Der Glaube im Nachlass. John Rawls posthum

Lesenotiz zu John Rawls: Über Sünde, Glaube und Religion. Mit Kommentaren von Joshua Cohen, Thomas Nagel und Robert Merrihew Adams. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Schwark. Suhrkamp, Berlin 2010. 344 S.

 

„Meine Religion ist allein für mich von Interesse,“ Mit diesen Worten beginnt der Text Über meine Religion, den man im Computer des im November 2002 verstorbenen John Rawls fand (S. 301–312). Die wenigen Seiten waren, ebenso wie Rawls Bachelorarbeit zum Thema: Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube: Eine Auslegung anhand des Begriffs der Gemeinschaft von 1942, die im Nachlass und in der Harvard-Bibliothek ruhte, nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Trotzdem wurden beide Texte 2009 publiziert und erschienen 2010 erstmals übersetzt und eskortiert von erläuternden und kommentierenden Beiträgen von Joshua Cohen, Thomas Nagel, Robert Merrihew Adams und Jürgen Habermas, die fast die Hälfte der Edition ausmachen Die Beratungen der Nachlassverwalter, darunter Rawls Witwe, Margaret Rawls, über die Frage, ob eine Veröffentlichung überhaupt berechtigt sei, haben sich lange hingezogen, zumal infrage stand, ob eine Publikation dem Ansehen des Philosophen schaden könnte. Für das Werk eines als säkular wahrgenommenen Philosophen sind posthum ans Licht gebrachte Aussagen zur eigenen Religion eine heikle Angelegenheit, zumal dann, wenn der Autor viel darüber nachgedacht hat, wie politische Legitimität in durch religiöse Konflikte geprägten Gesellschaften erreicht werden kann.

 

Bevor sich die Rezension frontal dem Inhalt zuwendet, möchte ich einen soziologischen Blick von der Seite auf das Geschehen richten, das kein Einzelfall ist, sondern typisch für den Diskurs über Religion in akademischen Milieus außerhalb der Theologischen Fakultäten. Man bemerkt oftmals eine eigentümliche Verklemmtheit, wenn die Diskussion in Zonen führt, wo ein religiöser Glaube beheimatet ist. Hier hilft es, an die religionspolitische Genese dieses Habitus’ zu erinnern, in der Intellektuelle gelernt haben, die eigene Religion zu verbergen, so dass bis heute gilt: Je größer die Prominenz eines säkularen Intellektuellen, umso größer das Risiko, bei Lesern in ein zweifelhaftes Licht gerückt zu werden, wenn posthum allzu viel Gutes über das Christentum zu lesen ist, das einen Beifall von irgendwelchen falschen Seiten provozieren könnte. Zwei prominente Fälle posthumer Enthüllungen in Sachen Religion seien kurz vorangestellt: John Stuart Mill und Ludwig Wittgenstein.

Der liberale und sozialreformerische John Stuart Mill, dessen Hauptwerk zur Logik maßgeblich für Generationen von Wissenschaftlern wurde, gehörte zu den wenigen Menschen, die im 19. Jahrhundert konsequent atheistisch erzogen wurden, und zwar von seinem Vater James Mill, einem Anhänger Jeremy Benthams, dem Vertreter eines radikalen utilitaristischen Atheismus’. Trotz aller Abschwächungen, die Mill an Benthams Konzepten vorgenommen hat, galt er bis zu seinem Tode bei seinen zahlreichen Anhängern als ein prominenter Atheist. Dennoch hat Mills sehr wohl Aussagen zur Religion zu Papier gebracht. Seine Stieftochter Helen Taylor hat sie 1874 posthum veröffentlicht und damit die atheistischen Anhänger Mills irritiert und verunsichert.[1]

Im ersten der Drei Essays über Religion widerlegt Mill die Rückführung von Moral auf Natur, wie sie im viktorianischen England verbreitet war. Im zweiten Essay „Vom Nutzen der Religion“ geht er der Frage nach, warum die Sehnsucht nach Religion auch bei säkularisierten Menschen anzutreffen ist. Im dritten Essay „Theismus“ bekennt Mill, die Leistungen der Religionskritik und Bibelkritik seiner Zeit vollauf anerkennend: „Christus bleibt uns dennoch, eine einzig dastehende Gestalt, ebenso unähnlich allen seinen Vorgängern wie allen seinen Nachfolgern, selbst denen, die sich seiner unmittelbaren persönlichen Unterweisung erfreuten.“[2] Diese Aussage hat man zu seinen Lebzeiten nicht von Mill hören können.

