Drei Fragen zu John Rawls

Fünzig Jahre nach der Veröffentlichung der Theorie der Gerechtigkeit haben bereits mehrere Generationen von politischen Philosoph*innen und Theoretiker*innen eine wissenschaftliche Sozialisation durchlaufen, in der es an Rawls’ Ideen praktisch kein Vorbeikommen gab. Wir haben Wissenschaftler*innen drei Fragen gestellt mit dem Ziel herauszufinden, wie Rawls ihr eigenes Denken geprägt hat und wie sie die Bedeutung seines Denkens heute bewerten. Für ihre Antworten sei ihnen an dieser Stelle herzlich gedankt.

1. Wie sah Ihre erste Begegnung mitRawls’ Texten aus?

2. Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

3. Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch, Rawls’ Schriften zu lesen?

 

Drei Fragen zu John Rawls

an Jürgen Habermas

an Beate Roessler

an Hubertus Buchstein

an Jeanette Ehrmann

an Rainer Forst

an Lisa Herzog

an Ottfried Höffe

an Luise Müller

an Peter Niesen

an Walter Reese-Schäfer

an Gary S. Schaal

 

Jürgen Habermas

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls Texten aus?

Diese erste Begegnung fand unter blamablen Umständen Anfang der 70er-Jahre statt. Ich erinnere nicht mehr das genaue Jahr, als mich Charles Taylor – wir kannten uns aus Montreal und Starnberg – zu einem Vortrag nach Oxford einlud. Am zweiten Tag sollte ich die beiden Heroen der Profession R.M. Hare und P.F. Strawson bei einem Lunch kennen lernen. Das war schon aufregend genug. Aber in Aufruhr geriert ich erst recht, als ich am Vorabend beiläufig erfuhr, dass ich bei dieser Gelegenheit – offenbar war ein Arbeits-Lunch vorgesehen – mit dem soeben nach Oxford berufenen Ronald Dworkin über einen bestimmten Aufsatz diskutieren sollte, und zwar über „Two Concepts of Rules“ von John Rawls. Peinlicherweise kannte ich diesen „allgemein bekannten“ Aufsatz nicht. Den besorgte mir ein freundlicher Kollege noch über Nacht. Bis heute kann ich mich an Einzelheiten dieser ungewöhnlichen Situation – meiner ersten Begegnung sowohl mit einem Text von Rawls wie mit so vielen einschüchternden Geistesgrößen in persona – nicht erinnern. Dasselbe versicherte mit Dworkin, als wir uns später anfreundeten. Sollte alles doch eher unauffällig über die Bühne gegangen sein?

Persönlich habe ich Rawls erst in den 80er-Jahren kennen gelernt, als ich bei einem Besuch in Cambridge sein Seminar besuchte – ich war von der freundlichen Aufmerksamkeit dieser rücksichtsvollen, vollkommen uneitlen Person schon auf den ersten Blick beeindruckt. Ich kenne keinen Kollegen, der durch seine unbestechlich-unprätentiöse Haltung in ähnlicher Weise so unmittelbar ein Distanz wahrendes Vertrauen erweckt. Rawls schien mich zu kennen, weil unser Sohn Tilmann bei ihm studiert hatte. Vor der Veröffentlichung seines Buches Political Liberalism hat er mich dann zu der bekannten Auseinandersetzung im Journal of Philosophy eingeladen. Damals hat übrigens Rainer Forst, der gerade von seinem Studium bei Rawls zurückgekommen war, den clue der Revision, die Rawls inzwischen an der „Theorie der Gerechtigkeit“ vorgenommenen hatte, besser verstanden als ich. Jener erste Gedankenaustausch gab jedenfalls den Auftakt zu einer bis zu Rawls‘ Tod nicht abreißenden Reihe von freundschaftlich-lehrreichen Diskussionen, sowohl bei seinen Besuchen in Frankfurt wie auch in den USA. Im Hinblick auf den sachlichen Ertrag unserer Debatte hat James Gordon Finlayson vor zwei Jahren ein vorzügliches Buch publiziert.

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Zu meinem Erstaunen stelle ich jetzt an den vielfältigen Anstreichungen und Anmerkungen in meinem Exemplar der deutschen Übersetzung fest, dass ich die Theorie der Gerechtigkeit erst 1975, wohl auf Anregung von Ernst Tugendhat, intensiv gelesen habe. Ich hatte damals den im Gespräch mit Karl-Otto Apel gemeinsam entwickelten Ansatz zu einer Diskursethik im Kopf und war natürlich begeistert, einer im Detail so sorgfältig durchgeführten, unverkennbar Kantianischen Position zu begegnen. Bei uns war ein Jahr zuvor der Sammelband von Manfred Riedel Zur Rehabilitierung der Praktischen Philosophie erschienen – ein unentschiedener Überblick über das breite Spektrum von Ansätzen, die sich in der Bundesrepublik mehr oder weniger im Anschluss an die verschiedenen Traditionen der Ethik entwickelt hatten. Demgegenüber markierte das Buch von Rawls nun eine Zäsur sowohl in methodischer wie in inhaltlicher Hinsicht.

Was das Methodische angeht, gab es – und gibt es bis heute – keine moraltheoretische Untersuchung, die sich in der systematischen Anlage und vor allem im Husserl‘schen Pathos der „Durchführung“ mit der Klarheit, dem Reichtum und der Genauigkeit der detaillierten Analysen der Theorie der Gerechtigkeit messen kann. Und um einzuschätzen, was diese Theorie damals inhaltlich bedeutet hat, muss man sich die Situation in der tonangebenden angelsächsischen Philosophie in Erinnerung rufen: In der praktischen Philosophie herrschten dort die empiristischen Ansätze in der sprachanalytischen Nachfolge von Hobbes, Hume, Bentham und John Stuart Mill fast ohne Konkurrenz. Diese Vorherrschaft war mit dem Erscheinen jenes Buches wie auf einen Schlag beendet. An die Stelle von Zweckrationalität, Gefühl, Interesse und Entscheidung trat jetzt die Interessen verallgemeinernde praktische Vernunft. Was mich betrifft, habe ich diese Theorie von vornherein in dem konstruktivistischen Sinne gelesen, den John Rawls 1980 in seinen John Dewey Lectures an der Columbia University ausgeführt hat. Hingegen fand ich den Schritt zum Politischen Liberalismus nicht wirklich überzeugend; nach meiner Auffassung hat Rawls damit der praktischen Vernunft im Kantischen Sinne das letzte Wort zugunsten religiöser und anderer Weltbilder entzogen.

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch, Rawls‘ Schriften zu lesen?

Ein solches Werk, das sich auf so viele einzelne Schritte in der Durchführung jedes tragenden Argumentes stützt, besitzt ein Gewicht, an dem die Philosophie fortan nicht einfach wird vorbeigehen können. Die historistischen Argumente, die heute auf breiter Front gegen Rawls‘ Normativismus ins Feld geführt werden, nehmen, soweit ich das noch übersehe, die Auseinandersetzung nicht auf dem Niveau jener Rationalitätsdebatte auf, die während der 1980er-Jahre schon einmal zwischen Davidson, Putnam, Apel, Gadamer, Rorty, Foucault und Derrida geführt worden ist. ‚Ideale Theorien‘ im Sinne von Rawls haben es natürlich mit dem Problem der Rechtfertigung ihrer normativ gehaltvollen Grundbegriffe zu tun. Aber auch rekonstruktive Ansätze stoßen letztlich auf den nicht-hintergehbaren vernünftigen, und das heißt universalen Gehalt von intuitiv vorgenommenen Voraussetzungen, die die Beteiligten ‚immer schon‘ performativ in Anspruch nehmen. Wenn der Historiker dieses allein im Mitvollzug nachzukonstruierende Vollzugswissen aus der Beobachterperspektive erneut objektiviert, nimmt er eine ‚Perspektive von Nirgendwo‘ ein, die es auf dieser Reflexionsstufe nicht mehr geben kann.

 

Jürgen Habermas ist Philosoph sowie Soziologe und Professor emeritus an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuletzt erschien „Auch eine Geschichte der Philosophie“, Suhrkamp 2019.

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Beate Roessler

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls Texten aus?

Rawls‘ Werk habe ich relativ spät kennengelernt: erst las ich Susan Moller Okin und danach Rawls, und ich bin sicher, dass das meine Rawlslektüre von Anfang an beeinflusst hat. Aber ich war fasziniert, als ich seine Theorie der Gerechtigkeit gründlich zu lesen begann: Vom systematischen Aufbau der Theorie, von Rawls‘ ungeheurer Sorgfalt und Gründlichkeit und von dem Versuch, tatsächlich eine umfassende Theorie der gerechten Gesellschaft zu entwerfen. Ich erinnere mich nicht mehr genau, ab wann Rawls zur Standardlektüre gehörte – irgendwann musste man ihn einfach kennen. Die feministische Kritik am Liberalismus fand dann allerdings (zumindest an der FU Berlin) in kleinen Lesegruppen statt, an denen Männer damals noch wenig Interesse zeigten. Wie dringend nötig jedoch nicht nur die Auseinandersetzung mit der feministischen Kritik an Rawls war, zeigt auch ein Blick in einen der ersten Sammelbände zur Theorie der Gerechtigkeit: 1977 herausgegeben von Otfried Höffe und unter den 11 Beitragenden keine Frau (in den nächsten Auflagen kam dann wenigstens Onora O’Neill zu Wort). 

