Interview mit John P. McCormick, Teil 2

Das folgende Interview mit John P. McCormick wurde ursprünglich in „L’Espresso“ veröffentlicht und erscheint hier, in gekürzter Fassung und übersetzt von Mike Hiegemann, in zwei Teilen. Teil 1 erschien bereits, hier folgt Teil 2:

Gabriele Pedullà (L’Espresso):Welche Rolle spielt die französische Philosophie für Sie im Kontext der Politischen Theorie?

 John P. McCormick: Ich finde Alain Badious Texte zu den Themen Religion und Philosophie äußerst erhellend. Und in der französischen Machiavelli-Forschung stechen vor allem die Arbeiten von Jérémie Barthas hervor. Die Form „französischen“ Denkens, die für mich jedoch am entscheidendsten war, wird durch die „Pariser Gruppe“ vertreten, die sich seit den späten 1980er Jahren mit Politischer Theorie befasste. Zu ihr zählen Bernhard Manin, Jan Elster, Stephen Holmes, Pasquale Pasquino und Adam Przeworski. Sie haben abwechselnd in Paris und zunächst Chicago und dann in New York gearbeitet. Ich bewunderte sehr, wie vorsichtig sie die Geschichte des antiken und modernen Konstitutionalismus aufarbeiteten, um daran anknüpfend mögliche institutionelle Strategien auszuloten, mit deren Hilfe sich politische Macht sowohl erweitern als auch beschränken ließe. Ihre Arbeit ist und bleibt außerordentlich hilfreich, wenn man heute darüber nachdenkt, wie sich demokratische Maßstäbe voranbringen und oligarchische Macht aufheben ließen.

Wie ich bereits erwähnte, finde ich die Werke der „radikalen“ französischen Demokratietheoretiker wie beispielsweise Althusser, Lefort und Balibar schlicht zu antiinstitutionell und unpolitisch. Auch Jacques Rancière weicht der Frage der „Volksherrschaft“ aus, indem er sich auf die doppelte Gefahr einer bürokratischen Gleichschaltung des „Volkes“ fixiert und durch die Verdinglichung der Kategorie „Staatsbürger“ Inklusions- und Exklusionsfragen voreilig für erledigt erklärt. Rancière fürchtet, die Verwendung der Kategorie „Volk“ mache einerseits die so Benannten ihren Vertretern in der Regierung auf gefährliche Weise gleich und bedinge andererseits einen permanenten Ausschluss von Nicht-Staatsbürgern aus dem „Volk“. Aus Rancières Sicht muss das „Volk“ institutionell von der Regierung ausgeschlossen werden, damit irgendeine Gruppe von Eliten sich nicht fälschlicherweise ihren Namen aneignen kann. Darüber hinaus solle eine demokratische Politik sich in erster Linie mit der Bewältigung der willkürlichen Exklusion von „Anderen“ aus dem „Volk“ befassen. Um es deutlich zu sagen: dies sind schwerwiegende Probleme. Für Rancière ist dabei jedoch „Herrschaft“ kein Thema mehr und er vernachlässigt, ja verwirft sogar die Möglichkeiten, durch die diejenigen mit weniger sozio-ökonomischer und politischer Macht über diejenigen herrschen könnten, die mit weitaus mehr Mitteln gesegnet sind. Beispielhaft hierfür ist, wie Rancière die athenische Gepflogenheit zu konzipieren sucht, politische Verantwortungsträger mittels Losverfahren zu bestimmen: Er interpretiert diese Praxis als eine Exemplifizierung des „anarchischen“ Prinzips der „Nicht-Herrschaft“. Stattdessen handelte es sich bei dem athenischen Losverfahren um eine Institution, die die politische Herrschaft weiter auf die Bürgerschaft verteilte als dies durch Wahlen oder Beerbung möglich gewesen wäre. Das Losverfahren betont die „Herrschaft der Armen“, es inkarniert das demokratische Prinzip, dass alle Bürger „abwechselnd herrschen und beherrscht werden“.

