Begriffe lassen sich als ein Fangnetz verbildlichen, das über die Wirklichkeit ausgeworfen wird, um ihre Phänomene verstandesmäßig ergreifen zu können. Ebenso wie beim Fischfang, bestimmt auch die ‚Maschenöffnung‘ des Begriffs darüber, wie groß die Gesamtheit der wesentlichen Merkmale ist, die in ihm zu einer gedanklichen Einheit zusammengeführt, mithin also von ihm ‚eingefangen‘ und ergriffen werden können. Es gehört zu den Aufgaben der Politischen Theorie und Ideengeschichte, erstens eben jene Begriffs-Netze selbst zu knüpfen oder diskursgeschichtlich zu rekonstruieren und für die Interpretation des Politischen sowie für die Konstruktion seiner Wirklichkeit zu erforschen und zweitens bereits geknüpfte Begriffs-Netze hinsichtlich ihrer Funktionsfähigkeit und Relevanz kritisch zu überprüfen. Ganz im Zeichen dieser komplexen Aufgaben stand auch die vom Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte der Georg-August-Universität Göttingen organisierte Tagung „Politische Grundbegriffe im 21. Jahrhundert“ Anfang Juni 2021. Ihr Ziel war es, „den besonderen Status von politischen Grundbegriffen sowie ihren Wandel im 21. Jahrhundert mit seinen spezifischen Herausforderungen zu untersuchen.“
Im Zentrum dieses Berichts steht die Frage, inwiefern die Tagung diesem ambitionierten Ziel gerecht geworden ist oder, in Anbetracht ihrer Gliederung, überhaupt gerecht werden konnte. Dabei dient die von Michael Freeden in seiner Keynote eingeführte analytische Differenzierung von Grundbegriffen der politischen Realität und Grundbegriffen der Politischen Theorie zur grundlegenden Strukturierung der Diskussion, kann sie doch als Minimalbedingung verstanden werden, um das Denken über Begriffe und mit Begriffen überhaupt adäquat durchführen zu können. Darauf wird weiter unten noch genauer einzugehen sein.
Historische und methodische Perspektiven
Es liegt auf der Hand, dass zur Erfüllung des Tagungsziels zunächst einmal ein analytisches Werkzeug vorliegen muss, mit dem sich ergreifen lässt, was überhaupt als „politischer Grundbegriff“ gelten kann. Wilhelm Knelangen und Kimmo Elo identifizierten mithilfe einer quantitativ ausgerichteten Untersuchung einschlägiger Fachlexika jene Termini als „Grundbegriffe“, die über einen längeren Zeitraum hinweg in allen fünf der von ihnen untersuchten Kompendien Platz gefunden haben. Mit diesem deskriptiven Zugriff bleibe „Grundbegriff“ aber konzeptionell unterbestimmt, da dieser Zugriff für die auch von den Vortragenden mitbedachten restriktiven Rahmenbedingungen der Erstellung von Lexika ist, die unter dem Deckmantel der Objektivität die evaluative Dimension der Begriffsbildung und -verwendung verschleiert.
Für eine selbstreflexive Sensibilisierung in der Begriffsbildung und -verwendung plädierte Michel Dormal, da Begriffe und die Art und Weise, wie mit ihnen innerhalb einer Theorie umgegangen wird, die Ausrichtung der Theorie selbst beeinflussen. Laut Dormal lasse sich zwischen drei narrativen Grundfiguren unterscheiden, die einen begrifflichen Wandel formen. Sie oszillieren zwischen dem Fallenlassen zwecks Neuerschaffung oder Wiederentdeckung und der Ergänzung bzw. Erweiterung von Begriffen. In der anschließenden Diskussion wurde eine vierte Figur in Betracht gezogen: die Verwässerung, also sukzessive inhaltliche Entleerung von Begriffen. Dass die von Dormal angebotenen Demarkationslinien nicht trennscharf verlaufen, ließ sich anhand des Begriffs „politische Autorität“ veranschaulichen, den Grit Straßenberger und Christoph Michael von seiner Kontamination befreien und dadurch auch für demokratisches Denken fruchtbar machen wollten. Hier zeigt sich eine Kombination aus begrifflicher Wiederentdeckung und Neubewertung. Entscheidend bleibt aber die wissenschaftliche Selbstkontrolle darüber, in welcher Weise und warum Begriffe entsprechend behandelt werden. Die für den weiteren Verlauf der Tagung wesentliche und durchaus plausible Grundlegung, hätte im Rückblick durch eine zusätzliche methodologische Einheit, vielleicht mit einem geisteswissenschaftlich-interdisziplinären Ansatz, gewinnbringend ergänzt werden können, um der analytischen Einfassung der im weiteren Verlauf der Tagung behandelten Begriffe eine stabilere Grundlage zu geben.