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Im Vordergrund stand und steht natürlich immer die Theorie der Gerechtigkeit – gerade weil sich ausgehend von diesem normativen liberalen Rahmen so gut wie alle Themen in der politischen Philosophie verstehen und kritisch diskutieren lassen. 

Neben der Theorie der Gerechtigkeit haben mich jedoch immer die Vorlesungen zur Geschichte der Moralphilosophie beeindruckt. Von KritikerInnen als traditionelle Hermeneutik geschmäht, finde ich gerade, dass man hier von Rawls immer noch nicht nur historisch lernen kann – er liest Texte extrem genau und sucht immer wieder selbstkritisch seine eigenen Intentionen und Intuitionen zu befragen. 

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch Rawls‘ Schriften zu lesen?

Rawls ist nicht umsonst ein Klassiker: die Themen, die er in der Theorie der Gerechtigkeit und in seinem späteren Werk diskutiert, umfassen die wichtigsten Probleme der politischen Philosophie und gerade die Systematik ist immer noch beeindruckend, übrigens auch für StudentInnen. Alle Liberalismus-Debatten der letzten Jahrzehnte lassen sich in kritischer Auseinandersetzung mit seiner Theorie führen: diejenigen um ideale/nichtideale Theorie, um normative Begründungen, um expliziten oder impliziten Rassismus im Liberalismus (wie etwa Charles Mills und Tommy Shelby es tun), um die klassische liberale Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit – und etwa auch diejenige um zivilen Ungehorsam, auch hier bildet Rawls immer noch die Folie, auf deren Hintergrund um die richtige Konzeption gestritten wird.

Rawls ist neben Habermas der liberale Theoretiker, an dem sich PhilosophInnen abarbeiten, und beide sind gleichermaßen in feministischer Kritik wie in critical race theory mindestens umstritten. Aber die Tatsache, dass man sich an Theorien abarbeiten muss, weist sie als klassisch aus; es lohnt sich also in jedem Fall, sie noch zu lesen. 

 

Beate Roessler ist Professorin für praktische Philosophie an der Universität von Amsterdam; zu ihren Veröffentlichungen gehört Der Wert des Privaten, Frankfurt 2001 (englisch Cambridge 2005); Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, hg. mit Axel Honneth, Frankfurt 2008; The Social Dimensions of Privacy. Interdisciplinary Perspectives, hg. mit Dorota Mokrosinska, Cambridge 2015; Ein Versuch über das gelungene Leben, Berlin 2017 (englisch Cambridge 2021); zahlreiche weitere Veröffentlichungen zu sozialphilosophischen und ethischen Themen.

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Hubertus Buchstein

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls Texten aus?

Ich kann mich noch gut an meine erste Begegnung mit einem Text von John Rawls erinnern, denn sie fand nicht im gesetzten akademischen Milieu, sondern in einem als intensiv erlebten politischen Lebenszusammenhang statt. Deshalb will ich autobiografisch kurz etwas ausholen. Als Schüler eines Jungengymnasiums in einer norddeutschen Kleinstadt hatte ich Mitte der 1970er meine politische Heimat im Umfeld des maoistischen Kommunistischen Bundes (KB) gefunden. Wir befürworteten Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung und beteiligten uns an den militanten Anti-AKW-Demonstrationen in Gorleben und Grohnde. Mit dieser festen politischen Haltung bin ich 1978 als Student nach West-Berlin gekommen. Ich verbrachte kaum Zeit an der Freien Universität, dafür aber umso mehr u.a. in der Redaktion des autonomen Kampfblattes ‘radikal‘, bei der frisch gegründeten Alternativen Liste Berlin sowie in der Haushausbesetzerszene, in der ich Anfang der 1980er-Jahre aktiv war. Für die ‚Friedensbewegung‘ hatten wir linksradikalen Inhaber eines Pachtvertrages mit der politischen Wahrheit nur ein hochmütiges mildes Lächeln übrig. Und dennoch: Immer wieder rückte die ‚Gewaltdebatte‘ in den Fokus der internen Diskussionen. Während eines dieser Streitgespräche legte mir im Frühjahr 1982 ein Vertreter der ‚gewaltlosen Gegenseite‘ nach dem dritten oder vierten Bier die Lektüre der Überlegungen von Rawls über die Grenzen des Rechts auf gewaltsamen Widerstand ans Herz. Der photokopierte Textauszug aus der ‚Theorie der Gerechtigkeit‘, den er mir einige Tage später gab, imponierte mir. Denn aus jeder Zeile von Rawls sprach eine hohe Sensibilität gegen das Unrecht. Allerdings verbunden mit einer analytischen Denkungsart, die ich bislang nicht kannte und mit der ich zunächst etwas fremdelte, die mir mit der Zeit aber immer besser gefiel. Es dauerte noch einige Monate und Diskussionsrunden, bis ich schließlich zu der Überzeugung gelangte, dass die Anwendung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung in einem halbwegs funktionierenden demokratischen Verfassungsstaat abzulehnen sei. Als dann im Herbst 1983 die Diskussion über die Legitimität des zivilen Ungehorsams in den bundesdeutschen Feuilletons entbrannte, fühlte ich mich den Debattenbeiträgen von Jürgen Habermas, Peter Glotz, Ulrich K. Preuß, Claus Offe u.a. intellektuell gewachsen. Rawls sei Dank. Rückblickend vermute ich heute, dass es weniger die konkreten Argumente waren, die mich damals zum Umdenken bewegten, als der von seinem Buch ausgehende Sog der argumentativen Differenzierung und ihr Zwang zum permanenten Perspektivenwechsel. 

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

In den vergangenen vierzig Jahren habe ich unterschiedliche Teile des Werkes von Rawls besonders schätzen gelernt. In den 1980er-Jahren bezog ich mich in politischen Diskussionen häufig auf seine Thematisierung der Gerechtigkeit zwischen den Generationen und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Umwelt- und Klimapolitik (ja, die globale Erwärmung war bereits Anfang der 1980er-Jahre ein Thema). Nie eingeleuchtet hat mir hingegen seine risikoaverse Personenkonzeption. Zu Beginn der 1990er imponierte mir, dass und wie Rawls in Reaktion auf seine kommunitaristischen und libertären Kritiker vorsichtig Revisionen an seiner Theorie vornahm. Ein zum Lernen sich selbst verurteilender Mensch! Mein Respekt wandelte sich zur Bewunderung, als ich zwischen 1994 und 1996 in New York mehrmals die Gelegenheit hatte, Rawls im Colloquium von Thomas Nagel persönlich zu erleben. Er ging auf sämtliche an ihn gerichteten Fragen – egal ob sie von Habermas oder von jungen Studierenden kamen – in gleicher Weise fair und skrupulös ein. Zuweilen fragte er sicherheitshalber noch einmal nach und versuchte in seinen Antworten gar nicht erst, argumentative Nebelkerzen zu werfen. Diese Akribie in der Argumentation habe ich erst kürzlich wieder einmal zu schätzen gelernt, als ich im Zuge der ideengeschichtlichen Beschäftigung mit John St. Mill die Vorlesungen von Rawls zur Geschichte der politischen Philosophie in die Hand nahm. Von Rawls lernen, heißt zu lernen, mit den Stärken der vorgebrachten Gegenargumente arbeiten zu wollen und sich nicht nur über deren Schwächen zu mokieren. 

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch Rawls‘ Schriften zu lesen?

Es lohnt sich aus mindestens drei Gründen, auch heute noch Schriften von Rawls zu lesen. Erstens ist die brillante Kritik von Rawls am Utilitarismus ein heilsames Vademecum gegen den (post-)pandemischen Zeitgeist. Zweitens liefert Rawls eine bis heute kaum überbotene philosophische Grundlegung der Idee des demokratischen Verfassungsstaates. In Anschluss an Rawls lässt sich eine Konzeption der Toleranz formulieren, die in Zeiten des Erstarkens rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte auch die Grenzen von Toleranz in einer wehrhaften Demokratie gut begründen kann. Mein derzeitiges Lieblingsbuch von ihm ist allerdings ‚Das Recht der Völker‘. Denn, und damit ist der dritte Grund benannt, trotz aller kosmopolitischen Kritiken von Thomas Pogge und anderen halte ich die darin von Rawls entfaltete Theorie der Internationalen Politik für am besten geeignet, um gegenwärtig überzeugende normative Orientierung zu geben. Und zwar in zweie Hinsichten. Erstens schreibt Rawls den Völkern analog zu Personen ein ethisches Selbstverständnis zu und ist auf diese Weise anschlussfähig für ein republikanisches Demokratieverständnis. Zweitens erscheint mir Rawls‘ Theorie unter den derzeitigen weltpolitischen Bedingungen im Vergleich zu den Visionen einer Weltrepublik noch am ehesten eine gewisse Aussicht auf Praktikabilität zu haben.

