Das folgende Interview mit John P. McCormick wurde ursprünglich in „L’Espresso“ veröffentlicht und erscheint hier, in gekürzter Fassung und übersetzt von Mike Hiegemann, in zwei Teilen. Einleitende Bemerkungen stammen von Dirk Jörke:
Der an der University of Chicago lehrende politische Theoretiker John P. McCormick hat spätestens mit seinem Buch „Machiavellian Democracy“ (2011) auch in Deutschland für Aufsehen gesorgt. In diesem Buch entwickelt er eine dezidiert republikanische und institutionentheoretische Deutung Machiavellis, die sich ebenso von neo-römischen Interpretationen wie diejenigen von Quentin Skinner und Philip Pettit als auch von radikaldemokratischen Anlehnungen unterscheidet, wie sie sich beispielsweise bei Claude Lefort oder Etienne Balibar finden lassen. Gegenüber der neo-römischen Interpretationslinie insistiert McCormick auf die demokratischen Motive des Florentiners, die sich eben nicht allein in der Garantie von Herrschaftsfreiheit für alle Bürger erschöpfen, sondern klassentheoretisch zu lesen sind. Und entgegen der radikaldemokratischen Lesart verweist McCormick auf die stark institutionentheoretischen Überlegungen in Machiavellis Werk, zu denen nicht zuletzt das Volkstribunat und Versammlungen gehören, zu denen nur der popolo Zugang hat. Die Pointe seiner Ausführungen besteht schließlich darin, dass ein republikanisches Denken im Rahmen der Mischverfassung in der Konsequenz demokratischer ist als der liberaldemokratische Universalismus. Doch bleibt McCormick nicht bei dieser ideengeschichtlichen Neulektüre stehen, sondern skizziert am Ende seines Buches mit der Tribunatsversammlung einen Vorschlag zur Aktualisierung der demokratietheoretischen Einsichten Machiavellis.
In dem nachfolgend in deutscher Übersetzung veröffentlichten Interview, das anlässlich der italienischen Übersetzung von „Machiavellian Democracy“ entstanden ist, gibt McCormick entsprechend Auskunft über die vorwiegend ideenpolitischen Motive seiner Auseinandersetzung mit Machiavelli und plädiert für einen institutionentheoretisch informierten Linkspopulismus, um den in den westlichen Demokratien zu beobachtenden oligarchischen Tendenzen zu begegnen. Dabei scheut er sich auch nicht vor Vorschlägen, die hierzulande sicherlich befremdlich anmuten. Ein weiterer Schwerpunkt des Interviews besteht in der erwähnten Kritik an vermeintlich radikaldemokratischen Autoren, namentlich an Jacques Rancière. Darüber hinaus gewährt McCormick Einblicke in seine intellektuelle Biographie, bei der auch ein Forschungsaufenthalt an der Universität Bremen sowie der Kontakt zu Axel Honneth und Rainer Forst sowie Arbeiten zu Carl Schmitt und Leo Strauss eine entscheidende Rolle spielten. Und nicht zuletzt geht es um McCormicks Einschätzung der aktuellen politischen Entwicklungen in den USA und in Europa. (Dirk Jörke)
Gabriele Pedullà (L’Espresso): Machiavelli ist selbstverständlich ein Klassiker und es gibt wahrscheinlich keine US-amerikanische Universität, an der seine Werke – zumindest Der Fürst – nicht alljährlich behandelt werden. Dennoch ist Ihr Interesse an ihm äußerst bemerkenswert. Sie haben bereits zwei Bücher zu Machiavelli veröffentlicht und soviel ich weiß, bahnt sich bereits ein drittes an – ein echter Rekord für einen US-amerikanischen Wissenschaftler! Doch zunächst die Frage: Warum Machiavelli? Und wie haben Sie ihn für sich entdeckt?
John P. McCormick: Der Fürst lernte ich natürlich auf dem College kennen. Im Jahr 1992, während meines weiterführenden Studiums an der University of Chicago, hatte ich dann das große Glück zwei Seminare zu besuchen, die sich ausschließlich mit Machiavellis Discorsi befassten. Diese beiden Kurse lösten schließlich meine lebenslange Faszination für Machiavelli aus. Und obwohl ich meine wissenschaftliche Karriere als Anhänger der kritischen Theorie im Sinne der Frankfurter Schule begann, wandte ich mich in meinen Arbeiten während der 2000er Jahre erneut Machiavelli zu.