 

Ich vermute, dass das moderne deutsche Denken besonders entscheidend für Sie war. Sie haben auch in Deutschland studiert, nicht wahr?

 

Dank Christian Joerges’ Förderung hatte ich 1995 das große Glück ein Jahr in Bremen für meine postdoktorale Forschungsarbeit zu verbringen – ein Jahr bevor ich am European University Institute (EUI) in Florenz studierte. Ich arbeitete zu dieser Zeit an einem Buch, in dem ich versuchte, Habermas’ Theorie zur EU-Demokratie nach seiner Kantischen Wende zu rehegelianisieren. Dankenswerterweise lud mich Axel Honneth ein, meine Arbeit in Berlin vorzustellen – bekanntermaßen engagierte er sich dafür, das Vermächtnis der Frankfurter Schule in Form der historisch und strukturell basierten Sozialanalyse zu bewahren. In Honneths Seminar traf ich seinen damaligen Assistenten, Rainer Forst, und anschließend begannen wir beiden eine lebenslange Debatte über die normativen und pragmatischen Aspekte der Demokratie. Ich empfand vor allem Forsts Konzept der „noumenalen Macht“ – sein Argument, Vernunftgebung sei zentraler für die Herrschaftsausübung als die Androhung von Gewalt – als eine massive Herausforderung für die „realistischen“ Kritiker der Kantischen Sittlichkeit; mit Sicherheit eine weitaus eindrucksvollere Herausforderung als Habermas’ „ideale Sprechsituation“. Machiavelli deutet hingegen zu Recht an, so habe ich jedenfalls gegen Forst argumentiert, dass sobald man sich von einem politischen Zwei-Akteur-Modell zu einem Multi-Akteur-Modell bewegt, die symbolische Kraft von Gewalt zu einem unverzichtbaren Element der Herrschaftsausübung wird, vor allem der demokratischen Herrschaft.

Machiavelli scheint sich jedenfalls in Deutschland einer Wiederbelebung zu erfreuen. Wissenschaftler, die sich dort mit Linkspopulismus auseinandersetzen, wie beispielsweise Dirk Jörke, Dagmar Comtesse und Martin Saar, greifen in ihren Forschungsarbeiten zunehmend auf den Florentiner Staatssekretär zurück. Darüber hinaus floriert in Deutschland derzeit die Geschichte des politischen Denkens, vor allem unter der Leitung von Martin van Gelderen in Göttingen. Beispielhaft hierfür sind auch Robert Nortons wichtiges Buch über Ernst Troeltsch sowie die bald erscheinenden intellektuellen Biografien über Hannah Arendt und Leo Strauss von Thomas Meyer.

 

Zeitgenössische politische Lähmungserscheinungen haben offensichtlich sehr viel mit der Krise der sozialistischen Bewegung zu tun. Nun, da die neoliberale Linke ihre Interessen genauso vorantreibt wie die Rechte, befinden sich Oligarchen in einer für sie äußerst günstigen Lage. Für die Reichen ist dies eine Win-win-Situation: Sie werden von einer ihnen wohlgesonnen Regierung profitieren, wie auch immer die Wahl ausgehen wird, da die einzigen Themen, die auf dem Spiel stehen, kulturelle Werte und Bürgerrechte sind. Wie können wir das ändern?

 