 

Hubertus Buchstein ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald. Publikationen zur Demokratietheorie, Wissenschaftsgeschichte, Losverfahren und Politischen Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

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Jeanette Ehrmann

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls Texten aus?

John Rawls begegnete mir zum ersten Mal während meines Studiums an der Universität Frankfurt. Davor hatte ich noch nie von ihm gehört. Dass seine „Theorie der Gerechtigkeit“ als Wiedergeburt der politischen Philosophie gilt, machte mich neugierig. Umso enttäuschter war ich nach den ersten Kapiteln. Nicht nur, weil die Lektüre literarisch wenig reizvoll ist. Es erschien mir auch völlig kontraintuitiv, in einer Welt struktureller Ungerechtigkeit ausgehend von idealer Theorie über Gerechtigkeit nachzudenken. Es war mein Glück, in einem Lektürekurs von Rainer Forst einen zweiten Anlauf nehmen zu können. Er hat auf ebenso verständliche wie inspirierende Art in die analytische Sorgfalt von Rawls eingeführt, ihn ideengeschichtlich von Kant, aber auch von Rousseau und Marx her verständlich gemacht und gleichzeitig die theoretischen Grenzen des Rawls‘schen Denkens benannt. Auch wenn der Rawlsianismus mir fremd bleibt, hat die Mischung aus charitable reading und Kritik meine Begegnung mit Rawls zu einer lohnenswerten Auseinandersetzung gemacht.

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Wie kann eine gerechte Gesellschaft beschaffen sein, ohne permanent umverteilen zu müssen? Dass Rawls diese Frage aus der Perspektive der am schlechtesten Gestellten formuliert und dabei auch das Verhältnis von Eigentum und Demokratie berührt, finde ich nach wie vor bemerkenswert. Gleichzeitig halte ich den methodischen Weg über den Urzustand und den Schleier des Nichtwissens für fundamental falsch. Die Kritik daran aus der feministischen, der rassismuskritischen und der materialistischen Philosophie füllt ganze Bibliotheksregale. Was von Rawls bleibt ist, dass er mit Gerechtigkeit einen zentralen Begriff der Philosophie wiederbelebt hat, der auch Fluchtpunkt vielfältiger politischer Kämpfe ist. Doch zwischen beiden klafft bei Rawls eine Lücke. Gayatri Chakravorty Spivak geht mit Rawls hart ins Gericht, wenn sie ihm bezüglich seiner Verhältnisbestimmung von abstrakter Normenbegründung und den politischen Bedingungen zur Verwirklichung von Gerechtigkeit reine Plattitüden vorwirft und sein Werk gänzlich verwirft. Mit Spivak können wir den Rawlsianismus als symptomatisch für eine Form von disziplinierter Philosophie verstehen, die davor zurückscheut, Gerechtigkeit nicht nur als ein philosophisches, sondern als ein politisches Problem zu denken. Wir können aber auch mit Robyn Marasco an das verdrängte Politische bei Rawls anknüpfen und die Frage der Gerechtigkeit repolitisieren. Dazu muss Philosophie inter- und antidisziplinär werden, sich mit kritischen Gesellschaftstheorien verbinden sowie den epistemologischen Wert politischer Kämpfe anerkennen. Diese ermöglichen nicht nur ein  komplexeres Verständnis von Ungerechtigkeit, sondern setzen alternative Entwürfe einer gerechten Welt bereits um. Die derzeit wichtigsten Impulse, Gerechtigkeit und einen von Rawls nur zaghaft angedeuteten demokratischen Sozialismus als deren Grundbedingung weiterzudenken, kommen nicht aus kontrafaktischen Gedankenexperimenten hinter verschlossenen Universitätstüren, sondern aus Verbindungen von Theorie und Praxis, deren Traditionen weit mehr als 100 Jahre zurückreichen: Transformative Justice, intersektionale und reproduktive Gerechtigkeit, Abolitionismus, Reparation, Entknastung.

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch Rawls‘ Schriften zu lesen?

Ja, es lohnt sich, wenn wir Rawls mit seinen Kritiker*innen lesen, um über seine konzeptuellen Grenzen hinauszudenken. Die Rawls-Deutungen von Bonnie Honig, Charles W. Mills, Danielle Allen und Katrina Forrester sind wichtige theoretische Interventionen. Wie würde das Rawls’sche Denken aussehen, wenn er die politischen Kämpfe seiner Zeit nicht ausgeklammert, sondern etwa die Black und Brown Power Movements und die antikolonialen Befreiungsbewegungen systematisch in seine Theoriebildung einbezogen hätte, sie in ihrer Konflikthaftigkeit nicht als Gefahr, sondern als Chance für die Ermöglichung einer gerechten Gesellschaft verstanden hätte? Wenn er Rassismus, Klassismus und Sexismus als gesellschaftliche Grundstruktur benannt und davon ausgehend das Differenzprinzip formuliert hätte? Jenseits eines bloßen Rawls-Bashings ermöglichen diese Fragen eine theoriepolitische Selbstverständigung und eine methodologische Selbstreflexivität, die ich in der politischen Philosophie und Theorie oft vermisse. Wie bestimmen wir unsere theoretische Praxis im Verhältnis zum Politischen, welche soziale Positionierung und welche politischen Commitments informieren unsere Theoriearbeit? Daran knüpft auch die Frage an, wie sich strukturelle Ausschlüsse aus der Universität und die theoretischen Begrenzungen der Philosophie gegenseitig bedingen. Entgegen der Rede von der Wiedergeburt der politischen Philosophie war Rawls‘ Theorie in den letzten fünfzig Jahren weder das bestimmende und unhinterfragte Paradigma noch das einzige konzeptuelle Vokabular, um über Gerechtigkeit nachzudenken und das Politische zu theoretisieren. Anti-, post- und dekoloniale, Schwarze, indigene, feministische und queere Theorien sowie Theorien aus dem globalen Süden werden noch heute aus der universitär institutionalisierten Philosophie verwiesen und in andere Disziplinen ausgelagert. Aber die angloamerikanische analytische und liberale politische Philosophie hat nicht die Deutungshoheit darüber, was in einer geteilten Welt als Philosophie und was als gerecht gilt. Nach „100 Jahren Rawls“ ist es an der Zeit, Rawls zu provinzialisieren und die politische Philosophie und Theorie für bislang ausgegrenzte Epistemologien und Genealogien zu öffnen, wenn wir Gerechtigkeit rezentrieren wollen.

 

Dr. Jeanette Ehrmann ist Politologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von politischer Theorie, postkolonialer Theorie und feministischer Theorie. Zurzeit leitet sie das vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderte Forschungsprojekt „Postkoloniale Geschlechterverhältnisse und die Krise der Demokratie“.

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Rainer Forst

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls‘ Texten aus?

Die erste intensive Begegnung fand in einem Proseminar Mitte der 80er Jahre in Frankfurt statt, das Karl-Otto Apel veranstaltete; die Ausgabe der Theorie der Gerechtigkeit, die ich damals erstand, begleitet mich bis heute. Es handelte sich um ein klassisches Lektüreseminar, in dem wir allerdings nicht über die ersten Abschnitte hinauskamen, weil Apel die armen und zunehmend verzweifelten Referent*innen regelmäßig unterbrach, um seine faszinierenden, aber gelegentlich recht umfangreichen Reflexionen zu entfalten. Auf mich machte die kühle und direkte Art, in der Rawls die ganze Tradition des Gesellschaftsvertrags mit kurzen Andeutungen zu dieser Ahnenreihe und einer detailreichen Entfaltung eines klaren Systems auf den Kopf stellte, großen Eindruck. Ich las weiter und konnte dann in den USA, wo ich ein Studienjahr verbrachte, nicht nur weiter Rawls studieren, sondern auch die sich entwickelnde Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus mitverfolgen, worüber ich bei Habermas meine Magisterarbeit schrieb. Er war an den neueren Entwicklungen von Rawls sehr interessiert. Im Kontext dieser Arbeit hatte ich 1989 das Privileg, von Rawls in Harvard empfangen zu werden, der mir über einige Monate hinweg großzügig meine vielen Fragen beantwortete und seine Manuskripte mit mir teilte (wovon ich sehr profitierte, da Rawls sehr zurückhaltend beim Publizieren war). Von da an verbrachte ich dort, besonders während der Arbeit an meiner Dissertation, relativ viel Zeit, sozusagen als Wanderer zwischen den Welten Frankfurt und Harvard, was mich sehr geprägt hat. In diese Zeit fiel die komplexe Debatte zwischen Rawls und Habermas, und Rawls kam auch nach Frankfurt. Er wird mir nicht nur als großer Philosoph in Erinnerung bleiben, sondern auch als außergewöhnlicher Mensch, nicht zuletzt aufgrund seiner zurückhaltenden und bescheidenen Art, von der man auf eine religiöse Sozialisation schließen konnte.