Die Auslöser für meine Rückkehr zu Machiavelli waren die wachsende Ungleichheit und das militärische Abenteurertum unter der Bush-Cheney-Regierung. Schließlich habe ich von Machiavelli gelernt, dass die Bürger der antiken Republiken ihre Eliten weitaus strenger für Korruption und Verrat bestraften als wir dies in unseren gegenwärtigen liberalen Demokratien gewohnt sind. Seine Werke unterstreichen die Tatsache, dass Staatsbürger nicht wirklich frei sind, wenn sie den politischen und sozio-ökonomischen Eliten erlauben ungestraft davonzukommen, nachdem solche Katastrophen verursacht wurden wie der Zweite Irakkrieg, die Finanzkrise oder – um einige jüngere Beispiele zu nennen – Trumps geheime Absprache mit auswärtigen Mächten sowie sein Versuch, eine Wahl durch Anstiftung zur Gewalt zu unterlaufen. Wenn man sich ernsthaft mit Machiavelli beschäftigt, wird man zugeben müssen, dass moderne demokratische Bürger den Eliten genau die Verhaltensweisen durchgehen lassen, denen er schwere Strafen zudachte. Dazu zählen beispielsweise das Auslösen von sinnlosen Kriegen, durch die das Blut unzähliger Bürger vergossen und deren Vermögen aufgezehrt werden; oder die Ausführung riskanter finanzieller Manöver, die enorme wirtschaftliche Krisen auslösen, durch die wiederum Jobs, Eigenheime und Ersparnisse zahlloser Bürger vernichtet werden; oder aber der Verkehr mit feindlichen Mächten, durch den öffentliche Institutionen zwecks monetärer und politischer Bereicherung korrumpiert werden. Die genannten Beispiele ungezügelter Korruption aus der US-amerikanischen Politik führten letztlich dazu, dass meine Arbeiten im Geiste sehr viel weniger Habermas’sch und umso mehr machiavellistisch gerieten.
Sie sind nicht nur ein Machiavelli-Experte. Sie haben auch zahlreiche Arbeiten zum politischen Denken der Weimarer Republik veröffentlicht. Man könnte also zu dem Schluss kommen, dass Sie vor allem von sehr intensiven Krisen angezogen werden: Machiavelli während der sogenannten Italienischen Kriege; Max Weber, Hans Kelsen, Leo Strauss und Carl Schmitt zwischen der Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg und dem Aufstieg Adolf Hitlers …
Ich habe dies sicherlich nicht im Vornhinein geplant, aber „demokratische Republiken in der Krise“ ist das übergreifende Thema meiner wissenschaftlichen Laufbahn geworden. Seit mehr als zwei Jahrzehnten befasse ich mich nun mit der fortwährenden Anfälligkeit von Demokratien für plutokratische und oligarchische Korruption – eine Korruption, die oftmals auf autoritäre Coups hinausläuft. Ich habe den außerordentlich prekären Zustand der bürgerlichen Freiheit sowie der Volksherrschaft in vielerlei historischen Kontexten untersucht: im Florenz der Renaissance, in der Weimarer Republik, in den gegenwärtigen Vereinigten Staaten und den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
Lassen Sie uns auf Machiavelli zurückkommen. Die meisten Menschen denken nach wie vor, dass Machiavelli ein Lehrer des Bösen sei. Wissenschaftler – zumindest die Mehrheit unter ihnen – haben versucht diese fälschliche Interpretation zu korrigieren, indem sie seine Loyalität gegenüber Roms republikanischer Tradition und die Discorsi in den Mittelpunkt stellten. Ihre Lesart unterscheidet sich jedoch von diesen Ansätzen. Ihr Machiavelli ist nicht nur ein republikanischer Denker: er geht vom Volke aus und ist den oligarchischen Degenerationen von Freistaaten gegenüber feindlich gesonnen.
