zu ihrer Aufklärung beizutragen. Auf der anderen Seite kommt Kritik aus dem komparativen Lager um Amartya Sen.[11] Diese Kritik zielt vor allem auf die von Rawls behauptete Relevanz idealer Theorie für die Beantwortung von Fragen nicht-idealer Theorie und plädiert für einen Fokus auf nicht-ideale Theorie – allerdings ohne idealtheoretische Orientierungshilfe.

Ich werde in diesem Abschnitt zunächst auf die Kritik aus dem komparativen Lager eingehen und anschließend die realistische Perspektive diskutieren. Zuvor möchte ich jedoch mit einem weitverbreiteten Missverständnis aufräumen: Ideale Theorie erfordert nicht die vollständige Ausblendung jeglicher Restriktionen, die der Realisierung von Gerechtigkeit entgegenstehen.[12] Zwar gehen wir bei der Konstruktion von idealen Prinzipien und idealen Institutionen davon aus, dass wir gerechte Institutionen realisieren können. Wir gehen jedoch auch davon aus, dass Individuen Anreize benötigen, um die Regeln einer gerechten Gesellschaft zu befolgen. Dementsprechend versuchen wir, ideale Institutionen adäquat zu konzipieren – etwa in Form eines CO2-Preises, der effektive Anreize für nachhaltiges Konsumverhalten setzt. Folglich müssen gerechte Institutionen auch nach Rawls so ausgestaltet sein, dass sie berücksichtigen, wie Individuen auf verschiedene Anreize, etwa den Preis von CO2, reagieren. Dieser Preis müsste in einer idealen Gesellschaft so gesetzt werden, dass der Verbrauch von Ressourcen nachhaltig und fair verteilt ist. Das heißt, wir können für die Konstruktion einer klimagerechten Gesellschaft beispielsweise nicht davon ausgehen, dass unbegrenzt Energie zur Verfügung steht oder dass Individuen ihren Konsum freiwillig und ohne entsprechende Anreize auf ein nachhaltiges Maß reduzieren. Rawls bezeichnet das Set an Restriktionen, das in idealer Theorie beachtet werden soll, als die „Umstände der Gerechtigkeit“. Diese beinhalten unter anderem die Annahme moderater Ressourcenknappheit sowie realistische psychologische und soziologische Annahmen über das Verhalten von Personen und das Funktionieren menschlicher Gesellschaften.[13]

Von komparativer Seite werden vor allem Zweifel an der Relevanz gesellschaftlicher Idealvorstellungen zur Beurteilung konkreter politischer Maßnahmen und Strategien im Status quo vorgebracht. Das bedeutet, dass wir nicht-ideale Theorie betreiben könnten, ohne uns an idealer Theorie orientieren zu müssen. Was wir im Hier und Jetzt tun sollten, um Ungerechtigkeit zu begegnen, sei unabhängig davon, wie eine ideale Gesellschaft aussieht. Sen versucht dies anhand einer Analogie zu zeigen: Um die Höhe zweier Berge in den Alpen zu vergleichen, müssten wir nicht wissen, wie hoch der höchste Berg der Erde, der Mount Everest, ist.[14] Hieraus schließt Sen, dass auch eine Beurteilung der Gerechtigkeit verschiedener nicht-idealer Alternativen ohne Berücksichtigung einer vollkommen gerechten Gesellschaft möglich sei. Deshalb schlägt er vor, aktuelle Gerechtigkeitsdefizite anhand des Vergleichs realisierbarer Lösungsansätze ohne Berücksichtigung eines Ideals zu bearbeiten.