Die kritische (Selbst-)Reflexion in der Begriffsverwendung spielt insbesondere beim politiktheoretischen Umgang mit Ideologien eine wichtige Rolle, die exemplarisch von Martin Beckstein am Beispiel des Konservatismus und von Sara Minelli am Beispiel des italienischen Faschismus herausgearbeitet wurde. Zentral sei jeweils das besondere Verhältnis, in dem Begriffe und Ideologien zueinander stehen, stellen jene nach Jörg Tremmel doch die Basiseinheit für diese dar. Im italienischen Faschismus sei es vor allem der Begriff des Mythos, der die naturalisierende und mobilisierende Kraft entfalten konnte. Im Konservatismus sei es der Begriff des Bewahrens, wobei nach Beckstein der „aktualistische Konservatismus“, der auf die Bewahrung eines vom Menschen herbeigeführten Status quo zielt, durchaus anschlussfähig hinsichtlich der Dynamiken des 21. Jahrhunderts wäre.
Ergänzt wurde die konzeptionelle Grundlegung von der Keynote Michael Freedens zur wachsenden Prekarität politischer Konzepte. Freeden umschrieb Grundbegriffe als Schlüsselkonzepte des Politischen (keyconcepts of the political), die jedoch analytisch nach Grundbegriffen der politischen Realität und Grundbegriffen der Politischen Theorie zu unterscheiden sind. Um die eingangs eingeführte Analogie zu verwenden, ließe sich also schlussfolgern, dass ein Rückfall hinter diese Unterscheidung, die geknüpften Begriffs-Netze im luftleeren Raum schweben ließe und sie damit ihrer Funktion, Phänomene der Wirklichkeit zu ergreifen, enthöbe. Laut Freeden folgt daraus für die Politische Theorie, sofern sie ihren oben genannten Aufgaben gerecht werden will, dass sie empirisch informiert bleiben muss und einerseits die analytische Trennung beider Welten, andererseits aber auch deren unvermeidliche Interpenetration stets zu berücksichtigen hat. Dies diene der emanzipatorischen Kraft des Fachs.
Zu bedenken ist dabei, so ließe sich ergänzen, dass Begriffe beider Welten durchaus gleichbedeutend sein können. Das zeigt sich etwa beim Begriff „Freiheit“, der zunächst von Martin van Gelderen ideengeschichtlich im Anschluss an Coluccio Salutati, Erasmus von Rotterdam und Hugo Grotius ausdifferenziert wurde und dann von Jyotirmaya Sharma bzw. Alexander Weiß in seiner nicht-westlichen Bedeutung respektive Verwendung analysiert wurde. Veranschaulichen lässt sich dies aber auch am Begriff „Souveränität“, den Felix Petersen ausdifferenziert hat. Wird Souveränität in ihrem herrschenden demokratischen Verständnis zwar vor allem als „popular sovereignty“ verstanden, so finden sich in der Realität doch zunehmend autoritäre Deutungen dieses Begriffes als „populist sovereignty“. Souveränität ist demzufolge ein Aspirant auf den Status „Grundbegriff“ in beiden Welten. Die Herrschaftsformen der politischen Realität kommen scheinbar nicht umhin, sich in gleich welcher Form auf ihn als Legitimationsgrundlage zu beziehen. Die Politische Theorie wiederum muss nicht nur, aber auch gerade deswegen mit dem Begriff der Souveränität arbeiten, um eine kritische Zeitdiagnose durchführen zu können. Die Interpenetration äußert sich in diesem Fall darin, dass die Politische Theorie dieses andere Verständnis der politischen Realität ihrerseits wiederum theoretisch reflektieren muss, womit sich der eigene Begriffsapparat verändert. Kritikfähig bleibt die Theorie jedoch nur dann, wenn sie sich dieser Interpenetration bewusst ist und sie selbst als Gegenstand der Analyse betrachtet, was wiederum nur über die Trennung beider Welten möglich ist. Dies stellt zweifellos eine besondere Herausforderung dar, erfordert dies doch nichts weniger, als dass die Begriffe der politischen Realität nicht bereits durch die normative Begriffsbrille der Theorie betrachtet und damit vorverurteilt werden.