Ludwig Wittgensteins berühmter letzter Satz aus dem Tractatus logico-philosophicus: „Worüber man nicht sprechen kann, davon muß man schweigen“, hat zu einem Streit darüber geführt, ob es sich um das Schweigen eines Positivisten, Atheisten, Theisten oder Agnostikers handelt. Nachdem die geheimen Tagebücher der Jahre 1914–16 gegen den Widerstand der Nachlassverwalter zunächst 1985 an entlegener Stelle in der katalanischen Zeitschrift Sabar in spanischer Sprache und dann 1991 in der deutschen, von Wilhelm Braun besorgten Ausgabe im Verlag Turia & Kant erschienen waren, konnte die religiöse Seite des Tractatus nicht mehr verheimlicht werden.[3]

Der Philosoph schrieb in seinen Heften auf der rechten Seite in normaler Schrift, auf der linken Seite in einer Geheimschrift. In den Ausgaben vor 1991 war die Existenz der linken Seite verschwiegen worden. Verschlüsselt waren dort Wittgensteins Gebete: „Meine Seele schrumpft zusammen. Gott erleuchte mich! Gott erleuchte mich! Gott erleuchte meine Seele.“ und ein mehrfaches „Gott mit mir!“ zu lesen. „Gott ist die Liebe“, heißt es, und an anderer Stelle: „Aber noch immer kann ich das eine erlösende Wort nicht aussprechen. Ich gehe rund um es herum und ganz nahe, aber noch konnte ich es selbst nicht erfassen!!“ Von Selbstzweifeln gepeinigt, notiert er: „Ohne Erfolg gearbeitet. Ich bin ganz im Dunkeln darüber, wie meine Arbeit weitergehen wird. Nur durch Wunder kann sie gelingen. Nur dadurch / indem VON AUSSERHALB MIR der Schleier von meinen Augen weggenommen wird.“[4] Hans Blumenberg nannte dies eine „doppelte Buchführung“. [5]

 

Die Reihe posthumer Veröffentlichungen, in denen unvermutet Zeugnisse eines ernsthaften christlichen Glaubens ans Licht der Öffentlichkeit kommen, kann nun um John Rawls erweitert werden. Die Verlagsinformation wirbt mit diesem Entlarvungseffekt: „John Rawls hat sich in keinem seiner publizierten Werke systematisch mit Fragen der Religion auseinandergesetzt und auch darüber, wie er es persönlich mit dem Glauben hält, stets Diskretion bewahrt. Wenig überraschend also, dass der Autor der Theorie der Gerechtigkeit zeitlebens als ‚religiös unmusikalisch‘ galt. Nach Rawls‘ Tod wurden jedoch zwei Texte entdeckt, die zu einer gründlichen Revision dieses Bildes zwingen“. Worum geht es in diesen Texten?

Die Bachelorarbeit des 22-jährigen Studenten Rawls zeigt uns einen gläubigen Protestanten, dem zwei Dinge wichtig sind. Zum einen wendet er sich entschieden gegen die Tradition einer Theologie, die den christlichen Glauben in den Begriffen griechischer Philosophie expliziert: „Ich glaube nicht, daß sich die griechische Tradition sehr gut mit dem Christentum verträgt, und je früher wir aufhören, vor Platon und Aristoteles den Kotau zu machen, desto besser. Eine Unze der Bibel wiegt ein Pfund (möglicherweise eine Tonne) von Aristoteles auf“ (S. 131). Zum anderen ist Rawls der Auffassung, „daß die Rekonstruktion der Theologie mit Begriffen wie ‚Gemeinschaft‘ und ‚Personalität’ vorangetrieben werden muß“ (Ebd.).