Übertragen auf unsere Analogie bezweifelt diese Kritik also, dass der Bauplan eines idealen Gebäudes für die Arbeiten an einem realen Gebäude unter nicht-idealen Bedingungen relevant ist. Auf den ersten Blick ist das ein plausibler Einwand: Warum sollten wir einen Bauplan verwenden, von dem wir zwar vermuten, dass er langfristig umsetzbar ist, für dessen Umsetzung wir aber aktuell nicht genügend Ressourcen zur Verfügung haben? Wäre es in diesem Fall nicht besser, ein Gebäude zu planen und zu bauen, das mit Rücksicht auf die aktuell verfügbaren Mittel unsere Zwecke am besten erfüllt? Diese Argumentation übersieht jedoch einen wichtigen Punkt: Wenn bestimmte Bauentscheidungen erst einmal getroffen wurden, lassen sie sich, wenn überhaupt, nur noch mit großem Aufwand rückgängig machen. Wird der Bauplan für das ideale Gebäude bei den laufenden Arbeiten nicht berücksichtigt, läuft man also Gefahr, sich den Weg zum idealen Gebäude zu verbauen – etwa, weil man einen anderen Grundriss verwendet oder tragende Bauteile nicht für größere Belastungen ausgelegt hat. Das hätte zur Folge, dass sich das ideale Gebäude selbst dann nicht mehr errichten ließe, wenn zu einem späteren Zeitpunkt doch noch genügend Ressourcen vorhanden sein sollten. Ideale Theorie kann also dazu beitragen, die richtigen Ziele im Blick zu behalten und irreversible Entscheidungen zu verhindern, die das Erreichen dieser Ziele erschweren oder verunmöglichen würden.

Was in der Analogie ebenso wie in Sens Beispiel des Höhenvergleichs nur unzureichend zur Geltung kommt, sind die langfristige Unvorhersagbarkeit und Wandelbarkeit politischer Entscheidungen und Restriktionen. Wollte man diese angemessen berücksichtigen, müsste man die Analogie um zwei wichtige Komponenten erweitern: Es würde bedeuten, dass wir bei Baubeginn noch gar nicht genau wissen, welche Ressourcen wir zur Verfügung haben werden und ob die Eigentümer*innen ihre Präferenzen während des Baus nicht doch noch ändern. Zusätzlich ignoriert Sens Analogie das bereits erwähnte Problem der Pfadabhängigkeit politischer Entscheidungen, dem zufolge die Durchführung bestimmter politischer Maßnahmen die Realisierung ähnlicher politischer Maßnahmen in der Zukunft wahrscheinlicher macht – und andere erschwert oder ausschließt.[15] Pfadabhängigkeit bedeutet also, dass politische Maßnahmen nicht nur Auswirkungen auf die Gegenwart haben, sondern auch die Weichen dafür stellen, wie diese Probleme zukünftig gelöst werden. Der von Sen empfohlene komparative Ansatz, dem es um die Verwirklichung der vergleichsweise besten Ergebnisse unter gegenwärtigen Bedingungen geht, blendet die Konsequenzen der betreffenden Entscheidungen für die zukünftige Erreichbarkeit einer idealen Gesellschaft aus. Im schlechtesten Fall könnte das zu einer Auswahl von Maßnahmen führen, die langfristig eher zur Verfestigung als zur Überwindung eines ungerechten Status quo beitragen. Der Fokus auf unmittelbar realisierbare Maßnahmen könnte beispielsweise dazu führen, dass etwa Lösungen für besonders hartnäckige Formen struktureller Benachteiligung gar nicht erst gesucht werden, da hierfür große institutionelle Änderungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen notwendig wären. Da dies umfassende Reformen erfordert, für deren Umsetzung es meist keine politischen Mehrheiten gibt, fallen diese umfassenden Lösungsvorschläge in den Bereich idealer Theorie, die jedoch im Rahmen des komparativen Ansatzes nicht berücksichtigt wird. Aus diesem Grund erscheint Rawls’ Forderung, bei politischen Entscheidungen unter nicht-idealen Bedingungen stets auch die Folgen für die langfristige Realisierung einer idealen Gesellschaft im Blick zu behalten, durchaus sinnvoll.

