Die Corona-Pandemie als Rache des Realen? Eine Lesenotiz zu Benjamin Bratton

Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie wurden schon vielfach beschrieben: als Brennglas, unter dem soziale Ungleichheiten verschärft werden (z. B. Ludwig/Voss/Miller 2020 und Werkmann/Wolfs 2021) oder als Generalprobe für den Klimawandel (Latour 2020). Für Benjamin Bratton ist die Corona-Pandemie vor allem die Rache des Realen, wie er in seinem gleichnamigen Buch (2021) in wortgewaltiger Sprache beschreibt.

Dabei attestiert er auf knapp 170 Seiten – übrigens völlig ohne Literaturangaben – ein mehrfaches Scheitern: auf der Ebene der westlichen Public Governance, welche die Pandemie und ihre Folgen nicht angemessen bearbeiten kann, und auf der Ebene der Philosophie. In seiner „Kritik der westlichen politischen Kultur“ (6, hier und im Folgenden eigene Übersetzungen) verknüpft er mehrere Argumente, welche sich auf Populismus, Individualismus, den Biopolitik-Diskurs um den italienischen Philosophen Giorgio Agamben und nicht zuletzt philosophischen Realismus beziehen. Abschließend formuliert er Entwürfe für eine positive post-pandemische Biopolitik. Im Folgenden soll diese Argumentation kurz ausgeführt und sein Entwurf einer post-pandemischen Biopolitik einer kritischen Betrachtung unterzogen werden.

Populismus, Ablehnung von Governance und Hyperindividualismus

Zunächst arbeitet sich Bratton am Populismus ab: Diejenigen Staaten, welche die höchsten Zahlen an Corona-Toten vorweisen, seien „gesteuert vom magischen Denken des nationalen Populismus“ (27). Er nennt Beispiele wie Brasilien, Mexiko, USA oder den Iran. Unter Populismus versteht er „Demagogie, volkstümliches Sündenbock-Denken, vereinfachende emotionale Appelle, Angstmache […]“ (9). Populismus sei zudem eine Form von „anti-governance“ (10), ein Misstrauen gegenüber jeglicher Form von Governance-Strukturen, eine vage Reaktion auf eine in vager Weise als illegitim empfundene Macht. Dies führe zu einem Teufelskreis, bei dem Misstrauen eine Form von Governance hervorrufe, welche zweifelhaft und inkompetent regiere, wodurch das Misstrauen wiederum verstärkt werde. Mit dem geschilderten Populismus und Misstrauen in Governance gingen – und da scheint er sich vorrangig auf die USA zu beziehen – ein gesteigerter Individualismus, Subjektivismus und Experientialismus einher. Die subjektiven Erfahrungen des Individuums würden als intrinsisch wertvoll betrachtet. All dies führe dazu, dass sich die Menschen nicht als Teil einer Gesellschaft oder einer den Planeten umfassenden Konstellation menschlicher- und nicht-menschlicher Akteur*innen begreifen können, bei denen die Handlungen bzw. Entscheidungen eines Individuums, wie beispielsweise keine Maske zu tragen, ungeachtet der Absichten des Individuums auch andere betreffen können. Zudem sei die „Boomer-Generation“, zu der Bratton sich auch selbst zählt, mit einem generellen Misstrauen gegenüber Regierungsstrukturen und Hierarchien sozialisiert, wogegen Individualismus, teils auch irrationale Ausdrücke von Autonomie, als Widerstand verstanden würden.

Die Rache des Realen oder das Scheitern der Philosophie

Diese Gemengelage aus Populismus, übersteigertem Individualismus und dem philosophischen wie politischen Ignorieren biologischer Realitäten durchbreche die Corona-Pandemie als „Rache des Realen“. Bratton meint damit eine Realität, welche wirkungsvoll sei, ganz egal, wie populistische Akteur*innen diese darstellen, wie dekonstruktivistische Theoretiker*innen sie erfassen, oder welches Handlungsrepertoire mit dem hyperindividualistischen Selbstverständnis möglich erscheint: Das Reale existiere ungeachtet solcher politischen oder diskursiven Einordnungen. An diesem Punkt setzt seine anschließende Kritik dekonstruktivistischer Theorie an: Er bezeichnet diese als „hardcore discursive determinism“ (121), welche die zuvor genannte, laut Bratton unabhängig von diskursiven Einordnungen existierende, Realität verkenne und auf Diskurs reduziere. Bratton geht sogar so weit, Übereinstimmungen zwischen manchen dekonstruktivistischen Strömungen und der populistischen Rechten zu behaupten: „Beide werten politische Performativität gegenüber wissenschaftlichem Empirismus auf, beide scheuen vor der Vorstellung einer Objektivität zurück und beide sind verkrüppelt von einem selbstlähmenden magischen Denken“ (38). Exemplarisch für diese Denkrichtung steht für ihn Agamben, der gleich zu Beginn der Pandemie mit einem Aufsatz (2020) in die Kritik geraten ist, in welchem er die Pandemie als eine Erfindung bezeichnete. Bratton kritisiert, dass Agamben einem vorwissenschaftlichen mystischen Menschenbild anhänge, Medizin zurückweise und wissenschaftliche Tatsachen wie Ansteckung nicht anerkenne. Damit stünde Agamben der europäischen Rechten näher als ihm lieb sei und habe zudem biopolitische Ansätze in der Pandemie vollkommen disqualifiziert.