Grundbegriffe in politiktheoretischen Kontroversen
Die enge begriffliche Kopplung von politischer Realität und Politischer Theorie wurde von Andreas Busen anhand des Begriffs „Solidarität“ verdeutlicht, operiert gerade dieser Begriff doch nicht unabhängig von seiner in Krisen immer wieder drohenden Prekarität und ist Kraft dieses besonderen Realitätsbezugs auch konjunkturellen Schwankungen unterworfen. Gerade hier sei jedoch zu fragen, inwiefern es sich dabei überhaupt um einen „politischen Grundbegriff“ handeln kann. Daher spricht Busen eher von einem „Grundbegriff umkämpfter Politik“. Dass sich politische Realität und Politische Theorie auch entkoppeln können, hat überdies Frank Nullmeier anhand des Begriffs „Sozialstaat/Wohlfahrtsstaat“ diskutiert, da dieser Begriff auch in Ländern, die ihn politisch nicht verwenden (können), mitunter wissenschaftlich genutzt wird. Gleichwohl ist er nach Nullmeier (noch) nicht als ein Grundbegriff der modernen politischen Theorie zu kennzeichnen, könnte diese Geltung aber erlangen, wenn sozialtheoretische und politiktheoretische Diagnosen aufgearbeitet und synthetisiert würden, um ihn adäquat zu fassen.
Im Fokus des zweiten Tagungstages stand die von Freeden angesprochene „precariousness of political concepts“, denn es ging vermehrt darum, in welcher Weise sich in der Realität vollziehende Dynamiken eine analytische Neubewertung von Begriffen der Politischen Theorie nötig machen. Sei es der Begriff der politischen Repräsentation im digitalen Zeitalter (Sebastian Berg), der Begriff der Korruption im neoliberalen Zeitalter (Cord Schmelzle), der Begriff der politischen Bürgerschaft im globalen Zeitalter (Sandra Seubert), der Begriff der Wahrheit im postfaktischen Zeitalter (Laura Achtelstetter), der Begriff der Menschenrechte im Zeitalter von Flucht und Terrorismus (Janne Mende), der Begriff des Liberalismus, verstanden als Chance von Selbstachtung im biotechnischen Zeitalter (Eva Odzuck), oder Identität bzw. Identitätspolitik im Zeitalter hybrider Subjektivität (Karsten Schubert und Helge Schwiertz) – die Interdependenz von Wirklichkeit und Theorie erfordert stets die kontinuierliche Überprüfung der Begriffs-Netze.
In der Zusammenschau wird augenscheinlich, dass die Tagung den ambitionierten Versuch unternommen hat, die sicherlich beabsichtigte Doppeldeutigkeit ihres Titels zu bearbeiten. Es ging sowohl darum aufzuzeigen, wie ‚traditionelle‘ politische Grundbegriffe im 21. Jahrhundert mit seinen vielzähligen Strukturwandeln verstanden werden können, als auch um die Diskussion darüber, was mitunter gänzlich ‚neue‘ (oder revitalisierte) politische Grundbegriffe des 21. Jahrhunderts sind oder sein mögen.
Ohne Zweifel ist diese doppelte Aufgabe eine der zentralen Herausforderungen, der sich die Politische Theorie und Ideengeschichte stellen muss, möchte sie als wesentliche Subdisziplin der Politikwissenschaft nicht verstummen. Als Achillesferse der Tagung erwies sich rückblickend jedoch der insgesamt dünn gebliebene konzeptionelle Rahmen dessen, was überhaupt unter dem Terminus „politischer Grundbegriff“ abstrakt verstanden werden kann. So bleiben die behandelten Begriffe freischwingende Potenziale, die ihre in ihnen schlummernde diskursive Kraft aufgrund der fehlenden stabilen Einfassung nicht gänzlich zur Entfaltung bringen konnten.
Markus Kasseckert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Steuerzahlerinstitut des Bundes der Steuerzahler e.V. und dort zuständig für haushaltspolitische Analysen.
Danke, das ist ein hilfreicher Konferenzbericht gerade für Nicht-Beteiligte. Tatsächlich stellt sich für den Außenstehenden die Frage, wie ein Begriff in den Kanon der Grundbegriffe eingeht (und dort verbleibt). Gibt es hier ein Gatekeeping aus der Disziplin heraus? Lässt sich das im Zeitalter der Entgrenzungen aus einem geographisch (?) festgelegten Raum heraus überhaupt legitim fortsetzen? Haben Definitionen und Bedeutungen von Bürgerschaft oder Korruption in/aus – sagen wir – Zentralafrika oder der Karibik so sehr viel Schnittmengen mit einem vermeintlich universalistischen Verständnis der Begriffe?