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Rawls‘ Genie bestand nicht zuletzt darin, neue Methoden und Theoreme zu entwickeln, für die er Bezeichnungen fand, die in der politischen Philosophie präsent bleiben werden: original position, ideal theory, reflective equilibrium, difference principle, comprehensive doctrines, overlapping consensus, um nur einige zu nennen. Für mich am bedeutendsten ist die Systematik, mit der er eine Gerechtigkeitstheorie entfaltet hat, die in der Tradition des kantischen Konstruktivismus steht und diese geprägt hat; die Nähe zur Diskurstheorie war für mich immer sichtbar und bildete einen wichtigen Anknüpfungspunkt. So konnte ich mir einen eigenen Weg vor dem Hintergrund der, wenn man so will, kantischen Familie bahnen, ohne an seinen Begriffen zu kleben. Rawls freilich hat die Kunst des kontrafaktischen systematischen Nachdenkens über Grundsätze der Gerechtigkeit wie kein anderer seiner Zeit praktiziert, ohne dabei jedoch den Bezug zu den gesellschaftlichen Konflikten zu verlieren, auf die die Theorie bezogen ist (die dort allerdings kaum explizit verhandelt werden, auch wenn sie ihn stark motivierten – das gilt insbesondere für das civil rights movement).

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch Rawls‘ Schriften zu lesen?

Wer politische Philosophie betreibt, kommt an seinem Werk nicht vorbei; er gehört zu den ganz großen Klassikern. Die Geister scheiden sich zwar an jedem der oben aufgeführten Begriffe, aber auch das ist einer der Gründe dafür, dass seine Theorie noch immer die Landschaft prägt. Weitere werden kommen und plausible Alternativen vorlegen, aber noch lange werden wir sie an diesem Markstein messen. Wer hingegen glaubt, Rawls‘ Theorie als typisches Produkt der 60er-Jahre historisieren und damit zu den Akten legen zu können, sollte nicht nur die Kraft seiner Systematik auf sich wirken lassen, sondern auch die Differenz zwischen kontrafaktischen Prinzipien und realen Gesellschaften im Auge behalten, ohne die es kein kritisches Denken geben kann. Wer etwa das Differenzprinzip einmal unverkürzt verstanden hat, sieht, wie sehr Rawls die liberale und die sozialistische Tradition immanent zu verbinden suchte. Seine Zurückweisung des Verdienstgedankens und seine Kritik an gängigen liberal-libertären Rechtfertigungen der Ungleichheit sind radikaler als manch andere Ansätze, die als egalitaristisch charakterisiert werden. Und noch immer enthält sein Werk ungehobene Schätze, etwa sein Humboldt‘sches Ideal einer historischen politischen Gemeinschaft.

Ein Werk wie das seine muss natürlich aus seiner Zeit heraus verstanden werden, auch wenn es weit über sie hinaus deutet. Richtig ist aber, dass wir es danach befragen müssen, inwiefern es auf unsere Gegenwart anwendbar ist. Eine kritische Theorie der Gerechtigkeit, die sich auf der Höhe der Zeit befindet, muss die Implikationen der Globalisierung und die damit verbundene Herausforderung einer demokratischen, transnationalen Politik ebenso berücksichtigen wie zentrale kulturelle Aspekte von Gerechtigkeit und Emanzipation (samt der historischen und strukturellen Dimension des Unrechts) oder die Verbindung zwischen sozialen Bewegungen und demokratischen Strukturen. Das bedeutet, dass sie über Rawls hinausgehen muss. Ignoriert man seine Theorie aber oder liest sie stereotyp, fällt man in diesem Versuch leicht hinter sie zurück.

 

Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktor des Forschungszentrums Normative Ordnungen. Demnächst erscheint bei Suhrkamp Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant

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Lisa Herzog

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls Texten aus?

Es müsste im zweiten Semester meines Studiums gewesen sein, in einem Seminar zu Vertragstheorien an der LMU in München bei Martin Rechenauer. Als ich später nach Großbritannien kam, war Rawls allgegenwärtig. Und während andere „klassische“ Texte immerhin mit einer gewissen historischen Einordnung versehen wurden, war bei Rawls der Eindruck, der implizit vermittelt wurde, ein komplett ahistorischer. Rawls schien der Fixstern am philosophischen Himmel zu sein, um den andere Planeten wie Nozick, Cohen, Dworkin etc. kreisten.

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Die Idee des Schleiers des Nichtwissens und das Differenzprinzip muss man auf jeden Fall kennen, das sind bahnbrechende Ideen. Im Vergleich dazu werden die Überlegungen aus den hinteren Kapiteln der „Theory of Justice“, zum Beispiel zu sozialer Stabilität, oft vergessen. Dort zeigt sich aber, dass Rawls doch um einiges soziologischer dachte, als die abstrakte Vertragstheorie alleine vermuten ließe.

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch Rawls‘ Schriften zu lesen?

Auf jeden Fall – aber eben als Texte aus den 1970ern bis 1990ern, die man stark vor dem Hintergrund der damaligen Ideengeschichte und auch Wirtschaftsgeschichte lesen muss. Rawls wurde oft als jemand verstanden, der das „westliche“ Modell von Kapitalismus plus Wohlfahrtsstaat rechtfertigte, aber es gibt einige Bemerkungen bei ihm – zu „demokratischem Sozialismus“ und „property-owning democracy“ – die zeigen, dass er durchaus weiter dachte. Leider hat er diese Ideen kaum ausgeführt, aber viele heutige Diskussionen knüpfen daran an, im Dialog zwischen ökonomischen und philosophischen Argumenten. Das ist ein sehr spannendes Terrain.

Ergänzen wollen würde ich Rawls‘ Gedankenwelt, was Geschlechtergerechtigkeit und Gerechtigkeit zwischen Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen angeht, anknüpfend an Kritiker*innen wie Susan Okin oder Charles Mills. Und auch für die Frage danach, wie die Wirtschafts- und Arbeitswelt gerecht und demokratisch gestaltet werden kann – nicht nur in ihren distributiven Ergebnissen, sondern auch in ihren alltäglichen Strukturen – muss man über Rawls hinausgehen.

 

Lisa Herzog ist Professorin für Politische Philosophie an der Universität Groningen. Sie arbeitet zu Fragen an der Schnittstelle von Ökonomie und Philosophie, derzeit v.a. zu Wirtschaftsdemokratie, Organisationsethik und dem Verhältnis von Wissen und Demokratie.
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Ottfried Höffe

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls Texten aus?

John Rawls’ Denken lernte ich zu Beginn des akademischen Jahres 1970/71 kennen, das ich als Visiting Scholar am Department for Philosophy der Columbia University in the City of New York verbrachte. Dort wurde schon vor dem Erscheinen von Rawls’ Opus magnum, A Theory of Justice, mit achtungsvoller Erwartung gesprochen. Der mir von Deutschland noch unbekannte Philosoph hatte nämlich schon einige eindrucksvolle, man darf ohne zu übertreiben sagen: bahnbrechende Aufsätze veröffentlicht, unter anderem: „Justice as Fairness“ (1958), „The Sense of Justice“ (1963), „Distributive Justice: Some Addenda“ (1967) und „The Justification of Civil Disobedience“ (1969).

Ich habe die Texte mir rasch besorgt, mit wachsendem Interesse gelesen und mich in meiner damals heranreifenden Habilitationsschrift unter dem Stichwort „Gerechtigkeit als Nutzenkalkulation (Rawls)“ mit Rawls’ beiden methodischen Gedanken, der rationalen Wahl und dem Überlegungsgleichgewicht, auseinandergesetzt. Darüber hinaus habe ich in der Philosophischen Rundschau eine ausführliche Besprechung zu A Theory of Justice veröffentlicht. Wie in der Habilitationsschrift, die später unter dem Titel Strategien der Humanität. Zur Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse (1975) erschien, widmete ich mich auch in der Rezension dem englischen Original, da die deutsche Übersetzung erst kurz darauf veröffentlicht wurde.

Um zu zeigen, wie Rawls die Grundlagen seines Hauptwerkes sich mit langem Atem erarbeitet hat, habe ich 1977 die vier genannten Aufsätze auf Deutsch veröffentlicht, zusammen mit einem Vorwort des Harvard Philosophen, einem einführenden Kapitel zu „Rawls’ Theorie der politisch-sozialen Gerechtigkeit“ und Literaturhinweisen zum Thema Gerechtigkeit generell, von und zu Rawls sowie zu einem methodischen Aspekt seines Werkes, der Entscheidungstheorie und Spieltheorie.

Einer der für die damals prominente Reihe „Theorie-Diskussion“ Verantwortlichen, Jürgen Habermas, bat mich, einen Sammelband zu Rawls’ großem Werk zusammenzustellen. Dieser Band mit dem Titel Über John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1977) versammelt nach meiner „Kritischen Einführung“ in drei Teilen („I. Fragen der Methode“, „II. Die Prinzipien der Gerechtigkeit“ und „III. Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Aspekte“) für die damalige Rawls-Debatte so einflussreiche englischsprachige Autoren wie Brian Barry, P.H. Nowell-Smith, H.L.A. Hart, Richard W. Miller, Kenneth J. Arrow, Benjamin R. Barbe und Amartya K. Sen sowie die aus dem deutschen Sprachraum stammenden Autoren Norbert Hoerster, Karl G. Ballestrem und Michael Gagern.