Brattons Vorschlag einer post-pandemischen positiven Biopolitik…

Mit seiner Idee einer post-pandemischen positiven Biopolitik steigt Bratton in die durch die Pandemie verstärkte Debatte um das Foucaultsche Konzept der Biopolitik ein. Während dieses Konzept in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung jedoch primär zur kritischen Analyse von Maßnahmen und Strategien zur Bearbeitung der Corona-Krise verwendet wird, wendet Bratton es stattdessen normativ: Seine post-pandemische positive Biopolitik beschreibt einen Soll-Zustand, den es zu erreichen gilt, um die Probleme unseres Planeten, wie Pandemien oder Klimawandel, zu lösen. Unklar bleibt dabei jedoch sein Begriffsverständnis selbst, die Anlehnung an Foucault ist sehr lose, auch wenn er gleichzeitig andere Autor*innen etwas herablassend dazu auffordert, „ihren Foucault besser zu lesen“ (146).

Inhaltlich unterbreitet Bratton den Leser*innen jedoch eine umfassende Reihe von Vorschlägen, wie diese post-pandemische positive Biopolitik ausgestaltet sein soll. Besonders hervorzuheben sind folgende Aspekte: Zunächst erleichtere es die Pandemie, sich selbst als Teil eines miteinander verbundenen biopolitischen Netzwerks aus Menschen und Materie zu betrachten. Somit fordert Bratton eine Dezentrierung des individuellen autonomen Subjekts und stattdessen einen Blick aufs planetarische Ganze. Dessen komplexe, politische bzw. philosophische Einordnungen durchbrechende unabhängige Realität müsse in eine neue positive Governance einbezogen werden. Die von Bratton eher unscharf beschriebene planetarische positive Biopolitik benötige eine Neudefinition der Rolle des Staates und der Plattformen: Letztere sollen nicht mehr zu einer Massenproduktion von Subjektivität beitragen, sondern Daten, welche tatsächlich benötigt würden, in Archiven sammeln. Datenschutzbedenken weist er ab, indem er ihnen eine zugrundeliegende überholte Vorstellung eines souveränen Subjekts unterstellt. Daten sind auch die Grundlage für seinen von digitalen Technologien abhängigen Entwurf: den des „biopolitical stack“ (145); einer Infrastruktur, welche sensorisch Daten erfasst, modelliert, Simulationen des Realen durchführt und rekursive Maßnahmen erlaubt. Diese Infrastruktur soll Phänomene wie die Pandemie oder den Klimawandel erfassen und angemessene Reaktionen ermöglichen.

…überzeugt nur teilweise

Insgesamt klingen seine zahlreichen Vorschläge zu einer post-pandemischen positiven Biopolitik eher vage und wenig konkret. So scheint vor allem sein Entwurf des „biopolitical stack“ auf einem Techno-Optimismus zu beruhen, der auch deshalb an vielen Stellen technokratisch anmutet, weil die demokratische Legitimation und Partizipation in dieser positiven Biopolitik nicht mitgedacht sowie Datenschutzbedenken abgewiesen werden. Seine wenig zugängliche Sprache und das Springen zwischen einzelnen Argumenten erschweren außerdem den Zugang zu seinen Ideen und die systematische Auseinandersetzung mit ihnen. Problematisch ist zudem sein Bezug auf eine unabhängige, erkennbare Realität und die Kritik, dass dekonstruktivistische Ansätze diese Realität durch eine Reduktion auf Diskurs ignorierten. Dieser häufig im New Materialism hervorgebrachte Vorwurf verkennt, dass ‚Realität‘ nicht unvermittelt erfahrbar ist, sondern in Interaktionen zwischen Menschen und Materie erst konstruiert wird. Dabei ignoriert er existierende poststrukturalistische Auseinandersetzungen mit Materie (vgl. Ahmed 2008; Bruining 2013). Ebenso übersieht Bratton in seinem Buch die zahlreichen biopolitischen Auseinandersetzungen mit der Corona-Pandemie, die abseits von Agambens fragwürdigem Ansatz stattfinden und beispielsweise mithilfe biopolitischer Theorie soziale Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften untersuchen (Milan/Treré 2021, Rose 2021, Sylvia 2020) oder Verschiebungen der Prioritäten von Regierungshandeln analysieren (Ecks 2020, Mezes & Opitz 2020). Auch diese übergeht er, indem er biopolitische Theorie auf Agamben reduziert. Seine Verbindung von Populismus, Hyperindividualismus und der damit einhergehenden Ablehnung von Governance ist jedoch überzeugend: In einer Welt, die derzeit von globalen Katastrophen und Krisen wie der COVID-19-Pandemie und dem Klimawandel geprägt wird, müssen wir davon wegkommen, uns als autonome, unabhängige Subjekte zu begreifen und stattdessen erkennen, dass wir alle Teil eines planetarischen, miteinander verbundenen und voneinander abhängigen Ganzen aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen sind.

Katja Reuter studiert Politikwissenschaft an der FU Berlin, arbeitet am Weizenbaum-Institut in der Forschungsgruppe zu Demokratie und Digitalisierung und schreibt derzeit ihre Masterarbeit über Biopolitik in der Corona-Krise. Ihre Interessensschwerpunkte liegen auf der politischen Theorie, Digitalisierung und Public Health.

Ein Kommentar zu “Die Corona-Pandemie als Rache des Realen? Eine Lesenotiz zu Benjamin Bratton

  1. DerNew Materialism weiß sehr gut, dass Realität sich nur vermittelt erfassen lässt, in sozialen Formen.
    Es bleibt das philosophische Problem des Dekonstruktivismus unbeantwortet, dass er notwendig falsche Bewusstsein im Marxschen Sinne, das durch die Trennung von Hand-und Kopfarbeit entsteht, nicht erfassen und beschreiben kann.

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