Ein weiterer Aspekt, den es bei der Konstruktion praxisrelevanter Ideale zu berücksichtigen gilt, ist das sogenannte „Second-Best-Problem“. Dieses Problem betrifft mehr oder weniger alle Formen praktischen Denkens,[16] ideale Theorie allerdings in besonderem Maße. Um was es dabei geht, lässt sich sehr gut anhand der Bauplan-Analogie erläutern: Angenommen, wir orientieren uns an dem idealen Bauplan. Wenn alles gut läuft, bauen wir das Haus anhand dieses Bauplans und überwinden dabei alle Hindernisse, die der Konstruktion im Wege stehen. Was aber, wenn sich herausstellt, dass die vermeintlich vorübergehenden Restriktionen, die der Errichtung des idealen Hauses entgegenstanden, nicht vorübergehender Natur, sondern von Dauer sind? Mal angenommen, wir würden die Nordwand des idealen Gebäudes anhand des Bauplans errichten, müssten dann aber feststellen, dass wir nicht mehr über genügend Steine für die planmäßige Errichtung der Südwand verfügen und auch keine mehr auftreiben können. Dann könnte das Gebäude den ihm zugedachten Zweck nicht erfüllen: Ohne Südwand ließe sich auch kein Dach bauen und das Gebäude wäre nicht nutzbar. In diesem Fall wäre es besser gewesen, das Gebäude mit Rücksicht auf die begrenzten Ressourcen von Anfang an kleiner zu planen, so dass genügend Baumaterial für alle Wände vorhanden gewesen wäre. Ein nicht ideales, aber funktionsfähiges Gebäude dürfte zur Verwirklichung der angestrebten Ziele in wohl allen Fällen besser geeignet sein als ein Gebäude, das zwar teilweise nach dem Bauplan eines idealen Hauses errichtet, aber nicht fertiggestellt wurde. Übertragen auf die Errichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung bedeutet das: Wenn das Ideal der Gerechtigkeit nur unvollständig realisiert werden kann, ist es durchaus möglich (aber nicht zwingend), dass alternative Maßnahmenbündel, die sich nicht an der Idealvorstellung orientieren, zu besseren Ergebnissen führen. Dies liegt daran, dass bestimmte institutionelle Komponenten des Ideals unter Umständen aufeinander angewiesen sind und nur gemeinsam ihre Wirkung entfalten können. Gesetzt den Fall, eine ideale Institution A sei für ihr Funktionieren auf das Vorhandensein der idealen Institution B angewiesen („institutionelle Komplementarität“), dann wäre es durchaus möglich, dass eine Gesellschaft, in der B nicht realisiert ist, ohne die betreffende Institution A gerechter ist als mit ihr.

Allerdings muss beachtet werden, dass das Second-Best-Problem nur unter bestimmten empirischen Bedingungen relevant wird. Nur wenn sich das angestrebte Ideal tatsächlich als langfristig nicht realisierbar erweist und es zudem starke institutionelle Komplementaritäten ohne verfügbare funktionale Äquivalente (oder funktional ähnliche Institutionen) gibt, führt eine konsequente Orientierung am Ideal nicht in die bestmögliche (oder eine hinreichend gut funktionierende) gesellschaftliche Ordnung. Zusätzlich bewirken die Ursachen, die das Second-Best-Problem empirisch relevant werden lassen – Pfadabhängigkeit und institutionelle Komplementarität –, dass eine Orientierung am Ideal in vielen Fällen zu besseren Entscheidungen führen würde: So verleiht Pfadabhängigkeit Entscheidungen unter nicht-idealen Bedingungen auch langfristige Relevanz und die Implementierung von Institutionen mit institutionellen Komplementaritäten zum Ideal induziert Anreize zu dessen vollständiger Realisierung. Auch die politisch-strategische Auswahl von Maßnahmen kann zur Realisierung politischer Koalitionen führen, die die langfristige Realisierung des Ideals begünstigen. Um all diese Aspekte angemessen in praktisch-politische Entscheidungen einzubeziehen, ist es mindestens hilfreich, über ein genaues Bild einer idealen Gesellschaft zu verfügen.

Aber auch die Art und Weise der Konstruktion idealer Theorie ist für die Relevanz des Second-Best-Problems von Bedeutung. Wenn man ideale Institutionen so konstruiert, dass sie unter verschiedenen politischen, ökonomischen oder sozialen Bedingungen adäquat funktionieren und stabil sind, lässt sich dem Second-Best-Problem vorbeugen.