Seitdem habe ich mich zu Rawls’ Denken und dessen Entwicklung mehrfach geäußert, habe beim ersten französischen Symposion zu Rawls mitgewirkt: Individu et justice sociale. Autour de John Rawls (1988), habe zu seinem ersten, A Theory, und seinem zweiten Hauptwerk Political Liberalism Symposien veranstaltet und die danach von den Autoren überarbeiteten Texte in der Reihe „Klassiker auslegen“ veröffentlicht. Ich konnte, von Rawls als Visiting Scholar seiner Universität eingeladen, mit ihm selber diskutieren, ihn dabei als höchst bescheidene Persönlichkeit kennengelernt, und hatte als Kant-Freund, der ich mittlerweile geworden war, das Glück, eine seiner letzten, ebenso kenntnisreichen wie pointierten Vorlesungen zur Kant’schen Moralphilosophie besuchen zu können.

Die Veröffentlichung der Vorlesungsreihe Lectures on the History of Moral Philosophy (2000) gehört mit ihrer „Einleitung. Neuzeitliche Moralphilosophie (1600–1800)“ und ihren vier Teilen zu Hume, Leibniz, Hegel und Kant zu den besten Interpretationen dieser Epoche und ihrer herausragenden Autoren. Deshalb findet sich hier ein erster Grund, um der dritten Frage vorzugreifen, warum sich Rawls zu lesen noch lohnt. Man kann es zeitökonomisch begründen: Wer zu den genannten Autoren selbst zusätzlich Rawls’ Interpretationen liest, erspart sich die Fülle der üblichen Sekundärliteratur.

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Nach meiner Einschätzung ist Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit der bedeutendste englischsprachige Beitrag, zur philosophischen Ethik und politischen Philosophie, vermutlich ist es sogar das überhaupt wichtigste Werk des 20. Jahrhunderts. Die Schrift nimmt gegenüber den vorangegangenen philosophischen Debatten derart grundlegende, radikale Veränderungen vor, dass sie einen Paradigmenwechsel, sogar mehrdimensionalen Paradigmenwechsels einleitete. Fünf durch Rawls angestoßene Veränderungen machen diesen hohen Anspruch verdient:

Als erstes löst Rawls die damalige Vorherrschaft der Metaethik zugunsten der normativen Ethik ab. Sodann verwirft er die in normativen Debatten des anglophonen Sprachraums dominante utilitaristische Ethik und plädiert für eine im Wesentlichen von Kant inspirierte Moral- und Politikphilosophie. An die Stelle des Prinzips vom „größten Glück der größten Zahl“ tritt der Gedanke der Gerechtigkeit als Fairness. Dabei treten drittens im Vergleich zu den damals in Deutschland vorherrschenden philosophiegeschichtlichen Überlegungen streng systematische Analysen ebenso in den Vordergrund wie grundlegende Erwägungen zu Fragen der angewandten Ethik. Viertens bedient sich Rawls einer neueren, für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gemeinsamen Sprache, nämlich der der Entscheidungs- und Spieltheorie, was half, das zuvor in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wenig geschätzte Thema Gerechtigkeit in diesen Kreisen hoffähig zu machen und eine Debatte von fast industriellem Ausmaß loszutreten. Nicht zuletzt erweist sich Rawls’ Theorie dank des Begriffs und der Liste der gesellschaftlichen Grundgüter als empirisch anschlussfähig.

Weil mich jedes Element dieses fünffachen Paradigmenwechsels fasziniert hat, kann ich schwerlich eine einzige Idee oder einen einzigen Begriff als für mich besonders bedeutungsvoll herausheben. Soll es trotzdem geschehen, so besteht sie beziehungsweise er in der von Kants Gedanken der Autonomie inspirierten vertragstheoretischen Auffassung von Gerechtigkeit als Fairness: dass die Gerechtigkeit die schlechthin erste, nicht verhandelbare Tugend sozialer Institutionen ist, dass deren Prinzipien freie und vernünftige Menschen in einer ursprünglichen Situation der Gleichheit in ihrem eigenen Interesse wählen und dass die Prinzipien für jede einzelne Person unveräußerliche und unverletzliche Rechte beinhalten.

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch Rawls‘ Schriften zu lesen?

Binnen kurzem ist Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit zu Recht, nämlich wegen der skizzierten Paradigmenwechsel, zu einem wahrhaften Klassiker der politischen Ethik und politischen Philosophie aufgestiegen. Seither liest sich der Sache und Substanz nach deren Geschichte als „Geschichte der politischen Ethik und politischen Philosophie von Platon bis Rawls“. Somit verdient Rawls’ Theorie die Aufmerksamkeit eines Klassikers. Sie entfaltet nämlich auf eine epochemachende Weise ein existenzielles Grundthema der Menschen, die Gerechtigkeit, klärt deren entscheidende Begriffe, entfaltet überzeugende Argumente, stellt hochplausible Grundsätze auf und behandelt das Ganze in einer thematischen Breite und Weite, die ihresgleichen sucht.

Rawls ist auch insofern ein philosophischer Klassiker, als er sich mit dem ersten, obwohl überragenden Werk nicht zufrieden gibt. Vorbereitet durch eine Reihe teils klärender, teils weiterführender Abhandlungen veröffentlicht er gut zwei Jahrzehnte später ein zweites Hauptwerk, mit dem er einen eindrucksvollen Lernprozess beweist. Der Politische Liberalismus (1993) übernimmt, wie bekannt ist, aber hier nochmals erinnert werden soll, um das Gewicht der Veränderungen nicht zu überschätzen, die Grundannahmen der Theorie: die methodische Elemente, die Vertragstheorie und das Überlegungsgleichgewicht, ferner die Liste der gesellschaftlichen Grundgüter und, geringfügig umformuliert, die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze. Neu sind nur, jedoch immerhin, drei oder vier Elemente:

Rawls nimmt einen Grundzug der modernen Gesellschaften, ihren Pluralismus, ernst und senkt seinetwegen den Anspruch der Überlegungen auf „politisch, nicht metaphysisch“. Er verzichtet nämlich auf umfassende Lehren und gibt sich mit einem überlappenden Konsens der in der Gesellschaft verbreiteten religiösen, weltanschaulichen, auch philosophischen Lehren zufrieden. In diesem Zusammenhang führt er den Gedanken einer öffentlichen Vernunft ein, den er public reason nennt, was als öffentlicher Vernunftgebrauch ins Deutsche übersetzt wird. Nicht zuletzt nimmt er sich die Verfasstheit und Verfassung seines Heimatlandes, der USA, zum Vorbild, freilich ohne dabei einem unkritischen Patriotismus zu verfallen.

Auch mit diesen Neuerungen noch nicht zufrieden, veröffentlicht er einige Jahre später eine Philosophie des Völkerrechts: The Law of Peoples (1999).

Diese Schriften lohnen sich unter anderem deshalb zu lesen, weil sie von allem anderen Inhaltlichen abgesehen das Modell eines politischen Philosophen praktizieren, das man nicht exklusiv vertreten muss, aber doch als Vorbild schätzen darf. Nach dem impliziten Muster, das Kant im „Geheimen Artikel“ in seiner Schrift Zum ewigen Frieden zeichnet, sollen Philosophen, im Gegensatz zu Platons Modell des Philosophen-Königs, sich damit begnügen, Grundsätze für eine vernünftige Politik zu begründen, deren Anwendung unter den Bedingungen der jeweiligen Wirklichkeit aber den Politikern und als deren Beratern den Juristen überlassen.

Diesem Muster eines streng akademischen Philosophierens folgt Rawls in all seinen Schriften. In der Theorie setzt er es für die erste Tugend der sozialen und politischen Welt um, für die Gerechtigkeit, im Politischen Liberalismus für den pluralistischen Grundzug der modernen, rechts- und verfassungsstaatlich organisierten Demokratie und im Recht der Völker für die internationalen Beziehungen. Diese strenge Selbstbescheidung schließt freilich nicht aus, dass er dort, wo es aus den eigenen Grundgedanken folgt, Verbindlichkeiten formuliert, die, wie die im Politischen Liberalismus formulierte Forderung nach einer medizinischen Grundversorgung für alle Bürger, die damals, nämlich noch vor der sogenannten Obama-Care, für die USA ohne Zweifel einen revolutionären Charakter hatte.

Obwohl ansonsten ein streng universitärer Philosoph, verlässt Rawls dort, wo er eine Ausnahmesituation gegeben sieht, den geschützten Raum der akademischen Welt. Dies war ihm zufolge zwei Mal der Fall. Bei den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er-Jahre, namentlich dem Protest gegen den Vietnam-Krieg, und beim Gedenken an den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erweitert er die sein Leben vornehmlich bestimmende Devise „La noblesse et le talent obligent“ um einen dritten Aspekt: „La noblesse, le talent et l’heure obligent“. In einer Ausnahmesituation erhebt der Philosoph seine Stimme, die ihren streng philosophischen Charakter freilich nicht aufgibt. Im ersten Fall entwickelt Rawls eine detaillierte Theorie des zivilen beziehungsweise staatsbürgerlichen Ungehorsams, im zweiten Fall klare Kriterien für einen gerechten Krieg. Dazu gehört das Verbot von Bombardierungen, die wie die genannten Atombomben, nach Rawls aber auch die Bombardierung von Dresden, vor allem zivile Opfer fordern.