Diese Wendung gegen die Hellenisierung des christlichen Glaubens gehört zum Urgestein des lutherischen Populismus, dem es darum ging, gegen die geistlichen Eliten „dem Volk aufs Maul“ zu schauen. Dann war es der Theologe Adolf von Harnack, der im 19. Jahrhundert die „Hellenisierungs-These“ aufstellte, derzufolge die Dogmenentwicklung der frühen Kirche von einem griechischen Denken beeinflusst war, das nichts mit der Bibel zu tun hatte.[6] Er konstruierte einen Gegensatz zwischen dem „reinen Evangelium“ und dem katholischen Dogma. Bei diesem handele es sich nicht um die Urbotschaft des Evangeliums, sondern nur um das Christentum im Verständnis der Antike – aus Harnacks Sicht eine zeitbedingte Verfälschung der Botschaft Jesu. In der Konsequenz lag es nahe, die christliche Lehre für die Moderne mit Blick auf den moralischen Kern theologisch neu zu formulieren. Heute kann im Horizont der Dekolonisation, dem erwachten Selbstbewusstsein außereuropäischer Völker und der Kritik am Eurozentrismus die „Hellenisierungs-These“ noch anders gewendet werden: Enthellenisierung als eine Befreiung der christlichen Botschaft von ihrer ersten Inkulturation in die antike Welt Europas könnte eine neue unbelastete Inkulturation der Urbotschaft Jesu in außereuropäischen Regionen ermöglichen.

Die Theologie, die Rawls mit Begriffen wie ‚Gemeinschaft‘ und ‚Personalität’ rekonstruieren will, orientiert sich an der „Wort-Gottes-Theologie“ der Schweizer Reformierten, die sich im Ersten Weltkrieg von Ländern umgeben sahen, in denen sich Christen mit der Sakralisierung der Nation und ihrer Führer am Irrsinn eines überbordenden Nationalismus beteiligten. Die Schweizer sahen darin eine Götzenverehrung und zugleich das Scheitern der Theologie Schleiermachers, den Glauben auf das religiöse Gefühl zu basieren, und auch das Scheitern des Kulturprotestantismus und der liberalen Theologie, die sich im 19. Jahrhundert anschickte, mit geisteswissenschaftlichen Theorien und Methoden Glauben und Moderne zu verbinden. Die „Wort-Gottes-Theologie“ trat entschieden mit einem klaren Nein gegenüber Glaubensweisen auf, in denen sie „Pseudo-“ oder „Ersatzreligionen“ zu entdecken glaubte.

So nennt Rawls im Literaturverzeichnis als Hauptquellen für seine eigene Auffassung: „1. Die Bibel (immer das letzte Wort in religiösen Dingen)“ (S. 297), und im Vorwort wird Emil Brunner als der Theologe genannt, von dem Rawls am meisten gelernt habe (S. 132). Im Unterschied zum fundamentalistischen Biblizismus, der die Wörter der Bibel mit dem Wort Gottes identifiziert, wird bei Brunner und den in den USA leicht missverständlich „neoorthodox“ genannten Theologen zwischen Buchstaben und Gottes Wort unterschieden. Das ist nicht ganz einfach, wie Rawls Einführung zeigt: „Zu Beginn wird angenommen, daß es ein Wesen gibt, das die Christen ‚Gott‘ nennen und das sich im Christus Jesus offenbart hat. Was für eine Art von Wesenheit Gott ist – ob Er also all die metaphysischen Qualitäten besitzt, die Ihm zugeschrieben werden –, maßen wir uns nicht an zu wissen.“ (S. 135 f.) Für den prominenten Schweizer Reformierten Karl Barth, der bei Rawls nicht als Quelle aufgeführt wird, war „Gott, der ganz andere“, für Brunner: „der persönliche Gott“.[7]

Brunner folgend wendet sich Rawls gegen die Übernahme der antiken Rede vom summum bonum, die Gott oder Christus als höchstes Gut oder Ziel setzt. Gott sei „nicht bloß ein zufriedenstellendes Objekt von höchster Begehrtheit“ (S. 147). Damit werde eine naturalistische Denkweise in die Theologie eingeführt. In der Systematik Platons und Augustinus‘ werde argumentiert: „(a) Alle Beziehungen sind Beziehungen zu Objekten; selbst Gott darf wie ein Objekt behandelt werden; (b) das begehrende Verlangen ist die Triebkraft hinter jeder Beziehung, und die Liebe ist immer besitzorientiert, also keine Liebe im christlichen Sinn; (c) auch von Gnade wird (im christlichen System) in Begriffen eines Objektes gesprochen, das dem Willen als Objekt des Verlangens präsentiert wird; und (d) sämtliche natürlichen Systeme verlieren Gemeinschaftlichkeit, Personalität und die wahre Natur Gottes und sind daher nicht wirklich christlich, sondern individualistisch.“ (S. 212) Dagegen ist für Rawls das Verhältnis zwischen Gott und Mensch personal. Insofern kann man seine Schrift von 1942 in eine breitere Strömung der Zwischenkriegszeit einordnen, für die zum Beispiel Martin Bubers Ich und Du (1923), Karl Löwiths Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928) und Emmanuel Mouniers Das personalistische Manifest (1936) stehen, für den Individualität Zerstreuung, Person dagegen Integration bedeutet.[8]