 

Die realistische Kritik an idealer Theorie

Die bisherige Diskussion ging davon aus, dass ideale Theorie gesellschaftliche Idealvorstellungen hervorbringt, die es wert sind, realisiert zu werden und so Gesellschaftskritik ermöglichen. Geuss greift diese Annahme an, indem er auf ein grundlegendes epistemisches Problem idealer Theorie hinweist: Er argumentiert, dass normative politische Theorie und Philosophie im Allgemeinen sowie ideale Theorie im Besonderen selbst ideologischen Charakter haben. Geuss zufolge liegt das an der Rolle, die moralische Intuitionen für die Begründung normativer Prinzipien spielen. Häufig werden moralische Grundannahmen mit Verweis auf (vermeintlich) weithin geteilte moralische Intuitionen begründet. Gegen dieses Vorgehen wendet Geuss ein, dass es lediglich die herrschenden moralischen Ansichten reproduziere, diese aber nicht kritisch hinterfrage. Auf diese Weise, so die Kritik, fänden ideologische Ansichten unreflektiert Eingang in idealtheoretische Gerechtigkeitskonzeptionen.

Was Geuss bei seiner Kritik an Rawls übersieht, ist, dass andere methodische Aspekte der von Rawls entwickelten Konzeption idealer Theorie und seines politischen Konstruktivismus ein starkes ideologiekritisches Potenzial verleihen: So sind es ja gerade die Abkehr vom gesellschaftlichen Status quo mit seinen eingeschränkten politischen und moralischen Handlungsmöglichkeiten sowie die Zugrundelegung abstrakter moralischer Grundprinzipien, die auf Werten wie Gleichheit und Freiheit beruhen, welche die Konstruktion einer alternativen Gesellschaftsordnung ermöglichen, die als Blaupause für Kritik und Reformen dienen kann.[17] Durch das bewusste Weglassen existierender Restriktionen kann eine alternative gesellschaftliche Realität theoretisch erforscht werden. Wenn diese sich an den grundlegenden Umständen der Gerechtigkeit orientiert, wird ein Ideal konstruiert, dass eine empirisch mögliche Welt beschreibt. Dies erhöht den Begründungsdruck für diejenigen, die an einer Aufrechterhaltung des Status quo interessiert sind, da ja mit guten Gründen gezeigt werden kann, dass eine gerechtere Gesellschaft möglich ist, sofern der politische Wille zu ihrer Realisierung besteht. Gerade Rawls’ Konstruktivismus geht von abstrakten Prinzipien mit großem kritischem Potenzial aus. Im Kontext von Rawls’ Theorie ist etwa jede Art von Ungleichheit bei der Ausstattung mit Grundgütern aufgrund der grundlegenden Gleichheitsannahme und der Ablehnung meritokratischer Begründungsmuster stets begründungsbedürftig. Nicht ohne Grund wurde und wird Rawls’ idealer Theorie immer wieder großes kritisches Potenzial attestiert, nicht zuletzt im Hinblick auf die in liberalen Demokratien steigende soziale Ungleichheit.[18] Dieser Aspekt soll abschließend anhand einer Skizze zweier idealer Gesellschaftsordnungen, die Rawls vorschweben, illustriert werden.

 

Die praktische Relevanz idealer Institutionen: Property-Owning Democracy und Liberaler Sozialismus

Rawls zufolge zeichnet sich eine ideale Gesellschaft durch eine faire Verteilung von Grundgütern aus, die für nahezu alle Lebensentwürfe relevant sind. Hierbei handelt es sich um Grundfreiheiten, Chancen auf relevante gesellschaftliche Ämter und Positionen, Einkommen und generell die „sozialen Grundlagen des Selbstrespekts“. Während das erste Gerechtigkeitsprinzip allen Individuen das gleiche Maß an Grundfreiheiten sichert, regelt das zweite Prinzip sozio-ökonomische Ungleichheiten: Insbesondere sollen Chancen auf Ämter und Positionen nicht von willkürlichen Faktoren wie Herkunft oder Klassenzugehörigkeit abhängen. Diejenigen, die über weniger nachgefragte Fähigkeiten verfügen, sollen mithilfe des Differenzprinzips kompensiert werden, welches ökonomische Ungleichheit nur dann zulässt, wenn hierdurch die Aussichten der Einkommensschwächsten maximiert werden.[19]