Nicht jeder politische Philosoph muss diesem Modell entsprechend praktizieren. Gegen die Gefahr, wegen seines akademischen Renommees in die politische Arena mit eher partikularen Vorlieben einzutreten und sich als ständig gefragter politischer Intellektueller zu gerieren, bietet Rawls eine hochachtenswerte Alternative.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. ist Philosoph und Professur emeritus an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er veröffentlichte unter anderem „Gerechtigkeit denken. John Rawls‘ epochales Werk der politischen Philosophie“, 2. erweiterte Auflage mit Bemerkungen zur Coronapolitik und Kritik an Karl Lauterbach, Freiburg 2021.

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Luise Müller

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls Texten aus?

Es muss die Vorlesung zur Modernen Politischen Theorie bei Bernd Ladwig während meines BA-Studiums an der FU Berlin gewesen sein. Wie wahrscheinlich bei vielen hat die berühmte Rawls’sche Idee des Urzustandes und den mittels rationalen Entscheidungen bestimmten Gerechtigkeitsprinzipien hinter einem ‚Schleier des Nichtwissens‘ – als Modell für Unparteilichkeit – bei mir tiefen Eindruck hinterlassen. Die Eleganz dieser argumentativen Figur hat mich völlig verblüfft: so raffiniert, aber trotzdem so intuitiv und klar (wobei Bernd Ladwigs bestechender Vorlesungsstil sicher effektverstärkend gewirkt hat). 

Als ich mich dann aber daran gesetzt habe, die Theorie der Gerechtigkeit komplett zu lesen, empfand ich das als unheimlich mühsam. Rawls schreibt ja eher trocken. Es war also Glück, dass ich danach noch mit zwei Rawls-Kennern – Jonathan Wolff im Masterstudium und Stefan Gosepath während der Promotionsphase – in Kontakt war, die in Vorlesungen und Gesprächen Rawls so kontextualisiert haben, dass sich mir die Systematik nach und nach erschlossen hat. 

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Für mein Verständnis der Rawls’schen Theorie ist der Begriff der Sozialen Kooperation grundlegend. Rawls versteht Gesellschaften als Systeme sozialer Kooperation, in denen wir durch Arbeitsteilung gemeinsam Güter hervorbringen, die dann wiederum fair verteilt werden sollen. Soziale Kooperation dient also dem gegenseitigen Vorteil – in dem Sinne, dass wenn wir uns zusammentun, dann jede:r davon profitiert. Soziale Kooperation verlangt uns aber eben auch etwas ab, wenn wir uns an ihr beteiligen: zum Beispiel Arbeit (und nicht nur Lohnarbeit, sondern auch Care-Arbeit, wie beispielsweise Elizabeth Anderson argumentiert). Auch diese Lasten gilt es fair zu verteilen. 

Eine faire Verteilung liegt dann vor, wenn alle Beteiligten daraus den größten Vorteil ziehen können – wobei wir immer von der Präsumtion der Gleichheit ausgehen. Rawls fragt nun: wie ist soziale Kooperation in einer pluralistischen Gesellschaft möglich? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Personen ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben als wechselseitig vorteilhaft verstehen können? Das Gegenteil von sozialer Kooperation sind verschiedene Arten der Beherrschung, wie Sklaverei oder eine Kastengesellschaft, die eben nicht für alle vorteilhaft sind und nicht auf allgemein akzeptablen Regeln basieren, sondern auf Regeln, die zumindest für einen Teil der Gesellschaft nicht akzeptabel sein können. In so einer Gesellschaft findet zwar auch Arbeitsteilung statt, aber wir kooperieren dort nicht, sondern werden lediglich koordiniert. 

Die Idee der Gesellschaft als System sozialer Kooperation erhellt viele Rawls’sche Argumente. Ein Beispiel ist Rawls‘ Begründung der Menschenrechte. Rawls hat hier eine Konzeption, die ich als ‚relational‘ bezeichne, denn bei ihm sind Menschenrechte die notwendigen Bedingungen für genuin soziale Kooperation. Die Idee ist, dass Personen sich nur dann an der gesellschaftlichen Kooperation beteiligen können (und wollen können), wenn dabei ihre basalen Interessen geschützt werden. Denn wenn dem nicht so wäre, könnte man wohl kaum von ‚gegenseitigem Vorteil‘ reden.

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch Rawls‘ Schriften zu lesen?

Rawls’ Einfluss auf die Politische Philosophie kann man wohl kaum überschätzen. Es gibt zunächst einmal strategische Gründe, Rawls zu lesen – man kann nämlich bei vielen zeitgenössischen Debatten kaum mitreden, wenn man nicht zumindest mit den Grundzügen von Rawls‘ Theorie vertraut ist. Diese Debatten wurden oft angeregt durch Rawls’ Argumente, oder auch durch Unterscheidungen, die Rawls eingeführt hat. Man kann hier an globale Gerechtigkeit, Menschenrechte, strukturelle Ungerechtigkeit, oder ideale und nicht-ideale Theorie denken. Dabei ist es mitnichten so, dass Rawls in diesen Debatten durchweg affirmativ behandelt wird; vielmehr ist er oft das Ziel von kritischen Einwänden und Deutungen. Aber auch dafür muss man Rawls gelesen haben – und zwar sorgfältig. Man kann kritisch gegenüber Rawls sein und dabei gleichzeitig ein tiefes und faires Textverständnis an den Tag legen. 

Aber es gibt natürlich nicht nur strategische Gründe, Rawls zu lesen. Eine brillante Beobachtung des oben erwähnten Jo Wolff ist, dass Rawls umso cleverer wird, desto cleverer man selbst wird. Damit meinte er, dass viele der Einwände, die man sich bei der Beschäftigung mit Rawls so einfallen lässt, allein durch erneute Lektüre entwaffnet werden – als ob der Autor diese Einwände schon antizipiert hätte. Man kommt also nicht so richtig von Rawls los, wenn man sich einmal die Mühe gemacht hat, etwas tiefer in sein Denken einzusteigen. Das wiederum ist der Grund, so meine Vermutung, dass Rawls heute immer noch gelesen wird. Es geht nicht nur um ein einzelnes freistehendes Argument, sondern um eine systematische Theorie, die den Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit erhellt. 

 

Luise Müller vertritt seit April 2021 eine Professur für Praktische Philosophie an der Universität Hamburg, wo sie Politische Philosophie und Ethik lehrt. Schwerpunkte ihrer Forschung sind Gerechtigkeitstheorien, politische Autorität jenseits des Staates, Tierethik und die ethischen Implikationen künstlicher Intelligenz und digitaler Technologien.
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Peter Niesen

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls Texten aus?

Ich habe die Theorie der Gerechtigkeit zu Studienbeginn in Frankfurt am Main gegen ein gebrauchtes Fahrrad eingetauscht. Im Gegensatz zu den Philosophischen Untersuchungen oder der Theorie des kommunikativen Handelns war das damals noch kein Buch, das man um keinen Preis aus der Hand gab. Rawls war ja der Autor mit dem „soziologischen Defizit“. Danach ein für die Rawls-Studien verlorenes Jahr in England, in dem „Tim“, „Ron“ und „Tom“ ständig über „Jack“ sprachen, ich aber keine Ahnung hatte, wen sie meinten. Ich weiß nicht, ob „Jack“ sich selbst von der exkludierenden Unsitte distanziert hätte, Intimität in der Akademie durch den Gebrauch von Spitz- und Kosenamen herzustellen.

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Die Idee der Gesellschaft als System fairer Kooperation zwischen freien und gleichen Personen ist die grundlegende intuitive Idee des Gesamtwerks – eine Idee, die Rawls zufolge jedenfalls in den demokratischen Gesellschaften unumstößlich gewiss ist. Von dieser Idee hängt alles Folgende ab, und ohne sie bricht die ganze konstruktivistische Theoriearchitektur zusammen. Den Urzustand und die Gerechtigkeitsprinzipien kann man sich als bloße Illustrationen dieser ursprünglichen Annahme vorstellen. Die grundlegende Idee ist aber gleichzeitig die am wenigsten bearbeitete, ausgeführte und auch am wenigsten diskutierte und kritisierte Idee des Gesamtwerks. Davon, was uns zusteht, wenn wir kooperieren, handelt das gesamte erste Buch. Wann wir kooperieren und was es überhaupt heißt zu kooperieren, wird hingegen lediglich in einer Fußnote im Politischen Liberalismus (S. 275 f.) sowie in einer knappen Verbeugung gegenüber der feministischen Kritik in Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf abgehandelt. Da geht es um die Surfer vor Malibu und um die Lektionen, die sich aus den Debatten um Familienarbeit lernen lassen, aber es gibt weder eine systematische Auseinandersetzung mit den Wesensmerkmalen der Kooperation noch eine Erörterung ihrer historischen Transformationen. Aus diesem blinden Fleck folgt dann im Recht der Völker die am Ende des 20. Jahrhunderts mehr als erstaunliche Schlussfolgerung, die Weltgesellschaft sei nicht als System der Kooperation zu verstehen und daher nicht am Fairnessgedanken zu messen, eine Auffassung, die ja sogar die Ökonomen überrascht hat. Ein unplausibel enges Verständnis hat die Gerechtigkeitstheorie unserer Tage vom Kooperationsbegriff abrücken und nach funktionalen Äquivalenten suchen lassen, die für die Gewinnung von Pflichten, aber auch die Rationalität gesellschaftlicher Kohäsion bürgen sollen. Auch in der Demokratietheorie ist aus der kooperationstheoretischen Linie, die zuletzt Axel Honneth aktualisiert hat, kein breiter Strom von Arbeiten geworden. Es ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach, für eine „post-work society“ einen neuen Begriff der Kooperation zu entwickeln, der sich nicht darauf beschränkt, dass jemand ein Leben lang in die Sozialsysteme einzahlt. Andererseits wird es, solange wir nicht über eine Theorie der Kooperation verfügen, und zwar sowohl in normativer als auch in gesellschaftstheoretischer Hinsicht, in der Gerechtigkeits- und Legitimitätstheorie schwerlich Fortschritte geben.