Person und Gemeinschaft sind bei Rawls so miteinander verschränkt, dass eine Person ohne Gemeinschaft zum Individuum verkümmert und eine Gemeinschaft, die die Personalität ihrer Mitglieder missachtet, zu einem heillosen Haufen verkommt. Personale Beziehungen, die zu „wahrer Gemeinschaft“ führen, sind demnach von Beziehungen zu unterscheiden, „in denen das Gegenüber zum Bewunderer oder zum Publikum gemacht wird“ und von Beziehungen, in der „das ‚Du’ als Ding benutzt wird“ (S. 143). Die Verdinglichung einer personalen Beziehung ist eine Art von Sünde, besonders dämonisch dann, wenn sie personal angebahnt wird, um dann verzweckt zu werden. Denn Menschen sind „natürlicherweise gemeinschaftlich und personal kraft der Gottesebenbildlichkeit“. Diese Doppelseitigkeit von Gemeinschaftlichkeit begründet ihr moralisches Wesen. Der „Mensch kann dieser Natur nicht entfliehen. Gott beansprucht ihn stets, und daher muß die Erlösung des Menschen in der Erfüllung der menschlichen Natur durch die Reintegration in die Gemeinschaft bestehen“ (S. 149).

Sünde ist somit nicht schlicht ein Vergehen, sondern „die Zerstörung, Vernichtung und Zurückweisung der Gemeinschaft (…). Das Leugnen von Verpflichtungen, die Weigerung, auf Barmherzigkeit (Liebe) zu hören, und das Zerbrechen einer personalen Beziehung sind daher Taten eines Sünders“ (S. 149). Zu den Haupttypen der Sünde gehört nicht nur eine Selbstsucht, die „andere Menschen wie ein beliebiges Objekt behandelt“, sondern vor allem die „Geltungssucht, also die verdorbene Selbstliebe des Geistes, die nach Ehre, Abgrenzung, Ruhm und Lob strebt“ (S. 150). So hätte der junge Rawls  die aufmerksamkeitsgeilen, Respekt fordernden, anerkennungslüsternen Singulären von heute vielleicht als Horde von Sündern klassifizieren können, weil sie statt Aufmerksamkeit, Respekt und Anerkennung anderen zu schenken, diese für sich und ihre Blase von anderen fordern. Als dritten Typus der Sünde nennt Rawls die Hoffnungslosigkeit. Sie sei mehr im Osten als im Westen verbreitet, aber Schopenhauer, Nietzsche und Spengler zeigten an, dass sich dies ändern könnte. Die Sünde der Hoffnungslosigkeit vereinsamt den Menschen, sie führt zu Verschlossenheit und Alleinsein (S. 151). Und wie in der Dialektischen Theologie von Karl Barth geht es nicht darum, erkennen zu wollen, was das summum bonum sein könnte, sondern um das existenzielle Fragen. Dann ist es „die Gegenwart Gottes, die in das Alleinsein des Menschen eindringt, es durchbricht und ihn so wiederherstellt und zurück in die Gemeinschaft ruft“ (S. 152). Rawls Zeitdiagnose bringt das Thema auf den Punkt: „Die Schwierigkeit besteht allein darin, wie Personalität und Gemeinschaft angesichts der um sich greifenden Sünde in der Welt erreicht werden können. Das Kernproblem der Politik ist daher, ein System gesellschaftlicher Vorkehrungen zu entwickeln und dadurch die menschliche Sünde so einzuhegen, daß die natürliche Wechselbeziehung von Gemeinschaft und Personalität ermöglicht wird.“ (S. 155) Wer Rawls’ spätere Schriften kennt, wird hier die moralischen und sozialen Überzeugungen entdecken, die ihn – freilich ohne öffentliche theologische Bezüge – zu einem viel gelesenen Autor gemacht haben.