Obwohl Machiavelli nie das Wort „Demokratie“ verwendete und wenngleich er der attischen Demokratie gegenüber schwerwiegende (jedoch nicht unbegründete) Bedenken äußerte, plädiere ich dafür, dass es sich bei ihm um den ersten „Demokratietheoretiker“ in der Geschichte des westlichen politischen Denkens handelt. Machiavelli löscht die klassische Unterscheidung zwischen Aristokraten und Oligarchen aus und klagt an, dass es sich bei den sozio-ökonomischen Eliten immer um die Unterdrücker des gemeinen Volkes handelt. Darüber hinaus hebt Machiavelli die seltenen Momente im traditionellen politischen Denken hervor, in denen Autoren widerwillig einräumen, das gemeine Volk sei zuweilen durchaus in der Lage politische Urteilskraft im Sinne des Gemeinwohls auszuüben und baut auf diese Erkenntnisse seine neuartige Demokratietheorie auf. Noch heute sind berühmte Wissenschaftler auf die wenigen Stellen fixiert, an denen Machiavelli veranschaulicht, wie das Volk schlechte Entscheidungen trifft. Sie ignorieren dabei vollständig die sehr viel verhängnisvolleren Entscheidungen, die er am Beispiel der Eliten (vor allem den aristokratischen Senaten) in den spartanischen, römischen, venezianischen und karthagischen Republiken aufzeigt.
In Ihrer Machiavelli-Lektüre geben Sie seinen Bedenken gegenüber der Verantwortlichkeit der Eliten zu Recht viel Raum. Bekanntlich erklärte Machiavelli, dass kleine Gerichtshöfe dazu tendieren, Gleichrangige freizusprechen, selbst wenn letztere schuldig sind. Aus diesem Grund seien vom Volke ausgehende Verfahren notwendig, damit die Volksvertreter wirklich für ihre Taten verantwortlich gemacht werden können. Sie versuchen sich sogar vorzustellen, wie derartige Verfahren in modernen Gesellschaften und auf Basis des geltenden Rechts realisiert werden könnten. Es scheint, als gäbe der Ausgang des jüngsten Amtsenthebungsverfahrens gegen Donald Trump Ihrem Anliegen recht …
In Democrazia Machiavelliana habe ich lediglich eine Tatsache hervorgehoben, die andere linksorientierte Anhänger seiner Theorie stets umgangen haben, möglicherweise weil sie zu beunruhigend ist: Machiavelli bestand darauf, dass die Angst vor der im Sinne des gemeinen Volkes vollzogenen Strafverfolgung von Kapitalverbrechen die einzige, ich betone, die einzige Abschreckungsmöglichkeit sei, aufgrund derer sich eine Selbstbereicherung der sozio-ökonomischen und politischen Eliten verhindern ließe. Es kann gar nicht genug betont werden, dass Machiavelli weder Pogromen noch Säuberungsaktionen Vorschub leisten wollte. Er sprach sich vielmehr für die ordentliche Durchführung von gesetzlich legitimierten Gerichtsverfahren aus: institutionelle Methoden, durch die eine größtmögliche Anzahl von Staatsbürgern über die Leben der Eliten entscheiden konnten, die eines Staatsverbrechens überführt wurden – ob es sich dabei nun um George W. Bush, Barack Obama, Hillary Clinton oder Donald Trump handelt. Machiavelli legt dar, wie antike Volksherrschaften ursprünglich mit Inhaftierungen und Verbannungen als angemessene Formen des politischen Strafvollzugs experimentierten. Wohlhabende Bürger nutzten jedoch oftmals ihre beträchtlichen Mittel für ungerechtfertigte Begnadigungen, die Freilassung aus dem Gefängnis oder die vorzeitige Rückkehr aus dem Exil. Machiavelli lehrt uns, dass es leider keine zweckmäßige Annäherung an den Tod gibt. In der Tat ist die vollendete Endgültigkeit des Todes der einzige Faktor, der das Handeln derer unterbrechen kann, die ihr Vermögen „falsch“ nutzen, wie der Florentiner sagt, das heißt zugunsten andauernder Versuche, den politischen Prozess zu korrumpieren, der den Vielen und nicht den Wenigen dienen soll.