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch Rawls‘ Schriften zu lesen?

Eine Überlegung, die auf dem Kooperationsgedanken aufbaut: Zwar hat Rawls es immer abgelehnt, Mensch-Tier-Verhältnisse in seiner Theorie der Gerechtigkeit oder in seiner liberalen Legitimitätstheorie zu erörtern. Die Idee einer Interspezies-Kooperationsgemeinschaft könnte aber unter Umständen geeignet sein, jenseits der ausgetretenen Pfade der Tierrechtstheorie in demokratischen Gesellschaften zu einem übergreifenden Konsens, zumindest in der Behandlung von domestizierten Tieren, beizutragen. Denn erstens lässt sich schwerlich bestreiten, dass alle dauerhafte politische Unterwerfung, der man sich nicht entziehen kann, den Unterworfenen gegenüber rechtfertigungsbedürftig ist – das ist Rawls’ Argument aus der „politischen Beziehung“ im Politischen Liberalismus. Und wer wollte zweitens dementieren, dass denjenigen, die zum wechselseitigen Vorteil kooperieren, verbindliche Ansprüche daraus erwachsen? Das ist das Argument aus der Theorie der Gerechtigkeit. Die Frage ist, wie sich diese intuitiv einleuchtenden Ideen adäquat darstellen lassen. In der von Rawls entwickelten Version des Urzustands ist das schwerlich möglich. Sie ist zur fairen Verteilung von Rechten und Gütern an sehr verschiedenartige und zudem ungleich interessierte Parteien nicht geeignet. In seiner Demokratietheorie wird die Anerkennung als Bürgerinnen und Bürger nur reflexionsfähigen Wesen zuteil und die Unterwerfung unserer Mit-Wesen muss nur denjenigen gegenüber gerechtfertigt werden, die zu vernünftiger Autonomie in der Lage sind. Mit Rawls käme man hier womöglich weiter, wenn man nur entschlossen genug gegen Rawls argumentierte… 

 

Peter Niesen ist seit 2013 Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie, an der Universität Hamburg. Er war 2007 Gründungsmitglied des Exzellenzclusters „Herausbildung normativer Ordnungen“. Zu seinen neueren Veröffentlichungen zählt „Reframing civil disobedience: Constituent power as a language of transnational protest“, Journal of International Political Theory (2019).
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Walter Reese-Schäfer

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls Texten aus?

Anfang der 1980er-Jahre hatte ich nach einigen Jahren als Führungsmitglied der Hamburger Jungsozialisten die völlige Unzulänglichkeit der damals prominenten Theorieansätze erkannt. Die politische Theorie von Marx war zu dünn und oberflächlich. Seine ökonomische Theorie hielt in fast keinem Punkte der Diskussion stand und hatte sich dadurch als intellektuelle Sackgasse erwiesen, aus der auch Relektüreversuche keinen Ausweg mehr boten. Karl Popper blieb zu eng an Wissenschaftstheorie und kritischer Ideengeschichte. Und an der Basis der Sozialdemokratie konnte der etwas elitäre Kulturalismus der Frankfurter Schule auch nicht wirklich helfen.

Also mussten wir nach einer Gerechtigkeitstheorie suchen, die zugleich politisch-praktische Abwägungen ermöglichte. Damals bildeten wir im Rahmen der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus eine Hamburger Arbeitsgruppe, die in wöchentlichen Treffen Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit Kapitel für Kapitel durchsprach. Die Mitglieder dieser bundesweiten Initiative waren Sozialdemokraten, welche die „Stamokap“-Ideologie, den KP-Kommunismus und das maoistische Sektendenken entschieden ablehnten. 

Die Gründlichkeit und Qualität dieser wöchentlichen Diskussionen übertraf weit die Intensitäten der Textdurchdringung, die in universitären Seminaren möglich war. Davon habe ich später außerordentlich profitiert und deshalb auch die stetig fortschreitende Selbstliberalisierung von Rawls‘ Theorie mit allergrößtem Interesse nachvollzogen und in meiner Habilitationsschrift ja dann auch sehr pointiert dargestellt. Damals, in den 1980er-Jahren, erschien uns die Theorie der Gerechtigkeit durchaus noch als umfassende Theorie. Von solchen „comprehensive doctrines“ hat Rawls sich später immer weiter distanziert, weil er darin eine Art Restdogmatismus seiner eigenen Konzeption erkannte.

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Das sind mehrere Ideen: Der Vorrang der Freiheit, das Überlegungsgleichgewicht, die Idee eines übergreifenden Konsenses und nicht zuletzt die grundsätzliche Trennung des Reichs der Politik vom dem der Philosophie – mit dem Vorrang des Politischen. Das sind alles Ideen, mit denen man Pragmatiker entzücken und rechtgläubige Ideologen ärgern kann. Der Kern war Rawls‘ theoretisch fundierte Respektierung von vernünftig begründeten Meinungsverschiedenheiten, also die Einsicht, dass in der praktischen Welt mehrere grundverschiedene Positionen richtig sein können. Damit hat er alle eindimensionalen „umfassenden Lehren“ aus der Welt der Politik verwiesen.

Theoriestrukturell war am wichtigsten, dass Rawls den Vorrang der Freiheit vor der sozialen Gerechtigkeit als Grundvoraussetzung postulierte. Daraus ergab sich seine recht spezielle Verwendung des sogenannten Pareto-Optimums, welche darauf hinausläuft, dass immer nur der Zuwachs verteilt wird. So sollte – jedenfalls diesem Modell zufolge – niemandem etwas weggenommen werden. Enteignungen waren also, anders als in der Welt der Marxisten und anderer sozialer Zwangslehren, nicht vorgesehen. 

Zuletzt erschien unserer Hamburger Studiengruppe lehrreich, dass sein zweites Gerechtigkeitsprinzip darauf angelegt war, ausdrücklich Ungleichheiten zu rechtfertigen, nämlich immer dann – und nur dann –, wenn sie zugleich den am wenigsten Begünstigten größtmögliche Vorteile bringen. Argumentativ war dies vertrackt, denn das Prinzip ging natürlich, wie alle sozialistischen Theorien, von der grundsätzlichen Voraussetzung der ökonomischen Gleichheit aller aus. Durch die Kombination allerdings des Vorrangs der Freiheit mit dem Nutzen für die Ärmsten (so lasen wir berechtigterweise die am wenigsten Begünstigten) waren Ungleichheiten zur Förderung der Wirtschaftsdynamik nicht nur zu tolerieren, sondern geradezu der Motor einer fairen Verteilung. Rawls hatte damals also auf brillante Weise den Kapitalismus gerechtfertigt – mit dem Argument seines sozialen Nutzens. Brillant deshalb, weil das auch Linke einsehen konnten.

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch Rawls‘ Schriften zu lesen?

Es lohnt sich jetzt wieder und von Neuem, Rawls gründlich zu durchdenken. Alle kommunistischen Modelle, die den Kapitalismus abschaffen wollten, sind am fundamentalen Knappheitsproblem ihrer Produktionsleistungen gescheitert. Das war ein überflüssiger und schrecklicher Menschenversuch, der die chinesischen, aber auch einige andere postkommunistische Regimes in Asien dazu geführt hat, die kapitalistische Wirtschaftsform, aber ohne Freiheit, entschlossen in ihren Dienst zu nehmen. Wenn man das heute nach den Maßstäben von Rawls‘ Theorie beurteilen will, muss man fragen, ob er wirklich den Vorrang der Freiheit, also sein allererstes Gerechtigkeitsprinzip, gründlich und intensiv genug begründet hat. Denn die Freiheit ist heute durch den wirtschaftlichen Erfolg des Singapurer und noch mehr des chinesischen Modells in die Defensive geraten. Schlimmer noch. Man wird zugeben müssen, dass die viele tausend Titel zählende Rawls-Literatur eine auffällige Schlagseite hin zum zweiten, eher sozialen Gerechtigkeitsprinzip hat, auf welches sich die Erörterungen meistens und meiner Auffassung nach zu stark konzentrieren. Die Freiheit, sei es die allgemeine politische der Selbstbestimmung, sei es die individuell-persönliche, ist leider nur ganz selten das Hauptanliegen der meisten Anhänger von Rawls gewesen. Ich meine, das ist nicht unbedingt die Schuld des Meisters, sondern die seiner linksautoritären Follower. Auf jeden Fall muss sehr kritisch geprüft werden, wie das postmaoistische China aus der Sicht der Gerechtigkeitstheorie zu beurteilen ist. Wenn der späte Rawls in seinen Überlegungen zur internationalen Politik „wohlorganisierte“ autoritäre Staaten als respektabel ansah, hatte er wohl doch eher nur Länder wie Singapur vor Augen. Aber nicht das immer neoimperialer auftretende heutige China.