Genauso versuche ich die US-amerikanische Politik meiner Mutter zu erklären: Wenn die Republikaner gewinnen, werden die Reichen reicher, wenn die Demokraten gewinnen, bleiben die Reichen reich. Aufgrund des Zweiparteiensystems in den USA sind politische Zielsetzungen wie die wirtschaftliche Umverteilung und Regulierung immer problematisch gewesen (obwohl die Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit im Vergleich zu heute selbst unter Republikanern wie Eisenhower und Nixon einem sozialdemokratischen Shangri-La entsprachen). In Europa sind die Dinge nicht so einfach zu erklären. Ich vermute, dass die Existenz von glaubwürdigen kommunistischen Parteien im Westeuropa des Kalten Krieges Mitte-rechts-Parteien dazu veranlasste, mit Mitte-links-Parteien Kompromisse zu erarbeiten, die dann auf eine relative wirtschaftliche Gleichheit hinausliefen. Jetzt dürfen konservative Parteien völlig unverblümt Beschlussfassungen blockieren, wenn sie nicht an der Macht sind. Natürlich haben Sie Recht damit, dass auch sozialdemokratische Parteien eine Mitschuld tragen. Durch neoliberale Taktiken haben sie sich an der „Aushöhlung“ – um einen Ausdruck von Peter Maier zu nutzen – der sozialen Grundlagen für eine progressive Politik beteiligt.

 

Was denken Sie über die jüngsten Ereignisse rund um die Gilet jaunes in Frankreich?

 

Da ist die willkommene Ausnahme von der Regel! Es war auf jeden Fall erfrischend zu sehen, wie eine gegen die Austeritätspolitik protestierende progressive soziale Graswurzelbewegung in einer bedeutenden Demokratie entsteht! Und was für eine Erleichterung, dass diese Bewegung nicht die pathologische Form annahm, die geläufig mit Rechtspopulismus in Verbindung gebracht wird. (Ich hoffe, dass es sich bei den Vorwürfen des Antisemitismus lediglich um Verleumdungen handelt, die der Bewegung vonseiten ihrer konservativen Gegner entgegengeschleudert werden). Die Gilet jaunes sind die mutige und deutliche Opposition einer Austeritätspolitik, die Zentristen wie Macron verdient haben. Auf eine Geld- und Wirtschaftspolitik, die auf ungerechte Weise die Kosten zur Aufrechterhaltung einer gesunden modernen Gesellschaft von den Wohlhabenden zu den Durchschnittsbürgern verschiebt, erwiderten sie: „Es reicht!“

Ich habe genug davon, wie Zentristen wie Macron und sogar Merkel sich dafür verbeugen und Blumensträuße entgegennehmen, dass sie allein durch ihre Wahlsiege gegen die xenophobe Rechte aufklärerische und zivilisatorische Werte sowie menschlichen Anstand gerettet haben sollen, nur um anschließend die politischen Vorlieben der Finanzelite zu befriedigen, die ihre Wahlkämpfe direkt oder indirekt unterstützte, anstatt auf die Wähler der arbeitenden Klasse und der Mittelschicht zuzugehen, die eigentlich für sie gestimmt haben. Sie klopfen einander auf die Schulter, weil sie den rechtspopulistischen Drachen erschlagen haben und betreiben dann eine Politik, durch die er immer weiter genährt wird! Macron stellt mit seiner neoliberalen Politik sicher, dass die Wahl Le Pens eine verlockende Option für Frankreich bleibt, während Merkels Austeritätspolitik den südeuropäischen Rechtsaußen-Parteien eine bleibende Anhängerschaft garantiert. Die Gilets jaunes machen deutlich, dass es zwischen neoliberaler Austeritätspolitik und Rechtspopulismus auch einen dritten Weg gibt.

 

Ungarn, Polen und die Türkei sind bereits verloren. Welcher europäische Staat ist Ihrer Meinung nach am anfälligsten für Rechtpopulismus? Als Salvini in einer Koalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung noch Innenminister war, hätte man auf Italien getippt, doch nun scheint diese Befürchtung vorerst nicht einzutreten … Wer ist der nächste?

 

Ich denke nicht, dass Deutschland als nächstes an der Reihe ist. Die AfD sollte jedoch mit größter Sorgfalt beobachtet werden und es müssen alle inländischen, europäischen und internationalen Mühen unternommen werden, um diese Bewegung kleinzuhalten. Die Folgen für Deutschland, die EU-Mitgliedsstaaten, Europa als Ganzes und schließlich die Demokratie an sich wären verheerend, sollte ausgerechnet in Deutschland eine rechtsextreme Bewegung erstarken.