Ausgehend von den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen kritisiert Rawls an bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Systemen, dass sie weder eine faire Verteilung von Chancen realisieren noch dem Differenzprinzip genügen: Chancen auf Ämter, Positionen und Einkommen würden nach wie vor stärker von der sozialen Herkunft einer Person abhängen als von ihren individuellen Fähigkeiten und Talenten. Gleichzeitig trage die ungleiche Verteilung von Vermögen und Kapital dazu bei, die bestehenden Gerechtigkeitsdefizite zu reproduzieren und weiter zu verschärfen.[20]

Aus der ungleichen Verteilung von Vermögen und Kapital resultiert zusätzlich das Problem des ungleichen politischen Einflusses („Oligarchisierung“), das von Vertreter*innen realistischer Ansätze ebenso kritisiert wird wie von Theoretiker*innen der Postdemokratie.[21] Aus dieser Problembeschreibung folgert Rawls, dass die bestehenden Besitzverhältnisse geändert werden müssen, um sowohl politische Macht gleichmäßiger zu verteilen, als auch allen Individuen ausreichende Mittel zur effektiven Verfolgung ihrer persönlichen Ziele zur Verfügung zu stellen.[22]

Zur Realisierung von Gerechtigkeit schlägt Rawls zwei ideale Gesellschaftsentwürfe vor, nämlich eine „Property-Owning Democracy“ oder einen „liberalen Sozialismus“. Beide Ideale ziehen hierfür in vielen Bereichen ähnliche Mechanismen heran, wie etwa allgemeine soziale Dienstleistungen oder klassische wohlfahrtsstaatliche Institutionen.[23] Was beide Ordnungsentwürfe jedoch unterscheidet, sind die jeweils als zulässig erachteten Arten des Eigentums an Produktionsmitteln und deren Verteilung.

In einer Property-Owning Democracy wird Zugang zu Eigentum und Kapital für alle Bürger*innen sichergestellt, was unter anderem durch Erbschafts- oder Vermögenssteuern finanziert wird. Die breite Streuung von Kapitalbesitz soll verhindern, dass sich die politische Macht auf wenige vermögende Individuen konzentriert. Zudem sollen alle Bürger*innen in die Lage versetzt werden, ihre je individuellen Lebensentwürfe selbstbestimmt unter Bedingungen fairer Chancengleichheit zu realisieren.[24]

Zur Ausgestaltung des liberalen Sozialismus finden sich bei Rawls hingegen deutlich weniger Hinweise. Klar ist, dass sich nur ein geringer Anteil der Produktionsmittel in Privatbesitz befinden soll und dass es sich um ein demokratisches, marktsozialistisches Regime handelt. Rawls scheint zudem eine dezentrale, demokratische Verwaltung von Firmen durch die Arbeitnehmer*innen zu favorisieren, um die Konzentration politischer Macht beim Staat zu verhindern. Darüber hinaus zeichnet sich der liberale Sozialismus durch das Recht auf freie Berufswahl, das Recht auf Privateigentum und zumindest einen begrenzten Einsatz von Märkten aus.[25]

Die hier angestellten Überlegungen zur Property-Owning Democracy und zum liberalen Sozialismus bewegen sich auf der Ebene idealer Theorie. Sie interessieren sich nicht für die Frage, ob sich diese Gesellschaftsmodelle unter den aktuellen Bedingungen politisch realisieren lassen oder nicht. Rawls hat die idealen Gesellschaftsmodelle so konstruiert, dass sie im Hinblick auf die angenommenen Umstände und Rahmenbedingungen der Gerechtigkeit (moderate Ressourcenknappheit, realistische Moralpsychologie, etc.) deren bestmögliche institutionelle Realisierung darstellen. Inwiefern kann diese idealtheoretische Ebene nun aber zur Analyse und Lösung von Problemen der nicht-idealen Theorie, etwa der Oligarchisierung in realen liberalen Demokratien, herangezogen werden?