Aus diesem Vorrang des zweiten Gerechtigkeitsprinzips sind bei einigen Anhängern von Rawls politische Erweiterungskonzeptionen globaler Gerechtigkeit erwachsen, die auf eine radikale weltweite Umverteilung des Wohlstandes und vor allen Dingen auf eine ungebremste globale Migration hinauslaufen. Rawls selber hat hingegen in seiner wichtigen Schrift Das Recht der Völker auf die Notwendigkeit des Nationalstaats und der Ländergrenzen hingewiesen. Unter dem Lärm solcher Propagandisten ist seine höflich zurückhaltende Kritik allerdings verhallt. Wenn man sich damit heute gründlich beschäftigt, kommt man zu dem Ergebnis, dass Rawls‘ gesamte Theorie immer einen Kooperationszusammenhang voraussetzt, innerhalb dessen es um die faire Verteilung der Erträge geht. Sofern einer Verteilung innerhalb einer Arbeitsgruppe, einer Firma oder einer staatlichen Solidargemeinschaft keine Kooperation zugrunde liegt, wie es zum Beispiel beim garantierten Mindesteinkommen auch für Nichtstuer oder bei einer zwangsweisen Einkommensangleichung zwischen reichen und ärmeren Ländern der Fall ist, wären bei Rawls selber dafür keine Argumente zu finden. Nur wer kooperiert, hat Anspruch auf die Erträge – jedenfalls grundsätzlich gesprochen. Die Details und Spezialfragen können an dieser Stelle nicht erörtert werden.

Neuerdings hat Richard Rorty in der deutschen Politikwissenschaft wachsende Aufmerksamkeit erfahren, unter anderem durch Dirk Jörke, Jens Hacke und Christian Schwaabe in der Nachfolge meiner eigenen Veröffentlichungen. Rorty hat am pointiertesten den Vorrang demokratischer Politik bei Rawls vor allen Verteilungsregeln herausgearbeitet. Eine Rawls-Lektüre aus der Perspektive Rortys und vor allem der Blick auf seine pragmatische Wende in den umfangreichen und glänzenden Schriften nach der Theorie der Gerechtigkeit dürfte sich gerade auch in Zukunft als außerordentlich ergiebig erweisen. Hier ist noch vieles aufzuarbeiten und zu durchdenken. Der frühe Begeisterungssturm für eine globale Anwendung von Rawls‘ Lehren war wohl eher dem Zeitgeist der großen sozialistisch-technokratischen Gesamtlösungen und natürlich dem weltrevolutionären Anspruch einiger unverbesserlicher Ideologen geschuldet. Ein heute neu formatierter Zeitgeist von Vielfalt, Diversität und stärkerer Individualisierung bedarf eben auch einer neuen Beschäftigung mit diesem bahnbrechenden und immer noch nur in Teilen verstandenen Gerechtigkeitstheoretiker. Eine forderungsmäßige Überbietung von Rawls durch radikalere Umverteilungsideen ist jederzeit leicht möglich, geht aber immer auf Kosten der Pareto-Effizienz, wie Rawls sie verstanden hatte. Was aber die Qualität seiner Argumentation, deren Stringenz und Konsistenz, aber auch deren toleranten und abwägenden Geist angeht, bleibt Rawls bisher überboten.

 

Prof. Dr. Walter Reese-Schäfer, Universität Göttingen, Politikwissenschaft.
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Gary S. Schaal

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls Texten aus?

Während meines Studiums war ich intellektuell stark von Rational-Choice-Theorien beeinflusst – was im Kontext eines Studiums der Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin anfangs der 1990er-Jahre eine eher ungewöhnliche Leidenschaft war. Die Interaktionseffekte zwischen politischem Institutionensetting und nutzenmaximierenden Akteuren faszinierte mich bei Downs, Olson, etc. Bei Hubertus Buchstein lernte ich erst danach im Proseminar Politische Theorie Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit kennen. Alle, die ihn als Dozenten kennen, wissen, dass Hubertus Buchsteins‘ ansteckende Begeisterungsfähigkeit jede(n) Theoretiker­_in interessant werden lässt. Rawls war aber mehr für mich – eine Offenbarung, weil die Verbindung aus Schleier des Nichtwissens mit nutzenmaximierenden Akteuren, die nichtsdestotrotz einen Sinn für Gerechtigkeit besitzen, mich als Rational-Choicer sofort überzeugte. Ich erlebte einen „Fukuyama-Moment“: Ist mit der Theorie der Gerechtigkeit nicht das Ende der philosophischen Diskussion über Gerechtigkeit erreicht? Theorie-ideologische Verblendung hielt mich damals davon ab, in eine kritische philosophische Tiefendiskussion des Werkes einzusteigen. Stattdessen ging ich sofort zur Anwendung (Atommüllendlagerstätten in Deutschland. Entschuldigung, Hubertus!) über und blendete dabei die Herausforderungen der Anwendung idealer Theorie zur Lösung empirischer politischer Herausforderungen augenzwinkernd aus.

 

Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls‘schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Besonders interessant sind für mich drei Beobachtungen zweiter Ordnung, die ich nur andeuten kann:

Vermutlich, weil die Theorie der Gerechtigkeit sofort als instant classic gehandelt wurde, in einem Atemzug mit Hobbes und Kant genannt, fand die Radikalität seiner Theorie – insbesondere hinsichtlich des Differenzprinzips und der ökonomischen Ausgestaltung einer gerechten Gesellschaft (Stichwort Ownership Society) – keine angemessene Beachtung. Insbesondere ein verkürztes Verständnis des Differenzprinzips reduzierte ihn häufiger auf einen Apologeten sozialdemokratisch inspirierter Wohlfahrtsstaatlichkeit.

Als Politischer Theoretiker (nicht Philosoph!) setze ich Politische Theorie in enge Beziehung mit empirischen politischen Herausforderungen (policy-, politics- und polity-Ebenen). Die Herausforderungen der Vermittlung von idealer Theorie und „politischer Realität“ wird von Rawls über das Überlegungsgleichgewicht konzeptualisiert und – wenn auch eher verstreut – seit 1971 von ihm diskutiert. Dass sich erst Ende der 1990er-Jahre daraus eine bis heute andauernde Methodendiskussion über Ideale und Nicht-Ideale Politische Theorie entwickelte, ist ein interessantes Datum.

Aufgrund kontingenter Faktoren wurde in der deutschen akademischen Debatte eine Perspektive auf Rawls dominant, die ihn häufig ins Verhältnis zu Habermas setzt, und aus der (verkürzt gesprochen) Dichotomisierung von substanziell (Rawls) vs. prozedural/post-metaphysisch (Habermas) viel intellektuellen Nektar saugt. Über die Perspektivierung haben andere Deutungen weniger Aufmerksamkeit erhalten, als sie meines Erachtens verdienen, zum Beispiel jene, die von Richard Rorty aus „Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“, die Rawls nicht-substanzialistisch, ja fast schon konstruktivistisch deutet.

 

Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch Rawls‘ Schriften zu lesen?

Marcus Llanque spricht von der Ideengeschichte als Archiv und Arsenal. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns heute davor hüten, Rawls Theorie der Gerechtigkeit zu musealisieren.  Lohnend ist die Lektüre – gerade mit Blick auf den gegenwärtig erhöhten normativen Orientierungsbedarf zeitgenössischer Demokratien – erstens insbesondere dann, wenn die radikalen Gehalte der Theorie stärker expliziert werden. Zweitens ist das Problem- und Themenportfolio zeitgenössischer Politischer Theorie in den letzten 50 Jahren deutlich gewachsen. Die Herausforderung besteht darin, Rawls mit diesem Portfolio in einen konstruktiven Dialog zu setzen.

 

Dr. Gary S. Schaal ist Professor für Politikwissenschaft, insb. Politische Theorie, an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg und Ko-Vorstand des German Institut for Defense and Strategic Studies (GIDS). Vor seinem Hamburger Ruf war er Heisenbergstipendiat der DFG an der TU Dresden sowie wissenschaftlicher Oberassistent an der Universität Stuttgart. Seine Forschungsschwerpunkte sind die normative Demokratietheorie, die empirische Demokratieforschung sowie Digitalisierung und Cybersecurity.
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