Während der Vorwahlen der Demokratischen Partei im Jahr 2016 verkündeten die Clintons öffentlich, dass die zwingende Folge von Bernie Sanders’ Wahlkampf sei, dass „jede dritte Person an der Wall Street erschossen werden solle“. Die Hinrichtung von Bankiers, so behaupteten die Clintons, würde im Dienst einer progressiven Politik zu nichts führen. Ich wäre mir da nicht so sicher. Eine Volksherrschaft muss die Möglichkeit zur Androhung der Todesstrafe haben, wenn wohlhabende Staatsbürger oder Regierungsbeamte sich der wirtschaftlichen oder politischen Korruption schuldig gemacht haben. Und vielleicht sollte diese Möglichkeit nur gegenüber Eliten gegeben sein. Ein solches Risiko sollte für die Eliten einer gesunden Demokratie unter „Geschäftskosten“ verbucht werden, ganz so wie alle anderen Mitglieder einer Gesellschaft es mit Geschworenenpflichten und dem Zahlen von Steuern handhaben. Machiavelli prangerte an, dass Staatsbürger demokratischer Republiken ihre Verpflichtungen gegenüber Freiheit und Gleichheit unter Wert verkaufen, wenn sie versäumen diese Prinzipien mit größter Strenge zu verteidigen, das heißt, wenn sie in diesem Rahmen nicht in der Lage sind, auf das äußerste Strafmaß zurückzugreifen.
Ihnen wurde vorgeworfen ein Populist oder ein Befürworter des Populismus zu sein. Was ist der Unterschied zwischen einem volksnahen und einem populistischen Politologen – heute und zu Machiavellis Zeiten?
Ich bin in der Tat ein Verfechter des Populismus, des Linkspopulismus. Der Unterschied zwischen Links- und Rechtspopulismus ist einfach erklärt: Progressiver Populismus ist eine chauvinistische Mehrheitsbewegung, die die ungerechtfertigten Privilegien einer wohlhabenden und einflussreichen elitären Minderheit anficht. Rechtspopulismus ist hingegen eine chauvinistische Mehrheitsbewegung, die die imaginären Privilegien von vulnerablen Immigranten oder religionsethnologischen Minderheiten anficht. Ich denke, dass Machiavellis Werke durchaus einen Linkspopulismus antizipieren, weil er die Plebejer dazu anhält, die Eliten herauszufordern – durch tumulti wie sie wissen – und von ihnen einen zunehmenden Anteil der wirtschaftlichen und politischen Macht einzufordern.
Machiavelli stellt überzeugend dar, dass Volksherrschaften die immerwährenden Ziele von „zahllosen rechten Verschwörungstheorien“ sind, obgleich er diesen Begriff nicht prägte. Dies gilt für alle Zeiten an allen Orten und in jedem Augenblick. Aus dieser Perspektive stellt das, was unsere Freundin Camila Vergara eine plutokratisch erzeugte „systemische Korruption“ nennt, eine konstante Bedrohung für jedes bürgerliche Gemeinwesen dar, bei dem es sich noch nicht um eine unverhüllte Oligarchie handelt. Die einzige Möglichkeit, diese Korruption aufzuhalten oder rückgängig zu machen, besteht darin, dass sich einfache Leute mobilisieren und jedes ihnen zur Verfügung stehende Druckmittel einsetzen – beispielsweise den Militärdienst oder ihre Arbeitskraft –, um von den Eliten, die eher daran interessiert sind, ihre unverhältnismäßige Autorität auszubauen, anstatt Verzicht zu üben, Zugeständnisse einzufordern.
Natürlich sei gesagt, dass die von Machiavelli untersuchten antiken Republiken nie mit „Rechtspopulismus“ zu kämpfen hatten. Die sozio-ökonomischen Eliten solcher Republiken konnten sich auf Patriotismus berufen oder gegen die Tyrannei aussprechen, um vom demos oder plebe geforderte Reformen zu vereiteln. Sie konnten beispielsweise die Notwendigkeit eines Krieges gegen ausländische Feinde priorisieren oder die Gefahr heraufbeschwören, die von populistischen Führern ausgeht, deren Königsmacht zunimmt, während sie für die Notlage der Unterschicht eintreten. Der römische Senat hat beide Strategien gekonnt umgesetzt und dabei häufig die Plebejer von heimischen tumulti abgelenkt, um sie stattdessen in den Krieg außer Landes zu schicken. Oftmals kam er auch mit der Tötung von „aufstrebenden Tyrannen“ davon – von Popularen wie Manlius Capitolinus bis hin zu den Gracchen. Doch solche Oligarchen konnten nie größere Teile des gemeinen Volkes in einer anhaltenden Bewegung gegen volksnahe Reformen oder Reformer mobilisieren. Sie mussten schließlich auf gewaltsame Unterdrückung zurückgreifen, um dies zu tun. Beispielhaft hierfür ist die Tyrannei Sullas.