 

Ein halbes Jahrhundert später schrieb Rawls den kurzen Text Über meine Religion. Er berichtet, wie er, konventionell religiös erzogen, sich in seinen letzten Studienjahren in Princeton intensiv mit Theologie und Glaubenslehre befasst und sogar erwogen hatte, das Priesterseminar zu besuchen. Er habe sich jedoch nicht von der Aufrichtigkeit seiner Motive überzeugen können, habe die Entscheidung aufgeschoben und sei Soldat geworden. Im letzten Kriegsjahr habe er sich selbst „nicht mehr als orthodox begriffen“ und diesen Glauben „bis zum Juni 1945 gänzlich“ aufgegeben (S. 303). Rawls erinnert sich an einzelne Ereignisse: wie ein lutherischer Pastor predigte, Gott habe die Kugeln auf die Japaner gelenkt, wie sein Freund im Granatenhagel bei einem Freiwilligeneinsatz getötet wurde, bei dem Rawls zufälligerweise nicht teilnehmen konnte, und vor allem erinnert sich Rawls an die ersten Berichte über den Holocaust. Seine Versuche, „die Geschichte als Ausdruck des Willens Gottes interpretieren zu können“, scheiterten. In der Zeit danach führte die Beschäftigung mit der Prädestinationslehre und der Geschichte der Inquisition zu einer immer weiteren Entfremdung vom Christentum. Dies berichtet Rawls allerdings mit dem Vorbehalt: „Weder behaupte ich zu verstehen, warum meine Überzeugungen sich änderten, noch glaube ich, daß es möglich ist, solche Wandlungsprozesse vollständig zu begreifen“ (S. 303). Es war wohl die Diskrepanz zwischen der Glaubenslehre und dem moralischen Bewusstsein, die seine Entfremdung vom Christentum vorantrieb. Wie bei vielen europäischen Intellektuellen war der Abschied vom konfessionalisierten Christentum kein Übergang zum Atheismus: „Meine Schwierigkeiten waren immer moralischer Natur, denn mein Fideismus blieb stets fest gegen alle Zweifel an der Existenz Gottes.“ (S. 305 f) Fideismus meint kurz gefasst: Credo, quia absurdum est.

Warum ist die posthume Entdeckung zuvor verborgener religiöser Auffassungen von Autoren, die als säkulare Intellektuelle aufgetreten waren, überhaupt ein Thema? Die Wurzeln des Habitus’, demzufolge das öffentliche Reden über die eigene Religion peinlich wirken kann, es sei denn, der Beruf verlange, von Gott zureden, reichen weit zurück.

Daniel Roche schreibt über die aufgeklärten sociétés de pensée in Frankreich: „Wohlgeordnete Versammlungen und Aussparung aller Themen, über die es zum Streit kommen könnte (die gesamte Religion und Politik) schaffen die Voraussetzung dafür, daß es in den Akademien ruhig zugeht.“[9] Die akademische Regel: ‚No politics, no religion!’ war auch in Großbritannien verbreitet und gilt auch heute noch für Pubbesitzer. Der Habitus einer Diskursverknappung in Sachen Religion und Politik war eine Reaktion auf die postreformatorischen europäischen Glaubenskriege, die über zweihundert Jahre quer durch Europa trotz Friedensschlüssen erneut aufflammten. In diesem für die Moderne elementaren Transformationsprozess der europäischen Herrschaftsformen von personaler Gewalt zu territorialer Staatsgewalt entstehen die modernen Flächenstaaten als katholische und als protestantische Konfessionsstaaten, und zwar mittels Staatenbildungskriegen nach außen und gewaltsamen Maßnahmen der Herstellung von Gleichgläubigkeit der Untertanen nach innen. In diesem Prozess gewinnt das Christentum seine moderne, das heißt konfessionelle Form der Bekenntnisreligion. Der „Dämon des Konfessionalismus“ (Olaf Blaschke) erwacht wieder in den „Kulturkämpfen“ des 19. Jahrhunderts zwischen Bekenntnisreligionen und jenen, die wie Rudolf Virchow erklären: „Es ist die Wissenschaft für uns Religion geworden“ (1865) – Kämpfe, die gerade in den USA bis heute in Bildungsinstitutionen weitergehen.[10] Die Praxis des Verbergens der eigenen religiösen Überzeugung gehört zu den bedeutenden zivilisatorischen Leistungen Europas, die wir mit dem Namen Aufklärung verbinden. Religion ist Privatsache, ist ein Geheimnis des Herzens. Die Aufklärung war keine glaubensfeindliche Bewegung, sondern eine Mehrgenerationenstiftung der religio rationis, der Rationalreligion. Mit ihrem Gebot der Diskretion in Glaubenssachen, prominent im Schweigegebot der Freimaurer, hat sie einer vernünftigen Auffassung von Religion den Weg bereitet.