 

Was waren in den vergangenen Jahren die schwersten Fehler der US-Demokraten?

 

Nun, zunächst machten Al Gores Anwälte im Fall „Bush gegen Gore“ (2000) den schwerwiegenden Fehler, beim Obersten Gerichtshof eine Neuauszählung der Stimmen in nur bestimmten Landkreisen Floridas zu beantragen. Sie hätten stattdessen eine landesweite Neuauszählung in Florida fordern sollen, so dass Antonin Scala ihnen nicht hätte vorwerfen können, sie würden sich lediglich die Rosinen mit den Landkreisen herauspicken, die Gore gegenüber ohnehin wohlgesonnen waren. Ich denke es wäre für den Obersten Gerichtshof sehr schwierig gewesen, eine landesweite Neuauszählung abzulehnen und dann hätte Gore den Swing State Florida gewonnen und damit auch die Präsidentschaft. Können Sie sich vier (oder acht!) Jahre unter einer Gore-Regierung vorstellen? Kein Irakkrieg 2003, eine eher sachte verlaufende Finanzkrise 2008 und wegweisende politische Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels. Der zweite Fehler war Barack Obamas Versäumnis, Merrick Garland während der Sitzungspause des Senates und ohne dessen Zustimmung im Obersten Gerichtshof einzusetzen, nachdem Mitch McConnell eine formale Abstimmung über seine Ernennung im Senat ablehnte.

 

Und was waren die schwersten Fehler der italienischen Demokraten?

 

Was ist vergleichbar mit Matteo Renzis launischen und rücksichtslosen Bestrebungen, die Möglichkeit eines Mitte-links-Bündnisses in Italien zu sabotieren? Dieser Mann spielt fortlaufend mit dem Feuer, indem er seine persönlichen Ambitionen dem Gemeinwohl überordnet.

 

Machiavelli-Leser sahen in Barack Obama so etwas wie einen modernen Piero Soderini, den florentinischen gonfaloniere di giustizia, mit dem Machiavelli zehn Jahre lang zusammenarbeitete. Soderini erlag einer Niederlage, weil er entgegen Machiavellis Ratschlag stets den Konflikt mit der Elite scheute und Kompromisse zu schließen suchte als bereits klar war, dass seine Gegner nicht dazu bereit waren – bis er schließlich durch einen Coup entmachtet wurde. Die große Überraschung ist nun, dass Joe Biden, „Sleepy Joe“, nur wenige Wochen nach seinem Amtsantritt bereiter zu sein scheint, ein ambitioniertes Reformprogram auf den Weg zu bringen und dabei weniger zaghaft als Obama mit seinen Gegnern umgeht. Wie stehen Sie zu dieser Einschätzung?

 

Was Sie über Obama sagen ist gleichermaßen amüsant und deprimierend. Wenn ich mein Seminar über politische Führung unterrichte, widme ich immer eine Sitzung dem Thema „Barack Obama: Tyrann oder Bittsteller?“ und lasse dazu Textpassagen von Machiavelli über Soderini lesen. Ich glaube, dass Obama zweifelsohne viel zu vorsichtig im Umgang mit den Republikanern war (der bereits genannte Fall Merrick Garland ist nur ein Beispiel dafür). Ich stelle mir oft vor, wie Rahm Emmanuel, Obamas „Kampfhund-Stabschef“, Obama anfleht aggressiver zu sein, und zwar auf ähnliche Weise wie Machiavelli es gegenüber Soderini tat: „Habe keine Angst davor, ein Tyrann genannt zu werden, wenn du doch die Mehrheit des Volkes auf deiner Seite hast! Die ottimati nennen den Verfechter des popolo, denjenigen, der an der Macht sitzt, um dessen Anliegen durchzusetzen, immer einen Tyrannen! Zermalme die grandi, um deine Agenda voranzubringen! (Oder ignoriere sie zumindest.)“ Angesichts der Geschichte des Rassismus und der Unterdrückung meines Landes, sollten wir jedoch nicht unterschätzen, wie tief verwurzelt der zurückhaltende Charakter in einem Afroamerikaner ausgeprägt sein kann, der es bis zum Präsidenten der Vereinigten Staaten brachte …