Andererseits machen zeitgenössische Rechtspopulisten im Kampf gegen sowohl Mitte-links-Parteien als auch volksnahen linken Bewegungen von einer mächtigen Waffe Gebrauch, nämlich dem Vorwurf der Untreue oder des nationalen Verrats. Da moderne Demokraten und Sozialisten geläufig von den universalistischen Prinzipen der Aufklärung geleitet werden, stehen sie andauernd im Verdacht, sie seien nicht wirklich an dem Wohlergehen des „Volkes“ innerhalb eines bestimmten Nationalstaats interessiert. Ihnen wird nur zu leicht vorgeworfen, dass sie sich letztlich um die „Menschheit“ (die Menschen weltweit) kümmern oder aber um subalterne heimische Minoritäten. Dies erklärt die Wirksamkeit, mit der Rechtspopulisten Mitte-links-Parteien und Linkspopulisten als verräterische „Globalisierungsbefürworter“ oder gegen die Mehrheit gerichtete Anhänger einer „Identitätspolitik“ verleumden.
Was ist Ihr Standpunkt zum Marxismus? Ich hörte Sie einmal öffentlich sagen, dass Machiavelli für Sie eine Art Stellvertreter von Marx gewesen sei. Dennoch unterscheidet sich Ihr Machiavelli eindeutig von demjenigen der marxistisch geprägten politischen Denker. Offensichtlich sind sie beide an der sozialen und ökonomischen Dimension von Politik interessiert. Marxistische Wissenschaftler untergraben allerdings noch immer die institutionellen Aspekte in Machiavellis Denken und im Allgemeinen die Auffassung von Institutionen als ein Instrument politischer Emanzipation. Und vielleicht ist dies nicht der einzige Unterschied.
Zugegebenermaßen gehe ich im neuen Vorwort zu Democrazia Machiavelliana sehr hart ins Gericht mit europäischen Post-Marxisten. Ich kann es nicht gut vertragen, wenn ich sehe in welchem Ausmaß Autoren wie Althusser, Lefort, Balibar und neuere italienische Autoren, die wiederum von den Vorgenannten beeinflusst sind, den Stellenwert von Institutionen in Machiavellis politischem Denken ignorieren, herunterspielen oder unterschätzen. Sie rekonstruieren Machiavellis Werke auf eine Weise, dass es scheint, es gelte für das Volk lediglich die Funktionsweise von Institutionen anzufechten, und zwar als die Machenschaften eines monolithisch wahrgenommenen „Staates“. Machiavellis Konzept eines governo popolare ist jedoch genau das, was es besagt: Die Teilhabe des Volkes an der Regierung durch die Arbeitsweise von Institutionen. Hierzu zählen das Volkstribunat, Versammlungen, in deren Rahmen die Menschen Gesetze vorschlagen, diskutieren, annehmen oder ablehnen können, und schließlich die öffentlichen Prozesse, in denen das Volk als höchster Richter fungiert, wenn Bürger des Staatsverbrechens bezichtigt werden. Die Post-Marxisten befürchten, dass sich die Menschen auf moralisch dubiose Weise die Finger schmutzig machen könnten, sobald sie an der „Herrschaft“ teilhaben oder dass sie durch Teilhabe an institutionellen Funktionsweisen kooptiert werden und damit in das Räderwerk „des Staates“ gelangen. Machiavelli besteht jedoch darauf, dass durch tumulti vom Volke geforderte Reformen in Form von „Gesetzen“ instanziiert werden müssen, deren gerichtliche Anerkennung das Volk und nicht etwa eine privilegierte Partei beaufsichtigt und sogar befehligt. Machiavelli wollte nicht einfach nur, dass das Volk durch öffentliche Demonstrationen von außen gegen die Macht der Oligarchie protestiert, die sich durch „den Staat“ manifestiert. Er wollte auch, dass die Menschen fortwährend die Macht der Oligarchie anfechten, und zwar im Rahmen der Funktionsweise des Staates, also von innen heraus. Nur wenn sie sich durch politische Arbeit sowohl ohne als auch innerhalb der Institutionen die Finger schmutzig machen, ist es den Menschen möglich, die Oligarchie wirksam zu bekämpfen und Selbstverwaltung auszuüben. Entsetzt von den Vorgängen im stalinistischen Russland und im kommunistischen China, betreiben post-marxistische Machiavelli-Interpreten eine beständige Überkompensation, indem sie Demokratie auf eine Ordnung ohne Herrschaft, also letztlich Anarchie reduzieren.