Erstens liefert ideale Theorie Kriterien, die wir zur Identifikation von Ungerechtigkeit heranziehen können – etwa, dass es nicht allein auf Ungleichheiten im Ergebnis ankommt, sondern auch, dass eine faire Verteilung von Chancen nur gegeben ist, wenn diese nicht von willkürlichen Faktoren wie der sozialen Herkunft beeinflusst werden. Zusätzlich liefern ideale Gesellschaftsentwürfe umfassende institutionelle Lösungsvorschläge für akute Probleme. Hierdurch lässt sich auch zeigen, in welcher Hinsicht und in welchem Ausmaß die bestehende Ordnung von einer idealen Ordnung abweicht.

Zur Entwicklung politischer Lösungsstrategien unter nicht-idealen Bedingungen ist es zudem sinnvoll, mehr über mögliche ideale Gesellschaftsentwürfe zu wissen. Aufgrund von Pfadabhängigkeit macht es langfristig einen Unterschied, welche Maßnahmen unter nicht-idealen Bedingungen zur Verringerung von Ungerechtigkeit angestrebt und umgesetzt werden. Da nur bestimmte Maßnahmen auf einen Pfad zur Realisierung einer Property-Owning Democracy oder eines liberalen Sozialismus führen, ist es wichtig, im Vorfeld zu wissen, wie stabil und erstrebenswert die betreffenden Ideale sind, um auch die langfristigen Folgen gegenwärtiger politischer Entscheidungen abschätzen zu können. Beispielsweise könnte man fragen, ob die Einführung eines Mindestlohns oder die Einführung einer sozialen Dividende aus einem Staatsfonds[26] unter aktuellen Bedingungen Priorität haben sollten. Neben den zu berücksichtigenden unmittelbaren Auswirkungen sollte es hier auch eine Rolle spielen, inwiefern die genannten Maßnahmen Einfluss auf die langfristige Realisierbarkeit einer idealen Gesellschaft haben. Für die soziale Dividende könnte etwa sprechen, dass sie einen Einstieg in eine breitere Beteiligung von Bürger*innen an Kapitalerträgen darstellt. Ein solcher Schritt könnte politische Anreize zu einer weiteren Ausweitung des öffentlichen Kapitals generieren, wodurch die Realisierung einer Property-Owning Democracy oder auch eines liberalen Sozialismus wahrscheinlicher würde.[27]

Zusätzlich liefert die idealtheoretische Diskussion Lösungsansätze, auch wenn nur Teile des Ideals unter nicht-idealen Bedingungen realisiert werden können. Das liegt daran, dass ideale Theorie im Sinne von Rawls auch relevante Faktoren, wie etwa die Auswirkungen interessenbasierten Handelns von Individuen auf die Effektivität und Stabilität idealer Institutionendesigns, berücksichtigt.[28] Ideale Institutionen sollten demnach so gestaltet werden, dass sie unter möglichst unterschiedlichen Bedingungen stabil und effektiv sind. Dieses Kriterium erhöht zugleich die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch unter nicht-idealen Bedingungen funktionstauglich sind. Als Beispiel hierfür kann etwa die Idee einer gleichmäßigeren Verteilung von Kapitalbesitz als Mittel gegen die Oligarchisierung demokratischer Politik herangezogen werden. Natürlich muss stets aufs Neue geprüft werden, ob einzelne Institutionen einer idealen Gesellschaftsordnung auch unter nicht-idealen Bedingungen funktionieren können. Dieses Problem betrifft jedoch nicht nur ideale Theorie, sondern auch andere Ansätze. So stellt sich etwa beim komparativen Ansatz regelmäßig die Frage der Übertragbarkeit erprobter Lösungsansätze in andere Kontexte.