 

Sleepy Joe ist kein dummer Joe! Er konnte sich acht Jahre lang die ganze Trägheit und Uneinsichtigkeit der Republikaner an Obamas Seite mitansehen. Biden hat bereits signalisiert, dass er den Republikanern die Hand reichen wird, um gestalten zu können, aber er wird nicht um Zusammenarbeit betteln oder ewig auf Erwiderungen warten. Und ja, seine politischen Angebote sind bis jetzt sehr weit links von dem, was man von so einem „moderaten Demokraten“ hätte erwarten können. Biden weiß, dass er dem linken Flügel der Partei (Bernie Sanders und anderen) einiges schuldig ist für seinen Wahlsieg und vielleicht denkt er, dass eine wesentliche wirtschaftliche Entlastung den Republikanern einigen Verlust ihres populistischen Rückhalts kosten wird.

 

Wie kann Biden das Problem eines Obersten Gerichtshofs in den Händen der äußersten Rechten lösen?

 

Unglücklicherweise fehlen Biden die nötigen Mehrheiten im Repräsentantenhaus und im Senat, um die Reformen umzusetzen, die für eine Korrektur des rechtslastigen Obersten Gerichtshofs sorgen könnten. Ein demokratischer Präsident mit einer breiten Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses wird irgendwann die Größe des Obersten Gerichtshofs erweitern und ein halbes Dutzend weiterer Richter berufen müssen. Angesichts der minderheitlichen Neigungen des Föderalismus, des Wahlausschusses und des Senats, ist die Agenda der konservativen Richter des Obersten Gerichtshofs völlig unvereinbar mit den politischen Vorlieben einer Mehrheit der US-amerikanischer Bürger. Falls es den Demokraten eines Tages möglich ist, die Filibusterei im Senat abzuschaffen, könnte wahlweise im Kongress ein Gesetz verabschiedet werden, das dem Obersten Gerichtshof die Autorität der höchsten gerichtlichen Instanz aberkennt. Dem Obersten Gerichtshof wird lediglich zugestanden, durch Schaffung gerichtlicher Präzedenzfälle über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Anweisungen zu entscheiden. Eine solche verfassungsrechtliche Vormachtstellung ist jedoch durch die Verfassung selbst nicht gegeben.

 

Nach den Niederlagen von Maurice Melanchon in Frankreich und Jeremy Corbyn in Großbritannien sind die ikonischsten, lautstärksten und charismatischen sozialistischen Politiker der westlichen Demokratien eigenartigerweise nur noch in den Vereinigten Staaten zu finden. Was halten Sie von diesem Phänomen? Wurde dies einzig durch die politischen Führer Europas verschuldet?

 

Da die Vereinigten Staaten eine solch schwache sozialistische Tradition haben, scheint Sozialismus für US-amerikanische Hochschulstudenten derzeit sehr sexy zu sein! Folglich flippen sie bei Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez völlig aus. Die Jugendlichen, die keine Hochschulausbildung genossen haben, sind natürlich weniger enthusiastisch, wenn es um Sozialismus in den USA geht. Dies verdeutlichen auch die Profile vieler Aufrührer, die sich am Sturm auf das Kapitol beteiligten. Junge Menschen in Europa nehmen Sozialismus vermutlich als eine gescheiterte Form der etablierten Politik wahr – als eine Marke, die mit falschen Hoffnungen und gebrochenen Versprechen assoziiert wird.