Wie stehen Sie im Allgemeinen zu Marx? Was sind Ihrer Meinung nach die wesentlichsten Gedanken, die er uns hinterlassen hat?
Natürlich verehre ich Marx’ Schriften ungemein. Als ich seine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie las, änderte dies mein Leben. Obwohl ich sie seither als emanzipatorisches Ideal stehen ließ, inspirierte mich Jahrzehnte lang, wie Marx die Kombination aus britischer Nationalökonomie, französischer Politik und deutscher Philosophie als ein Ideal artikulierte. Die Abwesenheit einer konstruktiven politischen Vision erwies sich jedoch als äußerst frustrierend. Wenn es um reaktionäre Politik ging, war Marx ein gekonnter Kritiker („Der Bürgerkrieg in Frankreich“ und „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“), aber sein Mangel an Konkretheit hinsichtlich einer sozialistischen Politik war enttäuschend. Ich wandte mich unmittelbar dem jungen, eher hegelianischen Habermas als einer Alternative zu, jedoch erwies sich sein Ansatz, die politische Lücke zu füllen, die Marx hinterließ, als zu liberal für meinen Geschmack. Daher mein Schritt in Richtung Machiavelli. Aber derzeit wird sehr wichtige Arbeit geleistet, wenn es darum geht, welche politischen Gestaltungsmöglichkeiten sich von Marx ableiten ließen. Zu nennen wären Bruno Leipolds Auseinandersetzung mit Marx’ Republikanismus, Steven Kleins Untersuchung der Marx’schen Entwicklungslinien für die Sozialdemokratie und die Arbeiten der bereits erwähnten Camila Vergara zu der auf Rosa Luxemburg zurückführbaren Tradition eines radikalen Institutionalismus.
Der andere Autor, über den sie ausgiebig publiziert haben, ist ein weiterer antiliberaler Denker, dieses Mal von der rechten Seite des politischen Spektrums: Carl Schmitt. Was können wir von ihm lernen?
Schmitt war natürlich ein Meister darin, den Universalismus der politischen Linken zu denunzieren, wenn es darum ging, die angeblich authentischere „demokratische“ Rechte der Weimarer Republik zu stärken. Ich betrachte Schmitts Laufbahn mittlerweile als emblematisch für die nahezu beständige Rolle, die Mitte-rechts-Parteien bei versuchten oder erfolgreich durchgeführten Usurpationen von liberalen Demokratien spielten. Schmitt war zunächst ein früher Befürworter der Weimarer Republik, aber wie Sie wissen hat es kein Jahrzehnt gedauert, bis er ihren Umsturz rechtfertigte und daran mitwirkte. Viele moderne Demokratien folgen diesem Entwicklungsverlauf: Demokratien werden mithilfe der äußerst enthusiastischen Unterstützung von Mitte-rechts-Parteien errichtet. Sobald diese Akteure an der Macht sind, tendieren sie dazu, sich immer weiter nach rechts zu bewegen und aus Gründen des außergesetzlichen Machterhalts verbünden sie sich schließlich mit Rechtsaußen-Parteien, anstatt in Koalitionen mit Mitte-links-Parteien Kompromisse einzugehen. Mitte-rechts-Politiker denken immer, sie könnten die äußerste Rechte in Schach halten, finden jedoch sehr bald heraus, dass sie einen Tiger beim Schwanz gepackt haben. So war es in der Weimarer Republik und so verhält es sich auch in der heutigen USA.
All dies bringt mich dazu anzunehmen, dass moderne Demokratien fast immer ausschließlich von der Rechten anstatt von der Linken gestürzt wurden. Mitte-rechts-Parteien bewegen sich immer auf verfassungsfeindliche Weise nach rechts, während Mitte-links-Parteien die konstitutionelle Demokratie entschieden unterstützen. Falls dem so ist, sind Hugo Chavez oder Rafael Correa (zu welchem Grad man sie auch immer als autoritäre Führer bezeichnen kann) Ausnahmen von der Regel, die von autoritären rechtsextremen Regimen repräsentiert wird, die ihrerseits durch naiv-zynische oder zynisch-naive Mitte-rechts-Parteien ermöglicht wurden: Mussolini, Hitler, Pinochet, Franco, Berlusconi, Orban, Kaczynski, Modi und Trump.
Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt von Mike Hiegemann.
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