 

Fazit

Rawls hat mit seiner Unterscheidung von idealer und nicht-idealer Theorie wie auch mit seiner Vorstellung von ihrem Zusammenwirken bei der Beantwortung praktischer Fragen einen wichtigen Beitrag zu zentralen methodologischen Problemen der politischen Theorie und Philosophie geleistet. Erst in jüngerer Zeit wurde dieser Unterscheidung die kritische Aufmerksamkeit geschenkt, die ihr gebührt. Diese Diskussion hat seither viel zu einem besseren Verständnis idealer und nicht-idealer Theorie beigetragen und die Bedeutung ihres Zusammenspiels für die Lösung praktischer Fragen erhellt. Dabei wurde deutlich, dass ideale Theorie bereits in Rawls’ Vorstellung deutlich stärker an Fragen der Machbarkeit orientiert ist, als vielfach angenommen wurde, und folglich auch für Fragen nicht-idealer Theorie Relevanz besitzt.

Gleichzeitig hat sich in den letzten Jahren ein lebhaftes Forschungsprogramm zum Design idealer Institutionen entwickelt. Hierbei werden Rawls’ Überlegungen zu Gerechtigkeit und zu alternativen Gesellschaftsordnungen, wie einer Property-Owning Democracy oder einem liberalen Sozialismus, aufgegriffen und im Rahmen einer empirisch informierten idealtheoretischen Perspektive präzisiert und weiterentwickelt, die Theorien und Erkenntnisse der empirischen politik-ökonomischen Forschung integriert.[29]

Diese Überlegungen zeigen auch, dass die Diskussion um ideale und nicht-ideale Theorie nicht nur auf einer abstrakten metatheoretischen Ebene geführt werden sollte. Ohne dass der Versuch unternommen wird, idealtheoretische Gesellschaftsentwürfe in praktischen, nicht-idealen Überlegungen nutzbar zu machen, wird es wenig theoretische Innovation diesbezüglich geben. Rawls hat zwar die Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie eingeführt, selbst allerdings hauptsächlich ideale Theorie betrieben und Fragen nicht-idealer Theorie nur gelegentlich und exemplarisch diskutiert. Die politische Theorie und Philosophie hat sich an diesem Modell orientiert und dabei das praktische Potenzial idealer Theorie brachliegen lassen. Nur wenn tatsächlich ernsthafte Bemühungen für eine praktisch-politische Verwendung idealer Theorie unternommen werden, wird auch die Rolle idealer und nicht-idealer Theorie bei der Beurteilung gesellschaftlicher Phänomene klarer werden. Hierdurch kann eine genauere Vorstellung vom Zusammenspiel idealer und nicht-idealer Theorie gewonnen werden – etwa, indem verstärkt über den Zusammenhang zwischen dem Design unmittelbarer Lösungen und politischen Pfaden zur Realisierung von idealen Gesellschaften nachgedacht wird.

 

Jürgen Unger-Sirsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Theorie und Philosophie sowie der Politischen Ökonomie. Er beschäftigt sich mit methodologischen Fragen der Politischen Theorie, insbesondere in Bezug auf ideale Theorie, sowie gerechtigkeitstheoretischen Fragen und dem institutionellen Design gerechter Gesellschaften. Im Jahr 2020 erschien sein Buch „Designing Realistic Utopia. Ideal Theory in Practical Political Philosophy“ im Nomos Verlag in der Schriftenreihe der Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“ der DVPW.

 

[1] Siehe dazu u.a. David Estlund, Utopophobia: On the Limits (if any) of Political Philosophy, Princeton, NJ 2020; David Wiens, Motivational Limitations on the Demands of Justice, in: European Journal of Political Theory 15 (2016), 3, S. 33–52.

[2] Vgl. Peter Singer, Famine, Affluence and Morality, in: Philosophy and Public Affairs 1 (1972), 3, S. 229–243.

[3] John Rawls, A Theory of Justice, Revised Edition, Cambridge, MA 1999, S. 267, 475 f.

[4] Ebd., S. 216 f.

[5] Für eine ähnliche Analogie vgl. David Wiens, Prescribing Institutions Without Ideal Theory, in: The Journal of Political Philosophy 20 (2012), 1, S. 45–70.

[6] Siehe dazu etwa Raymond Geuss, Kritik der politischen Philosophie: Eine Streitschrift, übers. von Karin Wördemann, Hamburg 2011; Charles W. Mills, „Ideal Theory“ as Ideology, in: Hypatia 20 (2005), 3, S. 165–184.