 

Vielen Menschen bot das Amtsenthebungsverfahren die Möglichkeit, einen aufsteigenden Stern der US-amerikanischen Linken kennenzulernen. Ich spiele offensichtlich auf Jamie Rafkin an. Er ist ein solch guter Redner und – was noch viel wichtiger ist – seine rednerischen Fertigkeiten ermutigen viele Menschen dazu, sich mit seiner politischen Vorgeschichte zu beschäftigen, die mir sehr beeindruckend erscheint (von seiner Rolle in Jesse Jacksons Rainbow Coalition bis hin zu seinem bürgerrechtlichen Engagement für Atheisten und Agnostiker in einem Land, in dem „In God We Trust“ immer noch jedem Dollar aufgestempelt ist).

 

Jamie Rafkins mitreißender Auftritt im zweiten Amtsenthebungsverfahren gegen Trump war Adam Schiffs großartigem Auftritt im ersten Amtsenthebungsverfahren ohne Zweifel ebenbürtig. Die Art und Weise, wie beide artikuliert haben, was durch die Einschränkung der Exekutivgewalt in einer verfassungsrechtlichen Demokratie auf dem Spiel steht, war beispielhaft für ihre staatsmännischen Fähigkeiten. Sie wandten sich damit auf so eloquente Weise an die US-Amerikaner wie zuletzt die Autoren der Federalist Papers, um auf die eigentliche Bedeutung von Konzepten wie Verrat, Korruption und Tyrannei hinzuweisen. Die Beiträge, die Stacey Plaskett, Val Demings und Ted Lieu in beiden Amtsenthebungsverfahren beisteuerten, waren ebenfalls sehr anregend.

 

Sie haben vorhin den Sturm auf das Kapitol erwähnt. Sehen Sie Parallelen zwischen diesen beunruhigenden Ereignissen und denjenigen, die zum Untergang der Weimarer Republik führten?

 

Eine Menge Leute haben den Sturm auf das Kapitol mit dem Reichstagsbrand verglichen, den die Nazis dazu instrumentalisierten, ihre Macht zu festigen. Ich würde diesen Vorfall eher mit den rechtsterroristischen Attentaten auf die Weimarer Minister Walter Rathenau und Matthias Erzberger aus den frühen 1920er Jahren vergleichen. Diese Attentate veranlassten einen aufgebrachten Parlamentsabgeordneten dazu, im Reichstag auszurufen: „Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!“ Der Sturm auf das Kapitol sollte genauso wie diese Attentate sämtliche Bürger, die sich einer verfassungsrechtlichen Demokratie verschrieben haben, dazu bewegen, resolut gegen Rechtsextremismus vorzugehen. Die Warnung verhallte ungehört in der Weimarer Republik und ich zweifle daran, dass sie in den Vereinigten Staaten die gebotene Aufmerksamkeit erfahren wird. Das feige Verhalten einer großen Mehrheit republikanischer Politiker während und in Folge des zweiten Amtsenthebungsverfahren gegen Trump ist in diesem Sinne kein gutes Zeichen. Seit dem Mord an Jo Cox im Vorfeld des Brexit-Referendums und Trumps schadenfroher Befürwortung von sexueller Nötigung im Jahr 2016 habe ich wenig Anlass zu glauben, dass sich der Anstand von Politikern durch schreckliche Ereignisse wecken ließe.

 

Was wünschen Sie sich für 2021? (Antworten, die mit der Corona-Pandemie zu tun haben, werden nicht anerkannt.)

 

Ich hoffe, dass Mario Draghi zum Inbegriff eines machiavellistischen Klassenverräters wird. Ich hoffe, dass er sich so verhält wie einer von Machiavellis ikonischen „bürgerlichen Fürsten“, also beispielsweise Clearchus oder Soderini, die aus den Reihen der grandi an die Macht kamen, um letztlich eine Allianz mit den Plebejern zu schließen. Hoffentlich wird Draghi seine elitären, neoliberalen Weggefährten hintergehen und mit Nachdruck eine linkspopulistische Politik in Italien verfolgen – und zwar so selbstbewusst wie Clearchus, nicht so zaghaft wie Soderini.

Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt von Mike Hiegemann.

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