Die Erinnerung an diese Epoche ist hier nicht zufällig. Der letzte Abschnitt von Rawls’ Über meine Religion handelt von Jean Bodin und dem ihm zugeschriebenen Colloquium Heptaplomeres.[11] Sieben Freunde führen ein Religionsgespräch und versuchen, ihr Gegenüber von der Wahrheit ihres Glaubens zu überzeugen. So aufwendig die Argumente entfaltet werden und so scharfsinnig man alle Konsequenzen in den Blick nimmt, keiner kann den anderen von seinem Glauben abbringen. Von Anfang an treffen im Kern nichtverhandelbare Positionen aufeinander. Es ist auch nicht erkennbar, auf welcher Seite der Autor steht. Das Gespräch, das ewig so weitergehen könnte, bricht dann ab und endet mit dem Hinweis, dass die Teilnehmer in bewundernswerter frommer Eintracht und Lauterkeit zusammenlebten, nicht weiter über Religion diskutierten und jeder einzelne für seine Religion Sorge trug.

 

Wolfgang Eßbach lehrte Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. Er war Gründungspräsident der Helmuth-Plessner-Gesellschaft und langjähriger Sprecher der Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 2011/2012 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, 2012/2013 Co-Direktor der FRIAS School of History (Freiburg Institute for Advanced Studies). Wissenschaftliche Schwerpunkte: Kultursoziologie, Religionssoziologie, Anthropologie, Ideengeschichte und Soziologie der Intelligenz. Zuletzt erschien: https://www.soziologie.uni-freiburg.de/aktuell/religionssoziologie-wolfgang-essbach

 

[1] John Stuart Mill, Drei Essays über Religion. Natur – Die Nützlichkeit der Religion – Theismus [1874], Stuttgart 1984.

[2] Ebd., S. 209.

[3] Ludwig Wittgenstein, Geheime Tagebücher 1914-1916, hg. u. dokumentiert v. Wilhelm Baum, mit einem Vorwort v. Hans Albert, Wien/Berlin 1991.

[4] Ebd, S. 26, 42, 53, 58 u. 63.

[5]Hans Blumenberg, Doppelte Buchführung. Synopse der Kriegstagebücher Wittgensteins 1914-1916, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. April 1990, S. N3.

[6] Christoph Markschies, Hellenisierung des Christentums. Sinn und Unsinn einer historischen Deutungskategorie, Leipzig 2012.

[7] Vgl. Frank Jehle, Emil Brunner. Theologe im 20. Jahrhundert, Zürich 2006

[8] Emmanuel Mounier, Das personalistische Manifest, Zürich 1936, S. 79

[9] Daniel Roche, »Die ›sociétés de pensée‹ und die aufgeklärten Eliten des 18. Jahrhundert in Frankreich«, in: Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich. 12 Originalbeiträge, Bd. 1: Synthese und Theorie. Trägerschichten, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht / Rolf Reichardt u. Thomas Schleich, München/Wien 1981, S. 77–115, hier S. 111.

[10] Virchow zit. n. Wege der Naturforschung 1822-1872 im Spiegel der Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte, hg. v. Hans Querner u. Heinrich Schipperges, Heidelberg / New York 1972, S. 21.

[11]  Jean Bodin, Colloquium of the Seven about secrets of the sublime, Princeton 1975. Zur Kontextualisierung von Bodin vgl. Wolfgang Eßbach, Religionssoziologie 1. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen Paderborn 2014, S. 271–274.