[7] Vgl. Laura Valentini, On the Apparent Paradox of Ideal Theory, in: The Journal of Political Philosophy 17 (2009), 3, S. 332–350.

[8] Vgl. Adam Swift, The Value of Philosophy in Nonideal Circumstances, in: Social Theory and Practice 34 (2008), 3, S. 363–387.

[9] Siehe dazu John Rawls, Justice as Fairness: A Restatement, Cambridge, MA 2001. Zur Diskussion vgl. u. a. William A. Edmundson, John Rawls: Reticent Socialist, Cambridge 2017; D. C. Matthew, Rawls and Racial Justice, in: Politics, Philosophy & Economics 16 (2017), 3, S. 235–258; Charles W. Mills, Rawls on Race / Race in Rawls, in: The Southern Journal of Philosophy 47 (2009), S. 161–184; Alan Thomas, Republic of Equals: Predistribution and Property-Owning Democracy, New York 2016.

[10] Vgl. Geuss, Kritik der politischen Philosophie; Enzo Rossi / Matt Sleat, Realism in Normative Political Theory, in: Philosophy Compass 9 (2014), 10, S. 689–701.

[11] Siehe Amartya Sen, The Idea of Justice, Cambridge, MA 2009.

[12] A. John Simmons, Ideal and Nonideal Theory, in: Philosophy & Public Affairs 38 (2010), 1, S. 5–36.

[13] Rawls, A Theory of Justice, S. 109 f.

[14] Sen, The Idea of Justice, S. 101 f.

[15] Dass hängt mit verschiedenen Mechanismen wie der Anpassung von Individuen an veränderte Umstände und der Internalisierung von Werten zusammen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Vgl. dazu Paul Pierson, Increasing Returns, Path Dependence, and the Study of Politics, in: American Political Science Review 94 (2000), 2, S. 251–267.

[16] Siehe Estlund, Utopophobia, S. 272 f.

[17] Vgl. Erik Olin Wright, Envisioning Real Utopias, London / New York 2010, S. 6.

[18] Siehe u. a. Edmundson, John Rawls: Reticent Socialist; Martin O’Neill / Thad Williamson (Hg.), Property-Owning Democracy: Rawls and Beyond, Malden, MA 2012.

[19] Rawls, A Theory of Justice, S. 63-69.

[20] Rawls, Justice as Fairness, S. 139.

[21] Gordon Arlen / Enzo Rossi, Must Realists be Pessimists About Democracy? Responding to Epistemic and Oligarchic Challenges, in: Moral Philosophy and Politics 8 (2021), 1, S. 27–49; Dirk Jörke, Re-Demokratisierung der Postdemokratie durch alternative Beteiligungsverfahren?, in: Politische Vierteljahresschrift 54 (2013), 3, S. 485–505.

[22] Rawls, Justice as Fairness, S. 139.

[23] Vgl. Edmundson, John Rawls: Reticent Socialist, S. 133–137.

[24] Rawls, Justice as Fairness, S. 139; Thad Williamson, Who Owns What? An Egalitarian Interpretation of John Rawls’s Idea of a Property-Owning Democracy, in: Journal of Social Philosophy 40 (2009), 3, S. 434–453.

[25] Rawls, Justice as Fairness, S. 138; Edmundson, John Rawls: Reticent Socialist, S. 29-42; Justin P. Holt, The Requirements of Justice and Liberal Socialism, in: Analyse & Kritik 39 (2007), 1, S. 171–194.

[26] Siehe dazu Giacomo Corneo, Öffentliches Kapital: Ein evolutionäres Programm für mehr Demokratie und Wohlstand, in: Ethik und Gesellschaft 10 (2016), 1.

[27] Vgl. Jürgen Sirsch, Wie sollte eine „Property-Owning Democracy“ realisiert werden? Eine Diskussion von redistributiven Maßnahmen unter nicht-idealen Bedingungen, in: Zeitschrift für Politische Theorie (im Erscheinen).

[28] Rawls, A Theory of Justice, S. 49.

[29] Siehe Edmundson, John Rawls: Reticent Socialist; Thomas, Republic of Equals; O’Neill/Williamson, Property-Owning Democracy.

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